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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Abtretung des linken Rheinufers.
Behagens recht aufkommen. Aber allgemein war die Meinung, daß man für
immer zu Frankreich gehöre. Die Rheinländer hatten mit ihrer Geschichte
gebrochen und von ihren alten Ueberlieferungen in die neue Zeit nichts
mit hinübergenommen als den katholischen Glauben; daher das Gefühl
innerer Verwandtschaft, das sie noch auf lange hinaus mit der neufran-
zösischen Bildung verband. Die alte Ordnung war spurlos vernichtet,
jede Möglichkeit einer Wiederherstellung verloren; bald schwand selbst die
Erinnerung an die Zeiten der Kleinstaaterei. Die Geschichte, die in den
Herzen des aufwachsenden rheinischen Geschlechtes wirklich lebte, begann
erst mit dem Einzuge der Franzosen. Nur vereinzelte tiefere Naturen,
wie Görres und die Gebrüder Boisseree, erkannten nach und nach den
Fluch aller Fremdherrschaft, die Verdumpfung und Verwüstung des geistigen
Lebens; sie wendeten ihre sehnsüchtigen Blicke den Jahrhunderten des
Mittelalters zu, da das Rheinland noch ein lebendiges Glied des deutschen
Reichs gewesen, fanden in Schmerz und Reue ihr verlorenes Vaterland
wieder. Die große Mehrzahl nahm das Geschehene hin wie eine unab-
änderliche Nothwendigkeit, zumal da die Zustände im Reiche so wenig
Grund zur Sehnsucht boten. Auch drüben auf dem rechten Ufer glaubte
Jedermann, die neue Westgrenze Deutschlands sei für alle Zukunft fest-
gestellt.

Den Reichsgewalten lag nun die Aufgabe ob, das große Entschädi-
gungswerk durchzuführen, das sich aus der Verkleinerung des Reichs er-
gab. Der siebente Artikel des Luneviller Friedens verpflichtete das Reich,
die Erbfürsten des linken Rheinufers im Innern Deutschlands (dans le
sein de l'Empire
) zu entschädigen; die Rastatter Verabredungen sollten
dabei zur Richtschnur dienen. Also wurde die Verweltlichung des heiligen
Reichs, die Vernichtung der geistlichen Staaten dem Reichstage auferlegt
durch das Schwert des fremden Siegers. Was in den Zeiten der schle-
sischen Kriege die Rettung und Verjüngung des deutschen Staates gewesen
wäre, das war jetzt Deutschlands Theilung. Während der verwickelten
Unterhandlungen, die nunmehr zwei Jahre lang zwischen Paris und
Regensburg, Berlin, Petersburg und Wien hin und her spielten, trat
ganz von selber wieder jene Gruppirung der deutschen Parteien hervor,
die sich schon auf dem Rastatter Congresse angekündigt hatte. Der Wiener
Hof blieb noch lange in dem wunderlichen Wahne, Bonaparte werde sich
um die Neugestaltung Deutschlands nicht kümmern, und strebte möglichst
viele von den theokratischen Gewalten des alten Reichs, vor Allen die
geistlichen Kurfürsten zu retten: "nicht das Maß ihres Einkommens, son-
dern ihr Dasein ist für die deutsche Verfassung werthvoll" -- hieß es in
einer österreichischen Staatsschrift. Preußen und Baiern dagegen, die
mächtigsten der weltlichen Stände, verfochten das gemeinsame Interesse der
Erbfürsten, die allgemeine Secularisation, und galten daher bei aller Welt
als die Bundesgenossen Frankreichs.

Abtretung des linken Rheinufers.
Behagens recht aufkommen. Aber allgemein war die Meinung, daß man für
immer zu Frankreich gehöre. Die Rheinländer hatten mit ihrer Geſchichte
gebrochen und von ihren alten Ueberlieferungen in die neue Zeit nichts
mit hinübergenommen als den katholiſchen Glauben; daher das Gefühl
innerer Verwandtſchaft, das ſie noch auf lange hinaus mit der neufran-
zöſiſchen Bildung verband. Die alte Ordnung war ſpurlos vernichtet,
jede Möglichkeit einer Wiederherſtellung verloren; bald ſchwand ſelbſt die
Erinnerung an die Zeiten der Kleinſtaaterei. Die Geſchichte, die in den
Herzen des aufwachſenden rheiniſchen Geſchlechtes wirklich lebte, begann
erſt mit dem Einzuge der Franzoſen. Nur vereinzelte tiefere Naturen,
wie Görres und die Gebrüder Boiſſeree, erkannten nach und nach den
Fluch aller Fremdherrſchaft, die Verdumpfung und Verwüſtung des geiſtigen
Lebens; ſie wendeten ihre ſehnſüchtigen Blicke den Jahrhunderten des
Mittelalters zu, da das Rheinland noch ein lebendiges Glied des deutſchen
Reichs geweſen, fanden in Schmerz und Reue ihr verlorenes Vaterland
wieder. Die große Mehrzahl nahm das Geſchehene hin wie eine unab-
änderliche Nothwendigkeit, zumal da die Zuſtände im Reiche ſo wenig
Grund zur Sehnſucht boten. Auch drüben auf dem rechten Ufer glaubte
Jedermann, die neue Weſtgrenze Deutſchlands ſei für alle Zukunft feſt-
geſtellt.

Den Reichsgewalten lag nun die Aufgabe ob, das große Entſchädi-
gungswerk durchzuführen, das ſich aus der Verkleinerung des Reichs er-
gab. Der ſiebente Artikel des Luneviller Friedens verpflichtete das Reich,
die Erbfürſten des linken Rheinufers im Innern Deutſchlands (dans le
sein de l’Empire
) zu entſchädigen; die Raſtatter Verabredungen ſollten
dabei zur Richtſchnur dienen. Alſo wurde die Verweltlichung des heiligen
Reichs, die Vernichtung der geiſtlichen Staaten dem Reichstage auferlegt
durch das Schwert des fremden Siegers. Was in den Zeiten der ſchle-
ſiſchen Kriege die Rettung und Verjüngung des deutſchen Staates geweſen
wäre, das war jetzt Deutſchlands Theilung. Während der verwickelten
Unterhandlungen, die nunmehr zwei Jahre lang zwiſchen Paris und
Regensburg, Berlin, Petersburg und Wien hin und her ſpielten, trat
ganz von ſelber wieder jene Gruppirung der deutſchen Parteien hervor,
die ſich ſchon auf dem Raſtatter Congreſſe angekündigt hatte. Der Wiener
Hof blieb noch lange in dem wunderlichen Wahne, Bonaparte werde ſich
um die Neugeſtaltung Deutſchlands nicht kümmern, und ſtrebte möglichſt
viele von den theokratiſchen Gewalten des alten Reichs, vor Allen die
geiſtlichen Kurfürſten zu retten: „nicht das Maß ihres Einkommens, ſon-
dern ihr Daſein iſt für die deutſche Verfaſſung werthvoll“ — hieß es in
einer öſterreichiſchen Staatsſchrift. Preußen und Baiern dagegen, die
mächtigſten der weltlichen Stände, verfochten das gemeinſame Intereſſe der
Erbfürſten, die allgemeine Seculariſation, und galten daher bei aller Welt
als die Bundesgenoſſen Frankreichs.

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[175/0191] Abtretung des linken Rheinufers. Behagens recht aufkommen. Aber allgemein war die Meinung, daß man für immer zu Frankreich gehöre. Die Rheinländer hatten mit ihrer Geſchichte gebrochen und von ihren alten Ueberlieferungen in die neue Zeit nichts mit hinübergenommen als den katholiſchen Glauben; daher das Gefühl innerer Verwandtſchaft, das ſie noch auf lange hinaus mit der neufran- zöſiſchen Bildung verband. Die alte Ordnung war ſpurlos vernichtet, jede Möglichkeit einer Wiederherſtellung verloren; bald ſchwand ſelbſt die Erinnerung an die Zeiten der Kleinſtaaterei. Die Geſchichte, die in den Herzen des aufwachſenden rheiniſchen Geſchlechtes wirklich lebte, begann erſt mit dem Einzuge der Franzoſen. Nur vereinzelte tiefere Naturen, wie Görres und die Gebrüder Boiſſeree, erkannten nach und nach den Fluch aller Fremdherrſchaft, die Verdumpfung und Verwüſtung des geiſtigen Lebens; ſie wendeten ihre ſehnſüchtigen Blicke den Jahrhunderten des Mittelalters zu, da das Rheinland noch ein lebendiges Glied des deutſchen Reichs geweſen, fanden in Schmerz und Reue ihr verlorenes Vaterland wieder. Die große Mehrzahl nahm das Geſchehene hin wie eine unab- änderliche Nothwendigkeit, zumal da die Zuſtände im Reiche ſo wenig Grund zur Sehnſucht boten. Auch drüben auf dem rechten Ufer glaubte Jedermann, die neue Weſtgrenze Deutſchlands ſei für alle Zukunft feſt- geſtellt. Den Reichsgewalten lag nun die Aufgabe ob, das große Entſchädi- gungswerk durchzuführen, das ſich aus der Verkleinerung des Reichs er- gab. Der ſiebente Artikel des Luneviller Friedens verpflichtete das Reich, die Erbfürſten des linken Rheinufers im Innern Deutſchlands (dans le sein de l’Empire) zu entſchädigen; die Raſtatter Verabredungen ſollten dabei zur Richtſchnur dienen. Alſo wurde die Verweltlichung des heiligen Reichs, die Vernichtung der geiſtlichen Staaten dem Reichstage auferlegt durch das Schwert des fremden Siegers. Was in den Zeiten der ſchle- ſiſchen Kriege die Rettung und Verjüngung des deutſchen Staates geweſen wäre, das war jetzt Deutſchlands Theilung. Während der verwickelten Unterhandlungen, die nunmehr zwei Jahre lang zwiſchen Paris und Regensburg, Berlin, Petersburg und Wien hin und her ſpielten, trat ganz von ſelber wieder jene Gruppirung der deutſchen Parteien hervor, die ſich ſchon auf dem Raſtatter Congreſſe angekündigt hatte. Der Wiener Hof blieb noch lange in dem wunderlichen Wahne, Bonaparte werde ſich um die Neugeſtaltung Deutſchlands nicht kümmern, und ſtrebte möglichſt viele von den theokratiſchen Gewalten des alten Reichs, vor Allen die geiſtlichen Kurfürſten zu retten: „nicht das Maß ihres Einkommens, ſon- dern ihr Daſein iſt für die deutſche Verfaſſung werthvoll“ — hieß es in einer öſterreichiſchen Staatsſchrift. Preußen und Baiern dagegen, die mächtigſten der weltlichen Stände, verfochten das gemeinſame Intereſſe der Erbfürſten, die allgemeine Seculariſation, und galten daher bei aller Welt als die Bundesgenoſſen Frankreichs.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/191>, abgerufen am 25.11.2024.