ist; kann also per accidens stillschweigend sein. Aber Ver- ständniss ist essentiell schweigend: weil sein Inhalt unaus- sprechlich, unendlich, unbegreiflich ist. Wie Sprache nicht verabredet werden kann, wenn auch durch Sprache zahl- reiche Zeichensysteme für Begriffe, so kann Eintracht nicht gemacht werden, wenn auch noch so viele Arten von Eini- gungen. Verständniss und Eintracht wachsen und blühen, wenn ihre Bedingungen günstig sind, aus gegebenen Keimen hervor. Wie Pflanze von Pflanze, so stammt ein Haus (als Familie) vom anderen ab, entspringt Ehe aus ihrer realen Idee. Immer geht ihnen, sie bedingend und bewirkend, nicht blos ihres Gleichen vorher, sondern auch ein darin enthaltenes Allgemeineres, und die Form ihrer Erscheinung. So ist aber auch in grösseren Gruppen diese Einheit des Willens, als der psychologische Ausdruck des Bandes der Blutsverwandtschaft, wenn auch dunkler, vorhanden, und wenn auch für die Individuen nur in organischer Ordnung sich mittheilend. Wie die Allgemeinheit gemeinsamer Sprache, als reale Möglichkeit des Verständnisses der Rede, mensch- liche Gemüther nähert und verbindet, so gibt es auch einen gemeinsamen Sinn, mehr aber seine höheren Evolutionen: gemeinsamen Brauch und gemeinsamen Glauben, welche die Glieder eines Volkes durchdringen, Einheit und Frieden seines Lebens bedeutend, obschon keineswegs sichernd; welche in ihm aber und von ihm aus, mit wachsender Intensität, die Zweige und Aeste eines Stammes erfüllen; am vollkommensten jedoch die verwandten Häuser in jener frühen und wichtigsten Bildung organisch-verbundenen Lebens, dem Clan oder Geschlechte, welches die Familie vor der Familie ist, wo es eine ihr gleiche Realität hat. Aus diesen Gruppen aber und über ihnen erheben sich, als ihre Modificationen, die durch den Grund und Boden be- stimmten Complexe, welche wir in genereller Abstufung unterscheiden, als A) das Land, B) den Gau oder die Mark, und -- die innigste Gestaltung von dieser Art -- C) das Dorf. Theils aus, theils neben dem Dorfe aber ent- wickelt sich, in ihrer Vollendung nicht sowohl durch gemein- same Natur-Objecte, als durch gemeinsamen Geist zusammen- gehalten, die Stadt; ihrem äusseren Dasein nach nichts als
ist; kann also per accidens stillschweigend sein. Aber Ver- ständniss ist essentiell schweigend: weil sein Inhalt unaus- sprechlich, unendlich, unbegreiflich ist. Wie Sprache nicht verabredet werden kann, wenn auch durch Sprache zahl- reiche Zeichensysteme für Begriffe, so kann Eintracht nicht gemacht werden, wenn auch noch so viele Arten von Eini- gungen. Verständniss und Eintracht wachsen und blühen, wenn ihre Bedingungen günstig sind, aus gegebenen Keimen hervor. Wie Pflanze von Pflanze, so stammt ein Haus (als Familie) vom anderen ab, entspringt Ehe aus ihrer realen Idee. Immer geht ihnen, sie bedingend und bewirkend, nicht blos ihres Gleichen vorher, sondern auch ein darin enthaltenes Allgemeineres, und die Form ihrer Erscheinung. So ist aber auch in grösseren Gruppen diese Einheit des Willens, als der psychologische Ausdruck des Bandes der Blutsverwandtschaft, wenn auch dunkler, vorhanden, und wenn auch für die Individuen nur in organischer Ordnung sich mittheilend. Wie die Allgemeinheit gemeinsamer Sprache, als reale Möglichkeit des Verständnisses der Rede, mensch- liche Gemüther nähert und verbindet, so gibt es auch einen gemeinsamen Sinn, mehr aber seine höheren Evolutionen: gemeinsamen Brauch und gemeinsamen Glauben, welche die Glieder eines Volkes durchdringen, Einheit und Frieden seines Lebens bedeutend, obschon keineswegs sichernd; welche in ihm aber und von ihm aus, mit wachsender Intensität, die Zweige und Aeste eines Stammes erfüllen; am vollkommensten jedoch die verwandten Häuser in jener frühen und wichtigsten Bildung organisch-verbundenen Lebens, dem Clan oder Geschlechte, welches die Familie vor der Familie ist, wo es eine ihr gleiche Realität hat. Aus diesen Gruppen aber und über ihnen erheben sich, als ihre Modificationen, die durch den Grund und Boden be- stimmten Complexe, welche wir in genereller Abstufung unterscheiden, als A) das Land, B) den Gau oder die Mark, und — die innigste Gestaltung von dieser Art — C) das Dorf. Theils aus, theils neben dem Dorfe aber ent- wickelt sich, in ihrer Vollendung nicht sowohl durch gemein- same Natur-Objecte, als durch gemeinsamen Geist zusammen- gehalten, die Stadt; ihrem äusseren Dasein nach nichts als
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0062"n="26"/>
ist; kann also <hirendition="#i">per accidens</hi> stillschweigend sein. Aber Ver-<lb/>
ständniss ist essentiell schweigend: weil sein Inhalt unaus-<lb/>
sprechlich, unendlich, unbegreiflich ist. Wie Sprache nicht<lb/>
verabredet werden kann, wenn auch <hirendition="#g">durch</hi> Sprache zahl-<lb/>
reiche Zeichensysteme für Begriffe, so kann Eintracht nicht<lb/>
gemacht werden, wenn auch noch so viele Arten von Eini-<lb/>
gungen. Verständniss und Eintracht wachsen und blühen,<lb/>
wenn ihre Bedingungen günstig sind, aus gegebenen Keimen<lb/>
hervor. Wie Pflanze von Pflanze, so stammt ein Haus (als<lb/>
Familie) vom anderen ab, entspringt Ehe aus ihrer realen<lb/>
Idee. Immer geht ihnen, sie bedingend und bewirkend,<lb/>
nicht blos ihres Gleichen vorher, sondern auch ein darin<lb/>
enthaltenes Allgemeineres, und die Form ihrer Erscheinung.<lb/>
So ist aber auch in grösseren Gruppen diese Einheit des<lb/>
Willens, als der psychologische Ausdruck des Bandes der<lb/>
Blutsverwandtschaft, wenn auch dunkler, vorhanden, und<lb/>
wenn auch für die Individuen nur in organischer Ordnung<lb/>
sich mittheilend. Wie die Allgemeinheit gemeinsamer Sprache,<lb/>
als reale Möglichkeit des Verständnisses der Rede, mensch-<lb/>
liche Gemüther nähert und verbindet, so gibt es auch einen<lb/>
gemeinsamen Sinn, mehr aber seine höheren Evolutionen:<lb/>
gemeinsamen Brauch und gemeinsamen Glauben, welche die<lb/>
Glieder eines <hirendition="#g">Volkes</hi> durchdringen, Einheit und Frieden<lb/>
seines Lebens bedeutend, obschon keineswegs sichernd;<lb/>
welche <hirendition="#g">in</hi> ihm aber und von ihm aus, mit wachsender<lb/>
Intensität, die Zweige und Aeste eines <hirendition="#g">Stammes</hi> erfüllen;<lb/>
am vollkommensten jedoch die verwandten Häuser in jener<lb/>
frühen und wichtigsten Bildung organisch-verbundenen<lb/>
Lebens, dem <hirendition="#g">Clan</hi> oder Geschlechte, welches die Familie<lb/><hirendition="#g">vor</hi> der Familie ist, wo es eine ihr gleiche Realität hat.<lb/>
Aus diesen Gruppen aber und über ihnen erheben sich, als<lb/>
ihre Modificationen, die durch den Grund und Boden be-<lb/>
stimmten Complexe, welche wir in genereller Abstufung<lb/>
unterscheiden, als A) das <hirendition="#g">Land</hi>, B) den <hirendition="#g">Gau</hi> oder die<lb/><hirendition="#g">Mark</hi>, und — die innigste Gestaltung von dieser Art —<lb/>
C) das <hirendition="#g">Dorf</hi>. Theils aus, theils neben dem Dorfe aber ent-<lb/>
wickelt sich, in ihrer Vollendung nicht sowohl durch gemein-<lb/>
same Natur-Objecte, als durch gemeinsamen Geist zusammen-<lb/>
gehalten, die <hirendition="#g">Stadt</hi>; ihrem äusseren Dasein nach nichts als<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[26/0062]
ist; kann also per accidens stillschweigend sein. Aber Ver-
ständniss ist essentiell schweigend: weil sein Inhalt unaus-
sprechlich, unendlich, unbegreiflich ist. Wie Sprache nicht
verabredet werden kann, wenn auch durch Sprache zahl-
reiche Zeichensysteme für Begriffe, so kann Eintracht nicht
gemacht werden, wenn auch noch so viele Arten von Eini-
gungen. Verständniss und Eintracht wachsen und blühen,
wenn ihre Bedingungen günstig sind, aus gegebenen Keimen
hervor. Wie Pflanze von Pflanze, so stammt ein Haus (als
Familie) vom anderen ab, entspringt Ehe aus ihrer realen
Idee. Immer geht ihnen, sie bedingend und bewirkend,
nicht blos ihres Gleichen vorher, sondern auch ein darin
enthaltenes Allgemeineres, und die Form ihrer Erscheinung.
So ist aber auch in grösseren Gruppen diese Einheit des
Willens, als der psychologische Ausdruck des Bandes der
Blutsverwandtschaft, wenn auch dunkler, vorhanden, und
wenn auch für die Individuen nur in organischer Ordnung
sich mittheilend. Wie die Allgemeinheit gemeinsamer Sprache,
als reale Möglichkeit des Verständnisses der Rede, mensch-
liche Gemüther nähert und verbindet, so gibt es auch einen
gemeinsamen Sinn, mehr aber seine höheren Evolutionen:
gemeinsamen Brauch und gemeinsamen Glauben, welche die
Glieder eines Volkes durchdringen, Einheit und Frieden
seines Lebens bedeutend, obschon keineswegs sichernd;
welche in ihm aber und von ihm aus, mit wachsender
Intensität, die Zweige und Aeste eines Stammes erfüllen;
am vollkommensten jedoch die verwandten Häuser in jener
frühen und wichtigsten Bildung organisch-verbundenen
Lebens, dem Clan oder Geschlechte, welches die Familie
vor der Familie ist, wo es eine ihr gleiche Realität hat.
Aus diesen Gruppen aber und über ihnen erheben sich, als
ihre Modificationen, die durch den Grund und Boden be-
stimmten Complexe, welche wir in genereller Abstufung
unterscheiden, als A) das Land, B) den Gau oder die
Mark, und — die innigste Gestaltung von dieser Art —
C) das Dorf. Theils aus, theils neben dem Dorfe aber ent-
wickelt sich, in ihrer Vollendung nicht sowohl durch gemein-
same Natur-Objecte, als durch gemeinsamen Geist zusammen-
gehalten, die Stadt; ihrem äusseren Dasein nach nichts als
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/62>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.