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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Romantische Weltanschauung.
Die Inspiration der "intellectuellen Anschauung", die im Bereiche der
Erfahrungswissenschaften schlechterdings nur zu genialen Hypothesen an-
regen kann und sich immer erst durch empirische Beweise rechtfertigen
muß, sollte ihm die Beobachtung und Vergleichung ersetzen. Durch will-
kürliches Construiren, aus der Phantasie heraus, wähnte er der Natur
die Geheimnisse zu entreißen, welche sie allein dem liebevollen, entsagenden
Fleiße enthüllt. Das nüchterne Forschen überließ man verächtlich den
geistlosen Handwerkern; die gute Gesellschaft schwärmte für die Natur-
philosophie oder lernte befriedigt aus Galls Schädellehre, wie leicht und
spielend der geniale Mensch die dunkelsten Probleme der Psychologie und
Naturwissenschaft bewältigen könne. Alle Schäden der Ueberbildung be-
gannen sich zu zeigen: der geistige Hochmuth stellte launisch die welterhal-
tenden Gesetze des sittlichen Lebens in Frage, schaute mit geringschätzigem
Lächeln auf den moralischen Pedanten Schiller herunter. Schwächere
Naturen verfielen einer übergeistreichen Mattherzigkeit, lernten alle Dinge
von allen Seiten zu betrachten und verloren inmitten der entgegengesetzten
Gesichtspunkte, welche der Gedankenreichthum der Zeit einem Jeden dar-
bot, die Kraft zu selbständigem Denken und Wollen; wer eine historische
Erscheinung theoretisch erklärt und verstanden hatte, wähnte sie auch ge-
rechtfertigt zu haben.

Gleichwohl ist die romantische Dichtung für unser Leben überaus
fruchtbar geworden, weniger durch ihre eigenen Kunstwerke, als durch die
Anregung, die sie der Wissenschaft gab, durch den neuen weiten Gesichts-
kreis, den sie dem gesammten Fühlen und Denken der Nation erschloß.
Sie verfeinerte und vertiefte das Naturgefühl, weckte das Verständniß
für die Seele der Landschaft, für den ahnungsvollen Zauber der Wald-
einsamkeit, der Felsenwildniß, der moosbedeckten Brunnen. Das acht-
zehnte Jahrhundert hatte sich, gleich den Alten, in der reichangebauten
fruchtbaren Ebene wohl gefühlt, die neue Zeit suchte nach den roman-
tischen Reizen der Natur; die Jugend lernte die unschuldigen Freuden
der frischen, freien Wanderlust wieder schätzen, das Volk bis tief in die
Mittelstände herab ward nach und nach um eine Fülle neuer Anschauungen
reicher. Die Welt des Märchenhaften, Geheimnißvollen, Dunkelklaren
wurde jetzt erst der deutschen Dichtung ganz erschlossen. Ihre Traum-
gestalten traten nicht so rund, klar und fertig heraus wie die Gebilde der
classischen Kunst; doch sie hoben sich ab von einem tiefen Hintergrunde
und schienen ins Unendliche hinauszudeuten, und über ihnen lag der
Dämmerschein der "mondbeglänzten Zaubernacht, die den Sinn gefangen
hält". Uralte, längst verschollene Empfindungen des germanischen Volks-
gemüths wurden wieder lebendig.

Die Romantiker fühlten, daß die classischen Ideale das innerste Leben
unseres Volkes nicht vollständig wiedergaben; sie suchten nach neuen Stoffen,
durchstreiften als wagelustige Conquistadoren die weite Welt, bis zu der

Romantiſche Weltanſchauung.
Die Inſpiration der „intellectuellen Anſchauung“, die im Bereiche der
Erfahrungswiſſenſchaften ſchlechterdings nur zu genialen Hypotheſen an-
regen kann und ſich immer erſt durch empiriſche Beweiſe rechtfertigen
muß, ſollte ihm die Beobachtung und Vergleichung erſetzen. Durch will-
kürliches Conſtruiren, aus der Phantaſie heraus, wähnte er der Natur
die Geheimniſſe zu entreißen, welche ſie allein dem liebevollen, entſagenden
Fleiße enthüllt. Das nüchterne Forſchen überließ man verächtlich den
geiſtloſen Handwerkern; die gute Geſellſchaft ſchwärmte für die Natur-
philoſophie oder lernte befriedigt aus Galls Schädellehre, wie leicht und
ſpielend der geniale Menſch die dunkelſten Probleme der Pſychologie und
Naturwiſſenſchaft bewältigen könne. Alle Schäden der Ueberbildung be-
gannen ſich zu zeigen: der geiſtige Hochmuth ſtellte launiſch die welterhal-
tenden Geſetze des ſittlichen Lebens in Frage, ſchaute mit geringſchätzigem
Lächeln auf den moraliſchen Pedanten Schiller herunter. Schwächere
Naturen verfielen einer übergeiſtreichen Mattherzigkeit, lernten alle Dinge
von allen Seiten zu betrachten und verloren inmitten der entgegengeſetzten
Geſichtspunkte, welche der Gedankenreichthum der Zeit einem Jeden dar-
bot, die Kraft zu ſelbſtändigem Denken und Wollen; wer eine hiſtoriſche
Erſcheinung theoretiſch erklärt und verſtanden hatte, wähnte ſie auch ge-
rechtfertigt zu haben.

Gleichwohl iſt die romantiſche Dichtung für unſer Leben überaus
fruchtbar geworden, weniger durch ihre eigenen Kunſtwerke, als durch die
Anregung, die ſie der Wiſſenſchaft gab, durch den neuen weiten Geſichts-
kreis, den ſie dem geſammten Fühlen und Denken der Nation erſchloß.
Sie verfeinerte und vertiefte das Naturgefühl, weckte das Verſtändniß
für die Seele der Landſchaft, für den ahnungsvollen Zauber der Wald-
einſamkeit, der Felſenwildniß, der moosbedeckten Brunnen. Das acht-
zehnte Jahrhundert hatte ſich, gleich den Alten, in der reichangebauten
fruchtbaren Ebene wohl gefühlt, die neue Zeit ſuchte nach den roman-
tiſchen Reizen der Natur; die Jugend lernte die unſchuldigen Freuden
der friſchen, freien Wanderluſt wieder ſchätzen, das Volk bis tief in die
Mittelſtände herab ward nach und nach um eine Fülle neuer Anſchauungen
reicher. Die Welt des Märchenhaften, Geheimnißvollen, Dunkelklaren
wurde jetzt erſt der deutſchen Dichtung ganz erſchloſſen. Ihre Traum-
geſtalten traten nicht ſo rund, klar und fertig heraus wie die Gebilde der
claſſiſchen Kunſt; doch ſie hoben ſich ab von einem tiefen Hintergrunde
und ſchienen ins Unendliche hinauszudeuten, und über ihnen lag der
Dämmerſchein der „mondbeglänzten Zaubernacht, die den Sinn gefangen
hält“. Uralte, längſt verſchollene Empfindungen des germaniſchen Volks-
gemüths wurden wieder lebendig.

Die Romantiker fühlten, daß die claſſiſchen Ideale das innerſte Leben
unſeres Volkes nicht vollſtändig wiedergaben; ſie ſuchten nach neuen Stoffen,
durchſtreiften als wageluſtige Conquiſtadoren die weite Welt, bis zu der

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[207/0223] Romantiſche Weltanſchauung. Die Inſpiration der „intellectuellen Anſchauung“, die im Bereiche der Erfahrungswiſſenſchaften ſchlechterdings nur zu genialen Hypotheſen an- regen kann und ſich immer erſt durch empiriſche Beweiſe rechtfertigen muß, ſollte ihm die Beobachtung und Vergleichung erſetzen. Durch will- kürliches Conſtruiren, aus der Phantaſie heraus, wähnte er der Natur die Geheimniſſe zu entreißen, welche ſie allein dem liebevollen, entſagenden Fleiße enthüllt. Das nüchterne Forſchen überließ man verächtlich den geiſtloſen Handwerkern; die gute Geſellſchaft ſchwärmte für die Natur- philoſophie oder lernte befriedigt aus Galls Schädellehre, wie leicht und ſpielend der geniale Menſch die dunkelſten Probleme der Pſychologie und Naturwiſſenſchaft bewältigen könne. Alle Schäden der Ueberbildung be- gannen ſich zu zeigen: der geiſtige Hochmuth ſtellte launiſch die welterhal- tenden Geſetze des ſittlichen Lebens in Frage, ſchaute mit geringſchätzigem Lächeln auf den moraliſchen Pedanten Schiller herunter. Schwächere Naturen verfielen einer übergeiſtreichen Mattherzigkeit, lernten alle Dinge von allen Seiten zu betrachten und verloren inmitten der entgegengeſetzten Geſichtspunkte, welche der Gedankenreichthum der Zeit einem Jeden dar- bot, die Kraft zu ſelbſtändigem Denken und Wollen; wer eine hiſtoriſche Erſcheinung theoretiſch erklärt und verſtanden hatte, wähnte ſie auch ge- rechtfertigt zu haben. Gleichwohl iſt die romantiſche Dichtung für unſer Leben überaus fruchtbar geworden, weniger durch ihre eigenen Kunſtwerke, als durch die Anregung, die ſie der Wiſſenſchaft gab, durch den neuen weiten Geſichts- kreis, den ſie dem geſammten Fühlen und Denken der Nation erſchloß. Sie verfeinerte und vertiefte das Naturgefühl, weckte das Verſtändniß für die Seele der Landſchaft, für den ahnungsvollen Zauber der Wald- einſamkeit, der Felſenwildniß, der moosbedeckten Brunnen. Das acht- zehnte Jahrhundert hatte ſich, gleich den Alten, in der reichangebauten fruchtbaren Ebene wohl gefühlt, die neue Zeit ſuchte nach den roman- tiſchen Reizen der Natur; die Jugend lernte die unſchuldigen Freuden der friſchen, freien Wanderluſt wieder ſchätzen, das Volk bis tief in die Mittelſtände herab ward nach und nach um eine Fülle neuer Anſchauungen reicher. Die Welt des Märchenhaften, Geheimnißvollen, Dunkelklaren wurde jetzt erſt der deutſchen Dichtung ganz erſchloſſen. Ihre Traum- geſtalten traten nicht ſo rund, klar und fertig heraus wie die Gebilde der claſſiſchen Kunſt; doch ſie hoben ſich ab von einem tiefen Hintergrunde und ſchienen ins Unendliche hinauszudeuten, und über ihnen lag der Dämmerſchein der „mondbeglänzten Zaubernacht, die den Sinn gefangen hält“. Uralte, längſt verſchollene Empfindungen des germaniſchen Volks- gemüths wurden wieder lebendig. Die Romantiker fühlten, daß die claſſiſchen Ideale das innerſte Leben unſeres Volkes nicht vollſtändig wiedergaben; ſie ſuchten nach neuen Stoffen, durchſtreiften als wageluſtige Conquiſtadoren die weite Welt, bis zu der

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/223>, abgerufen am 23.11.2024.