Jedes Verhältniss der Gemeinschaft ist der Anlage oder dem Kerne seines Wesens nach ein höheres und all- gemeineres Selbst gleich der Art oder Idee, woraus die ein- zelnen Selbste (oder "Häupter", wie wir mit leichterem Ausdruck sagen mögen) sich und ihre Freiheit ableiten. Hingegen stellt jedes gesellschaftliche Verhältniss den Anfang und die Möglichkeit einer ihm vorgesetzten künst- lichen Person dar, welche über einen bestimmten Betrag von Kräften oder Mitteln verfüge; demnach auch Gesellschaft selber als ein wirkungsfähiges Ganzes gedacht. So ist, in allgemeiner Fassung, Gemeinschaft das Subject verbundener Wesenwillen, Gesellschaft das Subject verbundener Will- küren. Aber um als für sich bestehende Einheit und in möglichen Verhältnissen zu ihren Theilen als ebensolchen Einheiten gedacht werden zu können, so muss Gemeinschaft über eine Phase, in welcher sie von der Mehrheit in ihr verbundener und sie logisch constituirender Willen nicht unterschieden werden kann, hinausgewachsen sein und in einem besonderen dauernden Willen, sei es dem einmüthigen ihrer gesammten oder etlicher Theile sich ausprägen. Dies ist ein Process der Entwicklung, den als vollendeten zu er- kennen dem Beobachter obliegt. Hingegen die separate Existenz der künstlichen Person muss durch einen beson- deren Act contrahirender Willküren für einen besonderen vorgestellten Zweck gewollt und gesetzt werden; der ein- fachste solche Zweck ist aber die Garantie für andere schwebende Contracte, wodurch die Erfüllung derselben, bisher als Wille der Parteien vorausgesetzt, nunmehr zum Willen dieser einheitlichen künstlichen Person wird, welche folglich die Aufgabe erhält, diesen Zweck mit den Mitteln zu verfolgen, welche ihr dazu gewährt werden. Wenn daher als (objectives) Recht der Willensinhalt jeder Ver- bindung von Willen in Bezug auf die verbundenen Theile bestimmt wird, so hat Gesellschaft schlechthin ihr eigenes Recht, in welchem sie die Befugnisse und Verbindlichkeiten ihrer Constituenten behauptet; aber aus deren ursprünglicher vollkommener Freiheit, als dem Stoffe ihrer Willkür, muss es abgeleitet und zusammengesetzt sein. Dagegen hat Ge-
§ 4.
Jedes Verhältniss der Gemeinschaft ist der Anlage oder dem Kerne seines Wesens nach ein höheres und all- gemeineres Selbst gleich der Art oder Idee, woraus die ein- zelnen Selbste (oder »Häupter«, wie wir mit leichterem Ausdruck sagen mögen) sich und ihre Freiheit ableiten. Hingegen stellt jedes gesellschaftliche Verhältniss den Anfang und die Möglichkeit einer ihm vorgesetzten künst- lichen Person dar, welche über einen bestimmten Betrag von Kräften oder Mitteln verfüge; demnach auch Gesellschaft selber als ein wirkungsfähiges Ganzes gedacht. So ist, in allgemeiner Fassung, Gemeinschaft das Subject verbundener Wesenwillen, Gesellschaft das Subject verbundener Will- küren. Aber um als für sich bestehende Einheit und in möglichen Verhältnissen zu ihren Theilen als ebensolchen Einheiten gedacht werden zu können, so muss Gemeinschaft über eine Phase, in welcher sie von der Mehrheit in ihr verbundener und sie logisch constituirender Willen nicht unterschieden werden kann, hinausgewachsen sein und in einem besonderen dauernden Willen, sei es dem einmüthigen ihrer gesammten oder etlicher Theile sich ausprägen. Dies ist ein Process der Entwicklung, den als vollendeten zu er- kennen dem Beobachter obliegt. Hingegen die separate Existenz der künstlichen Person muss durch einen beson- deren Act contrahirender Willküren für einen besonderen vorgestellten Zweck gewollt und gesetzt werden; der ein- fachste solche Zweck ist aber die Garantie für andere schwebende Contracte, wodurch die Erfüllung derselben, bisher als Wille der Parteien vorausgesetzt, nunmehr zum Willen dieser einheitlichen künstlichen Person wird, welche folglich die Aufgabe erhält, diesen Zweck mit den Mitteln zu verfolgen, welche ihr dazu gewährt werden. Wenn daher als (objectives) Recht der Willensinhalt jeder Ver- bindung von Willen in Bezug auf die verbundenen Theile bestimmt wird, so hat Gesellschaft schlechthin ihr eigenes Recht, in welchem sie die Befugnisse und Verbindlichkeiten ihrer Constituenten behauptet; aber aus deren ursprünglicher vollkommener Freiheit, als dem Stoffe ihrer Willkür, muss es abgeleitet und zusammengesetzt sein. Dagegen hat Ge-
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§ 4.
Jedes Verhältniss der Gemeinschaft ist der Anlage
oder dem Kerne seines Wesens nach ein höheres und all-
gemeineres Selbst gleich der Art oder Idee, woraus die ein-
zelnen Selbste (oder »Häupter«, wie wir mit leichterem
Ausdruck sagen mögen) sich und ihre Freiheit ableiten.
Hingegen stellt jedes gesellschaftliche Verhältniss den
Anfang und die Möglichkeit einer ihm vorgesetzten künst-
lichen Person dar, welche über einen bestimmten Betrag
von Kräften oder Mitteln verfüge; demnach auch Gesellschaft
selber als ein wirkungsfähiges Ganzes gedacht. So ist, in
allgemeiner Fassung, Gemeinschaft das Subject verbundener
Wesenwillen, Gesellschaft das Subject verbundener Will-
küren. Aber um als für sich bestehende Einheit und in
möglichen Verhältnissen zu ihren Theilen als ebensolchen
Einheiten gedacht werden zu können, so muss Gemeinschaft
über eine Phase, in welcher sie von der Mehrheit in ihr
verbundener und sie logisch constituirender Willen nicht
unterschieden werden kann, hinausgewachsen sein und in
einem besonderen dauernden Willen, sei es dem einmüthigen
ihrer gesammten oder etlicher Theile sich ausprägen. Dies
ist ein Process der Entwicklung, den als vollendeten zu er-
kennen dem Beobachter obliegt. Hingegen die separate
Existenz der künstlichen Person muss durch einen beson-
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vorgestellten Zweck gewollt und gesetzt werden; der ein-
fachste solche Zweck ist aber die Garantie für andere
schwebende Contracte, wodurch die Erfüllung derselben,
bisher als Wille der Parteien vorausgesetzt, nunmehr zum
Willen dieser einheitlichen künstlichen Person wird, welche
folglich die Aufgabe erhält, diesen Zweck mit den Mitteln
zu verfolgen, welche ihr dazu gewährt werden. Wenn
daher als (objectives) Recht der Willensinhalt jeder Ver-
bindung von Willen in Bezug auf die verbundenen Theile
bestimmt wird, so hat Gesellschaft schlechthin ihr eigenes
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/242>, abgerufen am 21.11.2024.
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