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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
von einer Felonie zur andern führte und neuen Schergendienst durch neue
Beute belohnte, so hatten sie ihm ihre Seele verschrieben, und er durfte
darauf rechnen, daß sie lieber dem Fremden die Schuhe küssen als jemals
freiwillig einem deutschen Gemeinwesen sich unterordnen würden. Er war
nicht der Mann seinen Schützlingen die Schuld der Dankbarkeit zu er-
lassen. "Frankreich", so schrieb er dem Kurfürsten von Baiern, "und
Frankreich allein kann Sie auf der Höhe Ihrer Macht erhalten;" und
nochmals: "von uns allein hat Baiern seine Vergrößerung, und nur bei
uns kann es Schutz finden."

Insoweit erscheint Bonapartes deutsche Politik nur als eine groß-
artige Weiterbildung der altfranzösischen Staatskunst, die seit dem zweiten
und dem vierten Heinrich beständig nach der Schirmherrschaft über die
deutschen Kleinstaaten getrachtet hatte; das verführerische Wort Souverä-
nität, das die Diplomaten Frankreichs einst beim Westphälischen Friedens-
schlusse zuerst auf die deutsche Landeshoheit angewendet hatten, tauchte
jetzt in den Staatsschriften des ersten Consuls wieder auf. Aber die Ge-
danken des Rastlosen schweiften schon weit über diese Ziele hinaus: war
erst Westdeutschland unterworfen, so sollten auch Oesterreich und Preußen
gebändigt werden. Bonapartes Freundschaft für Preußen war niemals
mehr als ein verschlagenes diplomatisches Spiel. Obgleich er gegen die
ängstliche Politik des Berliner Hofes eine tiefe und wohlberechtigte Ver-
achtung hegte, so theilte er doch in jenen Jahren den Irrthum aller Welt
und überschätzte die Macht Preußens; für die unerschöpflichen sittlichen
Kräfte, welche in dem erstarrten Staate schlummerten, hatte der Verächter
der Ideologen freilich kein Auge, er wußte aber sehr wohl, was der preu-
ßische Soldat in den Rheinfeldzügen geleistet hatte, und war über den
fortschreitenden Verfall des fridericianischen Heeres nicht genugsam unter-
richtet. Den Kampf mit einem solchen Gegner wollte er nur unter gün-
stigen Umständen und mit der Hilfe des gesammten übrigen Deutschlands
aufnehmen. Für jetzt konnte er Preußens Mitwirkung noch nicht missen.
Während des Krieges hatte er mehrmals gehofft, durch die Vermittlung
der friedfertigsten der Großmächte zum allgemeinen Frieden zu gelangen,
und nachher das erwachende Mißtrauen des Berliner Hofes durch un-
bestimmte Zusagen hingehalten. Nach dem Frieden betrachtete er die
Zertrümmerung der österreichischen Partei im Reiche als seine nächste
Aufgabe; dazu war die Hilfe des alten Nebenbuhlers der Lothringer un-
entbehrlich. Die Briefe des ersten Consuls an den jungen König flossen
über von zärtlichen Betheuerungen: wie jeder Wunsch des königlichen
Freundes für das französische Cabinet ein Befehl sei, und wie sie Beide,
der Nachfolger und der Bewunderer Friedrichs, selbander in den Fuß-
tapfen des großen Königs weiter wandeln wollten. Eine reichliche Ent-
schädigung ließ sich dem mächtigsten der weltlichen Reichsstände nicht ab-
schlagen; nur jede Verstärkung der preußischen Partei im Reiche mußte

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
von einer Felonie zur andern führte und neuen Schergendienſt durch neue
Beute belohnte, ſo hatten ſie ihm ihre Seele verſchrieben, und er durfte
darauf rechnen, daß ſie lieber dem Fremden die Schuhe küſſen als jemals
freiwillig einem deutſchen Gemeinweſen ſich unterordnen würden. Er war
nicht der Mann ſeinen Schützlingen die Schuld der Dankbarkeit zu er-
laſſen. „Frankreich“, ſo ſchrieb er dem Kurfürſten von Baiern, „und
Frankreich allein kann Sie auf der Höhe Ihrer Macht erhalten;“ und
nochmals: „von uns allein hat Baiern ſeine Vergrößerung, und nur bei
uns kann es Schutz finden.“

Inſoweit erſcheint Bonapartes deutſche Politik nur als eine groß-
artige Weiterbildung der altfranzöſiſchen Staatskunſt, die ſeit dem zweiten
und dem vierten Heinrich beſtändig nach der Schirmherrſchaft über die
deutſchen Kleinſtaaten getrachtet hatte; das verführeriſche Wort Souverä-
nität, das die Diplomaten Frankreichs einſt beim Weſtphäliſchen Friedens-
ſchluſſe zuerſt auf die deutſche Landeshoheit angewendet hatten, tauchte
jetzt in den Staatsſchriften des erſten Conſuls wieder auf. Aber die Ge-
danken des Raſtloſen ſchweiften ſchon weit über dieſe Ziele hinaus: war
erſt Weſtdeutſchland unterworfen, ſo ſollten auch Oeſterreich und Preußen
gebändigt werden. Bonapartes Freundſchaft für Preußen war niemals
mehr als ein verſchlagenes diplomatiſches Spiel. Obgleich er gegen die
ängſtliche Politik des Berliner Hofes eine tiefe und wohlberechtigte Ver-
achtung hegte, ſo theilte er doch in jenen Jahren den Irrthum aller Welt
und überſchätzte die Macht Preußens; für die unerſchöpflichen ſittlichen
Kräfte, welche in dem erſtarrten Staate ſchlummerten, hatte der Verächter
der Ideologen freilich kein Auge, er wußte aber ſehr wohl, was der preu-
ßiſche Soldat in den Rheinfeldzügen geleiſtet hatte, und war über den
fortſchreitenden Verfall des fridericianiſchen Heeres nicht genugſam unter-
richtet. Den Kampf mit einem ſolchen Gegner wollte er nur unter gün-
ſtigen Umſtänden und mit der Hilfe des geſammten übrigen Deutſchlands
aufnehmen. Für jetzt konnte er Preußens Mitwirkung noch nicht miſſen.
Während des Krieges hatte er mehrmals gehofft, durch die Vermittlung
der friedfertigſten der Großmächte zum allgemeinen Frieden zu gelangen,
und nachher das erwachende Mißtrauen des Berliner Hofes durch un-
beſtimmte Zuſagen hingehalten. Nach dem Frieden betrachtete er die
Zertrümmerung der öſterreichiſchen Partei im Reiche als ſeine nächſte
Aufgabe; dazu war die Hilfe des alten Nebenbuhlers der Lothringer un-
entbehrlich. Die Briefe des erſten Conſuls an den jungen König floſſen
über von zärtlichen Betheuerungen: wie jeder Wunſch des königlichen
Freundes für das franzöſiſche Cabinet ein Befehl ſei, und wie ſie Beide,
der Nachfolger und der Bewunderer Friedrichs, ſelbander in den Fuß-
tapfen des großen Königs weiter wandeln wollten. Eine reichliche Ent-
ſchädigung ließ ſich dem mächtigſten der weltlichen Reichsſtände nicht ab-
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[178/0194] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. von einer Felonie zur andern führte und neuen Schergendienſt durch neue Beute belohnte, ſo hatten ſie ihm ihre Seele verſchrieben, und er durfte darauf rechnen, daß ſie lieber dem Fremden die Schuhe küſſen als jemals freiwillig einem deutſchen Gemeinweſen ſich unterordnen würden. Er war nicht der Mann ſeinen Schützlingen die Schuld der Dankbarkeit zu er- laſſen. „Frankreich“, ſo ſchrieb er dem Kurfürſten von Baiern, „und Frankreich allein kann Sie auf der Höhe Ihrer Macht erhalten;“ und nochmals: „von uns allein hat Baiern ſeine Vergrößerung, und nur bei uns kann es Schutz finden.“ Inſoweit erſcheint Bonapartes deutſche Politik nur als eine groß- artige Weiterbildung der altfranzöſiſchen Staatskunſt, die ſeit dem zweiten und dem vierten Heinrich beſtändig nach der Schirmherrſchaft über die deutſchen Kleinſtaaten getrachtet hatte; das verführeriſche Wort Souverä- nität, das die Diplomaten Frankreichs einſt beim Weſtphäliſchen Friedens- ſchluſſe zuerſt auf die deutſche Landeshoheit angewendet hatten, tauchte jetzt in den Staatsſchriften des erſten Conſuls wieder auf. Aber die Ge- danken des Raſtloſen ſchweiften ſchon weit über dieſe Ziele hinaus: war erſt Weſtdeutſchland unterworfen, ſo ſollten auch Oeſterreich und Preußen gebändigt werden. Bonapartes Freundſchaft für Preußen war niemals mehr als ein verſchlagenes diplomatiſches Spiel. Obgleich er gegen die ängſtliche Politik des Berliner Hofes eine tiefe und wohlberechtigte Ver- achtung hegte, ſo theilte er doch in jenen Jahren den Irrthum aller Welt und überſchätzte die Macht Preußens; für die unerſchöpflichen ſittlichen Kräfte, welche in dem erſtarrten Staate ſchlummerten, hatte der Verächter der Ideologen freilich kein Auge, er wußte aber ſehr wohl, was der preu- ßiſche Soldat in den Rheinfeldzügen geleiſtet hatte, und war über den fortſchreitenden Verfall des fridericianiſchen Heeres nicht genugſam unter- richtet. Den Kampf mit einem ſolchen Gegner wollte er nur unter gün- ſtigen Umſtänden und mit der Hilfe des geſammten übrigen Deutſchlands aufnehmen. Für jetzt konnte er Preußens Mitwirkung noch nicht miſſen. Während des Krieges hatte er mehrmals gehofft, durch die Vermittlung der friedfertigſten der Großmächte zum allgemeinen Frieden zu gelangen, und nachher das erwachende Mißtrauen des Berliner Hofes durch un- beſtimmte Zuſagen hingehalten. Nach dem Frieden betrachtete er die Zertrümmerung der öſterreichiſchen Partei im Reiche als ſeine nächſte Aufgabe; dazu war die Hilfe des alten Nebenbuhlers der Lothringer un- entbehrlich. Die Briefe des erſten Conſuls an den jungen König floſſen über von zärtlichen Betheuerungen: wie jeder Wunſch des königlichen Freundes für das franzöſiſche Cabinet ein Befehl ſei, und wie ſie Beide, der Nachfolger und der Bewunderer Friedrichs, ſelbander in den Fuß- tapfen des großen Königs weiter wandeln wollten. Eine reichliche Ent- ſchädigung ließ ſich dem mächtigſten der weltlichen Reichsſtände nicht ab- ſchlagen; nur jede Verſtärkung der preußiſchen Partei im Reiche mußte

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/194>, abgerufen am 09.11.2024.