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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Erſte Erfolge der Franzoſen.

Und noch waren die Ueberraſchungen dieſes wilden Jahres 92 nicht
zu Ende; es ſchien, als wollte das unerforſchliche Schickſal die Thorheit
aller menſchlichen Vorausſicht erweiſen. Ein franzöſiſches Freicorps unter
unfähigem Führer drang in einem tollen Abenteurerzuge an der Flanke
des preußiſchen Heeres vorbei bis gegen Mainz; die erſte Feſtung Deutſch-
lands öffnete ohne Widerſtand ihre Thore. Die Herrlichkeit der rheiniſchen
Kleinſtaaterei brach wie ein Kartenhaus zuſammen; Fürſten und Biſchöfe
ſtoben in wilder Flucht auseinander. Pfalzbaiern erklärte ſich neutral,
nach der alten landesverrätheriſchen Gewohnheit des Hauſes Wittelsbach;
das heilige Reich ſpürte den Anfang des Endes. Das willenloſe Volk
der geiſtlichen Lande ließ ſich von einer Handvoll lärmender Feuerköpfe
das Poſſenſpiel einer rheiniſchen Republik vorführen, ſprach in ehrfürchtiger
Scheu alle Kraftworte der Pariſer Völkerbeglücker nach, obgleich „das
Phlegma, das uns die Natur auferlegt hat, uns nur erlaubt die Fran-
zoſen zu bewundern“; an dem Anblick dieſes Zerrbildes der Freiheit iſt
dem edelſten der rheiniſchen Enthuſiaſten, Georg Forſter, das Herz ge-
brochen. Währenddem fielen auch Savoyen und Belgien, ſchlecht ver-
theidigt, den ſchlechten Truppen der Republik in die Hände. Wunderbare,
ſtrahlende Erfolge, die ſelbſt ein nüchternes Volk berauſchen konnten! Ein
maßloſes Selbſtgefühl ſchwellte den Führern der neuen Republik die Seele;
ſie boten allen Völkern, die ſich für die Freiheit erheben wollten, den Bei-
ſtand Frankreichs an. Der Kampf der revolutionären Propaganda ward
feierlich verkündigt: Krieg den Paläſten, Friede den Hütten! In dieſer
fanatiſchen Siegeszuverſicht lag eine unermeßliche ſittliche Kraft. Auch
die militäriſche Macht der Republik war im Erſtarken, obgleich noch Alles
in ihrem Heerweſen wüſt und wirr durcheinander gährte. Den unge-
heuren Maſſen, welche der Convent ins Feld führte, konnte die methodiſche
Kriegführung der fridericianiſchen Generale wohl auf dem Schlachtfelde
den Sieg entreißen, doch eine ſolche Volkserhebung völlig niederzuwerfen
war für die kleinen Heere der alten Zeit unmöglich. Unter den Frei-
willigen von 1792 fand ſich eine Fülle junger Talente, ein großer Theil
der Marſchälle und Generale des Kaiſerreichs; die neue Gleichheit bot
allen aufſtrebenden Köpfen freie Bahn, der Schrecken der Guillotine ſpornte
Jeden das Höchſte zu wagen.

Alſo kündigte ſich hier eine neue Kriegsweiſe an und eine neue Staats-
kunſt, welche die Ländergier der alten Cabinetspolitik mit einer unerhörten
Mißachtung aller überlieferten Formen des Völkerrechts verband. Sollte
das Reich dem Angriff dieſer unberechenbaren jugendlichen Macht wider-
ſtehen, ſo mußten vor Allem die Rheinlande eine neue kräftigere politiſche
Ordnung erhalten und zum Widerſtande befähigt werden. Durch die
Schuld der kleinen Höfe war das feſte Mainz in die Hände Cuſtines
gefallen, und auch nach der Niederlage wußten ſie dem bedrängten Vater-
lande nichts zu bieten als jammernde Klagen und Rechtsverwahrungen

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 9

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/145>, abgerufen am 20.02.2025.