ander unterstützt werden, um als ein dauerndes und zugleich gegenseitiger Bejahung sich zu gestalten. Hierzu kommen, auf eine verständliche Weise, die übrigen schon erwähnten Factoren der Befestigung; besonders das Verhältniss zu den erzeugten Kindern als gemeinsamem Besitze. C) Zwischen Geschwistern herrscht kein so ursprüngliches und in- stinctives Gefallen und keine so natürliche Erkenntniss von einander, als zwischen der Mutter und ihrem Kinde, oder zwischen verwandten Wesen ungleichen Geschlechtes. Zwar kann dieses letztere Verhältniss mit dem geschwisterlichen zusammenfallen, und es gibt vielen Grund, für wahr zu halten, dass dieses in einer frühen Epoche des Menschen- thums bei manchen Stämmen ein häufiger Fall gewesen ist; wobei jedoch erinnert werden muss, dass dort, und gerade so lange, als die Abstammung nur nach der Mutter gerechnet wird, Name und Empfindung des Geschwisterthums auf die gleichen Grade der Vetterschaft ausgedehnt sich findet, so allgemein, dass der beschränkte Sinn, wie in vielen anderen Fällen, erst einer späten Conception eigen ist. Jedoch durch eine gleichmässige Entwicklung in den bedeutendsten Völkergruppen, schliessen Ehe und Geschwisterthum, sodann (in der exogamischen Praxis) zwar nicht Ehe und Bluts- verwandtschaft, aber doch Ehe und Clanverwandtschaft, ein- ander vielmehr mit voller Bestimmtheit aus; und so darf die schwesterlich-brüderliche Liebe als die am meisten mensch- liche und doch in der Blutsverwandtschaft noch durchaus beruhende Beziehung von Menschen auf einander, hingestellt werden. Dieses thut sich -- in Vergleichung zu den beiden anderen Arten der Verhältnisse -- auch darin kund, dass hier, wo der Instinct am schwächsten, das Gedächtniss am stärksten zur Entstehung, Erhaltung, Befestigung des Bandes der Herzen mitzuwirken scheint. Denn wenn es gegeben ist, dass (wenigstens) die Kinder derselben Mutter, weil mit der Mutter, so auch mit einander zusammenleben und bleiben, so verbindet sich -- wenn von allen solche Tendenzen hemmenden Ursachen der Feindseligkeit abge- sehen wird -- nothwendiger Weise, in der Erinnerung des einen, mit allen angenehmen Eindrücken, Erlebnissen, die Gestalt und das Thun des anderen; und zwar um so eher
ander unterstützt werden, um als ein dauerndes und zugleich gegenseitiger Bejahung sich zu gestalten. Hierzu kommen, auf eine verständliche Weise, die übrigen schon erwähnten Factoren der Befestigung; besonders das Verhältniss zu den erzeugten Kindern als gemeinsamem Besitze. C) Zwischen Geschwistern herrscht kein so ursprüngliches und in- stinctives Gefallen und keine so natürliche Erkenntniss von einander, als zwischen der Mutter und ihrem Kinde, oder zwischen verwandten Wesen ungleichen Geschlechtes. Zwar kann dieses letztere Verhältniss mit dem geschwisterlichen zusammenfallen, und es gibt vielen Grund, für wahr zu halten, dass dieses in einer frühen Epoche des Menschen- thums bei manchen Stämmen ein häufiger Fall gewesen ist; wobei jedoch erinnert werden muss, dass dort, und gerade so lange, als die Abstammung nur nach der Mutter gerechnet wird, Name und Empfindung des Geschwisterthums auf die gleichen Grade der Vetterschaft ausgedehnt sich findet, so allgemein, dass der beschränkte Sinn, wie in vielen anderen Fällen, erst einer späten Conception eigen ist. Jedoch durch eine gleichmässige Entwicklung in den bedeutendsten Völkergruppen, schliessen Ehe und Geschwisterthum, sodann (in der exogamischen Praxis) zwar nicht Ehe und Bluts- verwandtschaft, aber doch Ehe und Clanverwandtschaft, ein- ander vielmehr mit voller Bestimmtheit aus; und so darf die schwesterlich-brüderliche Liebe als die am meisten mensch- liche und doch in der Blutsverwandtschaft noch durchaus beruhende Beziehung von Menschen auf einander, hingestellt werden. Dieses thut sich — in Vergleichung zu den beiden anderen Arten der Verhältnisse — auch darin kund, dass hier, wo der Instinct am schwächsten, das Gedächtniss am stärksten zur Entstehung, Erhaltung, Befestigung des Bandes der Herzen mitzuwirken scheint. Denn wenn es gegeben ist, dass (wenigstens) die Kinder derselben Mutter, weil mit der Mutter, so auch mit einander zusammenleben und bleiben, so verbindet sich — wenn von allen solche Tendenzen hemmenden Ursachen der Feindseligkeit abge- sehen wird — nothwendiger Weise, in der Erinnerung des einen, mit allen angenehmen Eindrücken, Erlebnissen, die Gestalt und das Thun des anderen; und zwar um so eher
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ander unterstützt werden, um als ein dauerndes und zugleich
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erzeugten Kindern als gemeinsamem Besitze. C) Zwischen
Geschwistern herrscht kein so ursprüngliches und in-
stinctives Gefallen und keine so natürliche Erkenntniss von
einander, als zwischen der Mutter und ihrem Kinde, oder
zwischen verwandten Wesen ungleichen Geschlechtes. Zwar
kann dieses letztere Verhältniss mit dem geschwisterlichen
zusammenfallen, und es gibt vielen Grund, für wahr
zu halten, dass dieses in einer frühen Epoche des Menschen-
thums bei manchen Stämmen ein häufiger Fall gewesen ist;
wobei jedoch erinnert werden muss, dass dort, und gerade
so lange, als die Abstammung nur nach der Mutter gerechnet
wird, Name und Empfindung des Geschwisterthums auf die
gleichen Grade der Vetterschaft ausgedehnt sich findet, so
allgemein, dass der beschränkte Sinn, wie in vielen anderen
Fällen, erst einer späten Conception eigen ist. Jedoch
durch eine gleichmässige Entwicklung in den bedeutendsten
Völkergruppen, schliessen Ehe und Geschwisterthum, sodann
(in der exogamischen Praxis) zwar nicht Ehe und Bluts-
verwandtschaft, aber doch Ehe und Clanverwandtschaft, ein-
ander vielmehr mit voller Bestimmtheit aus; und so darf die
schwesterlich-brüderliche Liebe als die am meisten mensch-
liche und doch in der Blutsverwandtschaft noch durchaus
beruhende Beziehung von Menschen auf einander, hingestellt
werden. Dieses thut sich — in Vergleichung zu den beiden
anderen Arten der Verhältnisse — auch darin kund, dass
hier, wo der Instinct am schwächsten, das Gedächtniss
am stärksten zur Entstehung, Erhaltung, Befestigung des
Bandes der Herzen mitzuwirken scheint. Denn wenn es
gegeben ist, dass (wenigstens) die Kinder derselben Mutter,
weil mit der Mutter, so auch mit einander zusammenleben
und bleiben, so verbindet sich — wenn von allen solche
Tendenzen hemmenden Ursachen der Feindseligkeit abge-
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/47>, abgerufen am 21.11.2024.
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