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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
und einige leidenschaftliche Flugschriften, die den getreuen Unterthan gegen
"das Bürgerchen Custine" aufregen sollten. Durfte man diese verlebten
politischen Gewalten, die vor den ersten Schlägen des Feindes zusammen-
gebrochen waren, wieder aufrichten? Der Gedanke der Secularisation
drängte sich nochmals unabweisbar auf; rechtzeitig und durch die deutschen
Mächte allein ausgeführt, bot er das letzte Mittel den Bestand des Reichs-
gebietes zu retten. In Berlin wie in Paris wurde die Beseitigung der
geistlichen Staaten damals schon ernstlich erwogen. Indeß auf Oesterreichs
Widerspruch ließen die preußischen Staatsmänner den Plan fallen, und
wieder begann das traurige geistlose Feilschen um "ein billiges Super-
plus". Man beschloß endlich, nachdem die Preußen bereits Frankfurt und
das rechte Rheinufer von den Franzosen gesäubert hatten, im nächsten
Jahre Belgien und Mainz zurückzuerobern; dafür sollte der Kaiser an
bairischen, Preußen an polnischen Landstrichen sich schadlos halten. Beide
Mächte führten den leidigen Krieg nur noch weiter um sich eine Gebiets-
abrundung zu sichern. Der Plan einer royalistischen Gegenbewegung, der
den ehrlichen Sinn des Königs von Preußen noch immer beschäftigte,
verlor jeden Boden, seit die Republik begründet war und bald nachher
der Kopf König Ludwigs fiel.

Währenddem befestigten sich die Russen in ihrer Machtstellung an
der Weichsel. Katharina war durch den Frieden von Jassy des Türken-
krieges entledigt, und da sie nun mit gesammelter Kraft sich auf die
polnische Beute stürzte, fand sie abermals einen Bundesgenossen an der
Parteiwuth des sarmatischen Adels. Mit Hilfe der Tarnowicer Con-
foederation warf sie die Neuerungen von 1791 über den Haufen und stellte
die alte Landesverfassung wieder her, das will sagen: ihre eigene Herr-
schaft über die Krone Polen. Seit dreißig Jahren arbeitete sie unab-
lässig an dem Plane, das Czarenreich durch die Eroberung Polens in
unmittelbaren Verkehr mit der Cultur des Westens zu bringen; jetzt schien
sie am Ziele ihrer Wünsche, sie gebot über die Weichsellande und konnte
nach Belieben entscheiden, wann und in welchen Formen die völlige Ein-
verleibung des eroberten Gebietes erfolgen sollte. Wer durfte ihr wider-
stehen? Die Macht Rußlands war durch die Zwietracht der deutschen
Nachbarn, durch den Zerfall der westeuropäischen Staatengesellschaft gewaltig
angewachsen und wurde überdies von allen Zeitgenossen überschätzt; Nie-
mand bemerkte, daß das menschenarme Land durch die Kriege seiner ruhe-
losen Czarin eine Million Menschen verloren hatte und zu einem An-
griffskriege nur mäßige Mittel besaß. Eine Parteinahme der deutschen
Höfe für die polnischen Patrioten war durch Katharinas diplomatische
Kunst von Haus aus verhindert. Da der Petersburger Hof die jaco-
binischen Königsmörder mit Worten leidenschaftlicher Entrüstung bekämpfte,
so warb die Warschauer Patriotenpartei um die Hilfe der Franzosen; wer
Frankreichs Feind war konnte nicht der Bundesgenosse Polens sein.

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
und einige leidenſchaftliche Flugſchriften, die den getreuen Unterthan gegen
„das Bürgerchen Cuſtine“ aufregen ſollten. Durfte man dieſe verlebten
politiſchen Gewalten, die vor den erſten Schlägen des Feindes zuſammen-
gebrochen waren, wieder aufrichten? Der Gedanke der Seculariſation
drängte ſich nochmals unabweisbar auf; rechtzeitig und durch die deutſchen
Mächte allein ausgeführt, bot er das letzte Mittel den Beſtand des Reichs-
gebietes zu retten. In Berlin wie in Paris wurde die Beſeitigung der
geiſtlichen Staaten damals ſchon ernſtlich erwogen. Indeß auf Oeſterreichs
Widerſpruch ließen die preußiſchen Staatsmänner den Plan fallen, und
wieder begann das traurige geiſtloſe Feilſchen um „ein billiges Super-
plus“. Man beſchloß endlich, nachdem die Preußen bereits Frankfurt und
das rechte Rheinufer von den Franzoſen geſäubert hatten, im nächſten
Jahre Belgien und Mainz zurückzuerobern; dafür ſollte der Kaiſer an
bairiſchen, Preußen an polniſchen Landſtrichen ſich ſchadlos halten. Beide
Mächte führten den leidigen Krieg nur noch weiter um ſich eine Gebiets-
abrundung zu ſichern. Der Plan einer royaliſtiſchen Gegenbewegung, der
den ehrlichen Sinn des Königs von Preußen noch immer beſchäftigte,
verlor jeden Boden, ſeit die Republik begründet war und bald nachher
der Kopf König Ludwigs fiel.

Währenddem befeſtigten ſich die Ruſſen in ihrer Machtſtellung an
der Weichſel. Katharina war durch den Frieden von Jaſſy des Türken-
krieges entledigt, und da ſie nun mit geſammelter Kraft ſich auf die
polniſche Beute ſtürzte, fand ſie abermals einen Bundesgenoſſen an der
Parteiwuth des ſarmatiſchen Adels. Mit Hilfe der Tarnowicer Con-
foederation warf ſie die Neuerungen von 1791 über den Haufen und ſtellte
die alte Landesverfaſſung wieder her, das will ſagen: ihre eigene Herr-
ſchaft über die Krone Polen. Seit dreißig Jahren arbeitete ſie unab-
läſſig an dem Plane, das Czarenreich durch die Eroberung Polens in
unmittelbaren Verkehr mit der Cultur des Weſtens zu bringen; jetzt ſchien
ſie am Ziele ihrer Wünſche, ſie gebot über die Weichſellande und konnte
nach Belieben entſcheiden, wann und in welchen Formen die völlige Ein-
verleibung des eroberten Gebietes erfolgen ſollte. Wer durfte ihr wider-
ſtehen? Die Macht Rußlands war durch die Zwietracht der deutſchen
Nachbarn, durch den Zerfall der weſteuropäiſchen Staatengeſellſchaft gewaltig
angewachſen und wurde überdies von allen Zeitgenoſſen überſchätzt; Nie-
mand bemerkte, daß das menſchenarme Land durch die Kriege ſeiner ruhe-
loſen Czarin eine Million Menſchen verloren hatte und zu einem An-
griffskriege nur mäßige Mittel beſaß. Eine Parteinahme der deutſchen
Höfe für die polniſchen Patrioten war durch Katharinas diplomatiſche
Kunſt von Haus aus verhindert. Da der Petersburger Hof die jaco-
biniſchen Königsmörder mit Worten leidenſchaftlicher Entrüſtung bekämpfte,
ſo warb die Warſchauer Patriotenpartei um die Hilfe der Franzoſen; wer
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[130/0146] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. und einige leidenſchaftliche Flugſchriften, die den getreuen Unterthan gegen „das Bürgerchen Cuſtine“ aufregen ſollten. Durfte man dieſe verlebten politiſchen Gewalten, die vor den erſten Schlägen des Feindes zuſammen- gebrochen waren, wieder aufrichten? Der Gedanke der Seculariſation drängte ſich nochmals unabweisbar auf; rechtzeitig und durch die deutſchen Mächte allein ausgeführt, bot er das letzte Mittel den Beſtand des Reichs- gebietes zu retten. In Berlin wie in Paris wurde die Beſeitigung der geiſtlichen Staaten damals ſchon ernſtlich erwogen. Indeß auf Oeſterreichs Widerſpruch ließen die preußiſchen Staatsmänner den Plan fallen, und wieder begann das traurige geiſtloſe Feilſchen um „ein billiges Super- plus“. Man beſchloß endlich, nachdem die Preußen bereits Frankfurt und das rechte Rheinufer von den Franzoſen geſäubert hatten, im nächſten Jahre Belgien und Mainz zurückzuerobern; dafür ſollte der Kaiſer an bairiſchen, Preußen an polniſchen Landſtrichen ſich ſchadlos halten. Beide Mächte führten den leidigen Krieg nur noch weiter um ſich eine Gebiets- abrundung zu ſichern. Der Plan einer royaliſtiſchen Gegenbewegung, der den ehrlichen Sinn des Königs von Preußen noch immer beſchäftigte, verlor jeden Boden, ſeit die Republik begründet war und bald nachher der Kopf König Ludwigs fiel. Währenddem befeſtigten ſich die Ruſſen in ihrer Machtſtellung an der Weichſel. Katharina war durch den Frieden von Jaſſy des Türken- krieges entledigt, und da ſie nun mit geſammelter Kraft ſich auf die polniſche Beute ſtürzte, fand ſie abermals einen Bundesgenoſſen an der Parteiwuth des ſarmatiſchen Adels. Mit Hilfe der Tarnowicer Con- foederation warf ſie die Neuerungen von 1791 über den Haufen und ſtellte die alte Landesverfaſſung wieder her, das will ſagen: ihre eigene Herr- ſchaft über die Krone Polen. Seit dreißig Jahren arbeitete ſie unab- läſſig an dem Plane, das Czarenreich durch die Eroberung Polens in unmittelbaren Verkehr mit der Cultur des Weſtens zu bringen; jetzt ſchien ſie am Ziele ihrer Wünſche, ſie gebot über die Weichſellande und konnte nach Belieben entſcheiden, wann und in welchen Formen die völlige Ein- verleibung des eroberten Gebietes erfolgen ſollte. Wer durfte ihr wider- ſtehen? Die Macht Rußlands war durch die Zwietracht der deutſchen Nachbarn, durch den Zerfall der weſteuropäiſchen Staatengeſellſchaft gewaltig angewachſen und wurde überdies von allen Zeitgenoſſen überſchätzt; Nie- mand bemerkte, daß das menſchenarme Land durch die Kriege ſeiner ruhe- loſen Czarin eine Million Menſchen verloren hatte und zu einem An- griffskriege nur mäßige Mittel beſaß. Eine Parteinahme der deutſchen Höfe für die polniſchen Patrioten war durch Katharinas diplomatiſche Kunſt von Haus aus verhindert. Da der Petersburger Hof die jaco- biniſchen Königsmörder mit Worten leidenſchaftlicher Entrüſtung bekämpfte, ſo warb die Warſchauer Patriotenpartei um die Hilfe der Franzoſen; wer Frankreichs Feind war konnte nicht der Bundesgenoſſe Polens ſein.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/146>, abgerufen am 09.11.2024.