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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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in welchem Jeder für Alle dazusein, Alle Jeden als ihres
Gleichen zu schätzen scheinen, in Wahrheit Jeder an sich
selber denkt und im Gegensatze zu allen Uebrigen seine
Bedeutung und seine Vortheile durchzusetzen bemüht ist.
So dass für Alles, was Einer dem Anderen Angenehmes er-
weist, er wenigstens ein Aequivalent zurückzuempfangen
erwartet, ja fordert; mithin seine Dienste, Schmeicheleien,
Geschenke u. s. w. genau abwägt, ob sie etwa die ge-
wünschte Wirkung haben werden. Formlose Contracte
dieses Sinnes werden fortwährend abgeschlossen und fort-
während werden Viele durch die Wenigen, Glücklichen und
Mächtigen, im Wettrennen verdrängt. -- Da überhaupt alle
gesellschaftlichen Verhältnisse in Vergleichung möglicher
und angebotener Leistungen beruhen, so ist es deutlich,
warum hier die Beziehungen auf sichtbare, materielle
Gegenstände vorausgehen und blosse Thätigkeiten und
Worte nur uneigentlicher Weise die Basis derselben aus-
machen können. Im Gegensatze dazu ist Gemeinschaft, als
Verbindung des "Blutes", zunächst ein Verhältniss der
Leiber, daher in Thaten und Worten sich ausdrückend,
und secundärer Natur ist hier die gemeinsame Beziehung
auf Gegenstände, welche nicht sowohl ausgetauscht, als ge-
meinsam besessen und genossen werden. Auch ist Gesell-
schaft in jenem Sinne, den wir den moralischen nennen
können, ganz und gar mitbedingt durch die Zusammenhänge
mit dem Staate, welcher für die bisherige Betrachtung
nicht vorhanden ist, da die ökonomische Gesellschaft
als sein Prius betrachtet werden muss.

§ 26.

Wenn wir daher den Progress der Gesellschaft, wel-
cher als die höchste Steigerung eines sich entwickelnden
gemeinschaftlichen und Volkslebens erfolgt, in wesentlicher
Einschränkung auf dieses ökonomische Gebiet betrachten,
so stellt er sich dar als Uebergang von allgemeiner Haus-
wirthschaft zu allgemeiner Handelswirthschaft, und im eng-
sten Zusammenhange damit: von vorherrschendem Ackerbau
zu vorherrschender Industrie. Derselbe kann so begriffen
werden, als ob er planmässig geleitet würde, indem

in welchem Jeder für Alle dazusein, Alle Jeden als ihres
Gleichen zu schätzen scheinen, in Wahrheit Jeder an sich
selber denkt und im Gegensatze zu allen Uebrigen seine
Bedeutung und seine Vortheile durchzusetzen bemüht ist.
So dass für Alles, was Einer dem Anderen Angenehmes er-
weist, er wenigstens ein Aequivalent zurückzuempfangen
erwartet, ja fordert; mithin seine Dienste, Schmeicheleien,
Geschenke u. s. w. genau abwägt, ob sie etwa die ge-
wünschte Wirkung haben werden. Formlose Contracte
dieses Sinnes werden fortwährend abgeschlossen und fort-
während werden Viele durch die Wenigen, Glücklichen und
Mächtigen, im Wettrennen verdrängt. — Da überhaupt alle
gesellschaftlichen Verhältnisse in Vergleichung möglicher
und angebotener Leistungen beruhen, so ist es deutlich,
warum hier die Beziehungen auf sichtbare, materielle
Gegenstände vorausgehen und blosse Thätigkeiten und
Worte nur uneigentlicher Weise die Basis derselben aus-
machen können. Im Gegensatze dazu ist Gemeinschaft, als
Verbindung des »Blutes«, zunächst ein Verhältniss der
Leiber, daher in Thaten und Worten sich ausdrückend,
und secundärer Natur ist hier die gemeinsame Beziehung
auf Gegenstände, welche nicht sowohl ausgetauscht, als ge-
meinsam besessen und genossen werden. Auch ist Gesell-
schaft in jenem Sinne, den wir den moralischen nennen
können, ganz und gar mitbedingt durch die Zusammenhänge
mit dem Staate, welcher für die bisherige Betrachtung
nicht vorhanden ist, da die ökonomische Gesellschaft
als sein Prius betrachtet werden muss.

§ 26.

Wenn wir daher den Progress der Gesellschaft, wel-
cher als die höchste Steigerung eines sich entwickelnden
gemeinschaftlichen und Volkslebens erfolgt, in wesentlicher
Einschränkung auf dieses ökonomische Gebiet betrachten,
so stellt er sich dar als Uebergang von allgemeiner Haus-
wirthschaft zu allgemeiner Handelswirthschaft, und im eng-
sten Zusammenhange damit: von vorherrschendem Ackerbau
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[63/0099] in welchem Jeder für Alle dazusein, Alle Jeden als ihres Gleichen zu schätzen scheinen, in Wahrheit Jeder an sich selber denkt und im Gegensatze zu allen Uebrigen seine Bedeutung und seine Vortheile durchzusetzen bemüht ist. So dass für Alles, was Einer dem Anderen Angenehmes er- weist, er wenigstens ein Aequivalent zurückzuempfangen erwartet, ja fordert; mithin seine Dienste, Schmeicheleien, Geschenke u. s. w. genau abwägt, ob sie etwa die ge- wünschte Wirkung haben werden. Formlose Contracte dieses Sinnes werden fortwährend abgeschlossen und fort- während werden Viele durch die Wenigen, Glücklichen und Mächtigen, im Wettrennen verdrängt. — Da überhaupt alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Vergleichung möglicher und angebotener Leistungen beruhen, so ist es deutlich, warum hier die Beziehungen auf sichtbare, materielle Gegenstände vorausgehen und blosse Thätigkeiten und Worte nur uneigentlicher Weise die Basis derselben aus- machen können. Im Gegensatze dazu ist Gemeinschaft, als Verbindung des »Blutes«, zunächst ein Verhältniss der Leiber, daher in Thaten und Worten sich ausdrückend, und secundärer Natur ist hier die gemeinsame Beziehung auf Gegenstände, welche nicht sowohl ausgetauscht, als ge- meinsam besessen und genossen werden. Auch ist Gesell- schaft in jenem Sinne, den wir den moralischen nennen können, ganz und gar mitbedingt durch die Zusammenhänge mit dem Staate, welcher für die bisherige Betrachtung nicht vorhanden ist, da die ökonomische Gesellschaft als sein Prius betrachtet werden muss. § 26. Wenn wir daher den Progress der Gesellschaft, wel- cher als die höchste Steigerung eines sich entwickelnden gemeinschaftlichen und Volkslebens erfolgt, in wesentlicher Einschränkung auf dieses ökonomische Gebiet betrachten, so stellt er sich dar als Uebergang von allgemeiner Haus- wirthschaft zu allgemeiner Handelswirthschaft, und im eng- sten Zusammenhange damit: von vorherrschendem Ackerbau zu vorherrschender Industrie. Derselbe kann so begriffen werden, als ob er planmässig geleitet würde, indem

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/99>, abgerufen am 21.11.2024.