Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. Wiege der Menschheit in Indien, bis zu den stillen Naturvölkern in denvergessenen Winkeln der Erde. Ueberall wo nur die Allerzeugerin Poesie in Sprache, Kunst und Religion sich entfaltet hatte, suchte man sie auf und strebte ihre Offenbarungen dem deutschen Genius zu vermählen: wie einst die Römer die Götterbilder der Unterworfenen in ihrem Pan- theon aufstellten, so sollte das neue Herrschervolk im Reiche des Geistes, das alle anderen Nationen zu durchschauen und zu überschauen meinte, die Dichtungen aller Länder in getreuen Nachbildungen sich zu eigen machen. Der feine Formensinn und die sinnige weibliche Empfänglichkeit A. W. Schlegels brachten die deutsche Uebersetzerkunst zur Blüthe. Rasch nach einander erschienen Shakespeare, Cervantes, Calderon, eine Menge anderer glücklicher Uebersetzungen. Die deutsche Poesie zeigte sich jeder noch so fremdartigen Aufgabe gewachsen, ja sie lief schon Gefahr einer virtuosen Formenspielerei zu verfallen, die ihrem innersten Wesen wider- sprach; denn in allen ihren großen Zeiten hatten die Germanen den In- halt höher geschätzt als die Form. Aber einen unschätzbaren, bleibenden Gewinn brachten die kühnen Entdeckerfahrten der Romantiker: in ihrem Kreise zuerst erwachte der historische Sinn, der dem philosophischen Jahr- hundert immer fremd geblieben. In seinen literarhistorischen Vorlesungen führte A. W. Schlegel, an Herders Ahnungen anknüpfend, den großen Gedanken durch, daß die Kunst im nationalen Boden wurzele, daß jedes Volkes Sprache, Religion und Dichtung als ein nothwendiges Werden, als die Entfaltung des Volksgeistes zu verstehen sei. So ward der Grund gelegt, auf dem sich dereinst der stolze Bau der vergleichenden Sprach- forschung, der Literatur- und Kunstgeschichte erheben sollte. Und eben dies Schweifen in die Ferne führte die Romantiker wieder I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. Wiege der Menſchheit in Indien, bis zu den ſtillen Naturvölkern in denvergeſſenen Winkeln der Erde. Ueberall wo nur die Allerzeugerin Poeſie in Sprache, Kunſt und Religion ſich entfaltet hatte, ſuchte man ſie auf und ſtrebte ihre Offenbarungen dem deutſchen Genius zu vermählen: wie einſt die Römer die Götterbilder der Unterworfenen in ihrem Pan- theon aufſtellten, ſo ſollte das neue Herrſchervolk im Reiche des Geiſtes, das alle anderen Nationen zu durchſchauen und zu überſchauen meinte, die Dichtungen aller Länder in getreuen Nachbildungen ſich zu eigen machen. Der feine Formenſinn und die ſinnige weibliche Empfänglichkeit A. W. Schlegels brachten die deutſche Ueberſetzerkunſt zur Blüthe. Raſch nach einander erſchienen Shakeſpeare, Cervantes, Calderon, eine Menge anderer glücklicher Ueberſetzungen. Die deutſche Poeſie zeigte ſich jeder noch ſo fremdartigen Aufgabe gewachſen, ja ſie lief ſchon Gefahr einer virtuoſen Formenſpielerei zu verfallen, die ihrem innerſten Weſen wider- ſprach; denn in allen ihren großen Zeiten hatten die Germanen den In- halt höher geſchätzt als die Form. Aber einen unſchätzbaren, bleibenden Gewinn brachten die kühnen Entdeckerfahrten der Romantiker: in ihrem Kreiſe zuerſt erwachte der hiſtoriſche Sinn, der dem philoſophiſchen Jahr- hundert immer fremd geblieben. In ſeinen literarhiſtoriſchen Vorleſungen führte A. W. Schlegel, an Herders Ahnungen anknüpfend, den großen Gedanken durch, daß die Kunſt im nationalen Boden wurzele, daß jedes Volkes Sprache, Religion und Dichtung als ein nothwendiges Werden, als die Entfaltung des Volksgeiſtes zu verſtehen ſei. So ward der Grund gelegt, auf dem ſich dereinſt der ſtolze Bau der vergleichenden Sprach- forſchung, der Literatur- und Kunſtgeſchichte erheben ſollte. Und eben dies Schweifen in die Ferne führte die Romantiker wieder <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0224" n="208"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 2. Revolution und Fremdherrſchaft.</fw><lb/> Wiege der Menſchheit in Indien, bis zu den ſtillen Naturvölkern in den<lb/> vergeſſenen Winkeln der Erde. Ueberall wo nur die Allerzeugerin Poeſie<lb/> in Sprache, Kunſt und Religion ſich entfaltet hatte, ſuchte man ſie auf<lb/> und ſtrebte ihre Offenbarungen dem deutſchen Genius zu vermählen:<lb/> wie einſt die Römer die Götterbilder der Unterworfenen in ihrem Pan-<lb/> theon aufſtellten, ſo ſollte das neue Herrſchervolk im Reiche des Geiſtes,<lb/> das alle anderen Nationen zu durchſchauen und zu überſchauen meinte,<lb/> die Dichtungen aller Länder in getreuen Nachbildungen ſich zu eigen<lb/> machen. Der feine Formenſinn und die ſinnige weibliche Empfänglichkeit<lb/> A. W. Schlegels brachten die deutſche Ueberſetzerkunſt zur Blüthe. Raſch<lb/> nach einander erſchienen Shakeſpeare, Cervantes, Calderon, eine Menge<lb/> anderer glücklicher Ueberſetzungen. Die deutſche Poeſie zeigte ſich jeder<lb/> noch ſo fremdartigen Aufgabe gewachſen, ja ſie lief ſchon Gefahr einer<lb/> virtuoſen Formenſpielerei zu verfallen, die ihrem innerſten Weſen wider-<lb/> ſprach; denn in allen ihren großen Zeiten hatten die Germanen den In-<lb/> halt höher geſchätzt als die Form. Aber einen unſchätzbaren, bleibenden<lb/> Gewinn brachten die kühnen Entdeckerfahrten der Romantiker: in ihrem<lb/> Kreiſe zuerſt erwachte der hiſtoriſche Sinn, der dem philoſophiſchen Jahr-<lb/> hundert immer fremd geblieben. In ſeinen literarhiſtoriſchen Vorleſungen<lb/> führte A. W. Schlegel, an Herders Ahnungen anknüpfend, den großen<lb/> Gedanken durch, daß die Kunſt im nationalen Boden wurzele, daß jedes<lb/> Volkes Sprache, Religion und Dichtung als ein nothwendiges Werden,<lb/> als die Entfaltung des Volksgeiſtes zu verſtehen ſei. So ward der Grund<lb/> gelegt, auf dem ſich dereinſt der ſtolze Bau der vergleichenden Sprach-<lb/> forſchung, der Literatur- und Kunſtgeſchichte erheben ſollte.</p><lb/> <p>Und eben dies Schweifen in die Ferne führte die Romantiker wieder<lb/> zur Heimath zurück. Da ſie überall in der Geſchichte nach dem Volks-<lb/> thümlichen und Urſprünglichen ſuchten, ſo gelangten ſie endlich auf ſelt-<lb/> ſamen Umwegen zu der Frage: wie ſich denn dies neue deutſche Volk<lb/> gebildet habe? Sie faßten ſich das Herz dem vaterländiſchen Alterthume<lb/> wieder ins Geſicht zu ſchauen, und es erſchien dem neuen Geſchlechte zuerſt<lb/> ſo fremd, wie dem Manne ſein eigenes Knabenbildniß. Die Deutſchen<lb/> entdeckten mit freudiger Beſchämung, wie lächerlich wenig ſie doch von dem<lb/> Reichthum des eigenen Landes gekannt hatten. Die verrufene finſtere Nacht<lb/> des Mittelalters leuchtete wieder in freudigem Glanze. Ein farbenreiches<lb/> Gewimmel fremdartiger Geſtalten, Mönche und Minneſänger, heilige<lb/> Frauen und Gottesſtreiter, bewegte ſich vor den entzückten Blicken; die<lb/> Stauferkaiſer, deren Name kaum noch in Schwaben dem Volke bekannt<lb/> war, erſchienen wieder als die ritterlichen Helden der Nation. Der Händler<lb/> auf den Jahrmärkten, der die Löſchpapierausgaben alter Volksbücher für<lb/> den kleinen Mann feil bot, ſetzte ſeine Waare jetzt zuweilen auch an gelehrte<lb/> Herren ab. Die vornehmen Leute horchten auf, wenn die Magd den Kin-<lb/> dern Märchen erzählte, und unter den Eingeweihten ging die Rede, daß<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [208/0224]
I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Wiege der Menſchheit in Indien, bis zu den ſtillen Naturvölkern in den
vergeſſenen Winkeln der Erde. Ueberall wo nur die Allerzeugerin Poeſie
in Sprache, Kunſt und Religion ſich entfaltet hatte, ſuchte man ſie auf
und ſtrebte ihre Offenbarungen dem deutſchen Genius zu vermählen:
wie einſt die Römer die Götterbilder der Unterworfenen in ihrem Pan-
theon aufſtellten, ſo ſollte das neue Herrſchervolk im Reiche des Geiſtes,
das alle anderen Nationen zu durchſchauen und zu überſchauen meinte,
die Dichtungen aller Länder in getreuen Nachbildungen ſich zu eigen
machen. Der feine Formenſinn und die ſinnige weibliche Empfänglichkeit
A. W. Schlegels brachten die deutſche Ueberſetzerkunſt zur Blüthe. Raſch
nach einander erſchienen Shakeſpeare, Cervantes, Calderon, eine Menge
anderer glücklicher Ueberſetzungen. Die deutſche Poeſie zeigte ſich jeder
noch ſo fremdartigen Aufgabe gewachſen, ja ſie lief ſchon Gefahr einer
virtuoſen Formenſpielerei zu verfallen, die ihrem innerſten Weſen wider-
ſprach; denn in allen ihren großen Zeiten hatten die Germanen den In-
halt höher geſchätzt als die Form. Aber einen unſchätzbaren, bleibenden
Gewinn brachten die kühnen Entdeckerfahrten der Romantiker: in ihrem
Kreiſe zuerſt erwachte der hiſtoriſche Sinn, der dem philoſophiſchen Jahr-
hundert immer fremd geblieben. In ſeinen literarhiſtoriſchen Vorleſungen
führte A. W. Schlegel, an Herders Ahnungen anknüpfend, den großen
Gedanken durch, daß die Kunſt im nationalen Boden wurzele, daß jedes
Volkes Sprache, Religion und Dichtung als ein nothwendiges Werden,
als die Entfaltung des Volksgeiſtes zu verſtehen ſei. So ward der Grund
gelegt, auf dem ſich dereinſt der ſtolze Bau der vergleichenden Sprach-
forſchung, der Literatur- und Kunſtgeſchichte erheben ſollte.
Und eben dies Schweifen in die Ferne führte die Romantiker wieder
zur Heimath zurück. Da ſie überall in der Geſchichte nach dem Volks-
thümlichen und Urſprünglichen ſuchten, ſo gelangten ſie endlich auf ſelt-
ſamen Umwegen zu der Frage: wie ſich denn dies neue deutſche Volk
gebildet habe? Sie faßten ſich das Herz dem vaterländiſchen Alterthume
wieder ins Geſicht zu ſchauen, und es erſchien dem neuen Geſchlechte zuerſt
ſo fremd, wie dem Manne ſein eigenes Knabenbildniß. Die Deutſchen
entdeckten mit freudiger Beſchämung, wie lächerlich wenig ſie doch von dem
Reichthum des eigenen Landes gekannt hatten. Die verrufene finſtere Nacht
des Mittelalters leuchtete wieder in freudigem Glanze. Ein farbenreiches
Gewimmel fremdartiger Geſtalten, Mönche und Minneſänger, heilige
Frauen und Gottesſtreiter, bewegte ſich vor den entzückten Blicken; die
Stauferkaiſer, deren Name kaum noch in Schwaben dem Volke bekannt
war, erſchienen wieder als die ritterlichen Helden der Nation. Der Händler
auf den Jahrmärkten, der die Löſchpapierausgaben alter Volksbücher für
den kleinen Mann feil bot, ſetzte ſeine Waare jetzt zuweilen auch an gelehrte
Herren ab. Die vornehmen Leute horchten auf, wenn die Magd den Kin-
dern Märchen erzählte, und unter den Eingeweihten ging die Rede, daß
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |