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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.

Die Anarchie eines neuen Interregnums brach über Deutschland her-
ein; das Faustrecht herrschte, nicht mehr von adlichen Wegelagerern, sondern
von fürstlichen Höfen gehandhabt. Mißtrauisch verfolgte Napoleon jede
Regung des nationalen Gefühls in dem unterjochten Lande; Frankreichs
Interesse verlangt, so schrieb er seinem Talleyrand, daß die Meinung in
Deutschland getheilt bleibe. Als nun ein Ansbacher Yelin eine anonyme
Flugschrift "Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung" herausgab -- ein
treugemeintes, gefühlsseliges Schriftchen, das in eiserner Zeit nur den
friedlichen Rath fand: "weine laut auf, edler, biederer Deutscher!" -- da
schien dem Imperator selbst dieser Stoßseufzer des harmlosen Spießbürger-
thums bedenklich, und er ließ den Buchhändler Palm, der das Buch
verbreitet haben sollte, standrechtlich erschießen. Es war der erste Justiz-
mord des Bonapartismus auf deutschem Boden; die klugen Leute in
Baiern fingen an zu zweifeln, ob der Rheinbund wirklich den Sieg der
Freiheit und der Aufklärung gebracht habe.

Wie anders als jener weinerliche Ansbacher wußte Friedrich Gentz
zu seinem Volke zu reden! Die schönste seiner Schriften, die Fragmente
aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts verriethen freilich
schon, daß der geistvolle Mann jetzt im Solde Oesterreichs schrieb; für das
ehrwürdige Erzhaus hatte er nur Worte des Lobes und die offenkundigen
Pläne der Hofburg gegen Baiern leugnete er kurzweg ab. Doch was
wollten solche Bemäntelungen bedeuten neben der großartigen Offenheit,
die hier mit flammenden Worten die letzten Gründe der deutschen Schande
beleuchtete? Das alte Gleichgewicht der Mächte ist durch eine neue Welt-
herrschaft zerstört; nicht Napoleons Genie, sondern Deutschlands selbst-
verschuldete Wehrlosigkeit hat das Verhängniß heraufgeführt, und die große
Frage der Zukunft lautet: soll Deutschland in seinem ganzen Umfange
werden, was heute schon die Hälfte davon ist, was Holland und die
Schweiz und Spanien und Italien wurde? Europa ist durch Deutsch-
land gefallen; durch Deutschland muß es wieder emporsteigen. Einen
Retter und Rächer ruft er auf, der uns einsetze in unser ewiges Recht,
der Deutschland und Europa wieder aufbaue; und mit der Wucht seines
Hohnes erdrückt er die Thoren, die von Frankreich das Heil der Welt
erwarten: "eben der rächende Dämon, der sie zur Strafe ihrer hoch-
müthigen Plattheit durch den ganzen ermüdenden Kreis politischer Rasereien
gepeitscht hat, schuf sie endlich aus Enthusiasten der Freiheit, einer scheu-
seligen fieberhaften Freiheit, zu Lobrednern der vollkommensten Sklaverei,
die jemals die Völker gebeugt hatte, um."

Auch aus dem stillen Norden erklangen jetzt endlich wieder mächtige
Worte vaterländischen Zornes. Als ein ergebener Unterthan der drei
Kronen Schwedens hatte Ernst Moritz Arndt, der tapfere Sohn der
Insel Rügen, bisher dahin gelebt; erst da die Schande den Deutschen
in den Nacken schlug wallte das deutsche Blut in ihm auf und er

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Die Anarchie eines neuen Interregnums brach über Deutſchland her-
ein; das Fauſtrecht herrſchte, nicht mehr von adlichen Wegelagerern, ſondern
von fürſtlichen Höfen gehandhabt. Mißtrauiſch verfolgte Napoleon jede
Regung des nationalen Gefühls in dem unterjochten Lande; Frankreichs
Intereſſe verlangt, ſo ſchrieb er ſeinem Talleyrand, daß die Meinung in
Deutſchland getheilt bleibe. Als nun ein Ansbacher Yelin eine anonyme
Flugſchrift „Deutſchland in ſeiner tiefen Erniedrigung“ herausgab — ein
treugemeintes, gefühlsſeliges Schriftchen, das in eiſerner Zeit nur den
friedlichen Rath fand: „weine laut auf, edler, biederer Deutſcher!“ — da
ſchien dem Imperator ſelbſt dieſer Stoßſeufzer des harmloſen Spießbürger-
thums bedenklich, und er ließ den Buchhändler Palm, der das Buch
verbreitet haben ſollte, ſtandrechtlich erſchießen. Es war der erſte Juſtiz-
mord des Bonapartismus auf deutſchem Boden; die klugen Leute in
Baiern fingen an zu zweifeln, ob der Rheinbund wirklich den Sieg der
Freiheit und der Aufklärung gebracht habe.

Wie anders als jener weinerliche Ansbacher wußte Friedrich Gentz
zu ſeinem Volke zu reden! Die ſchönſte ſeiner Schriften, die Fragmente
aus der neueſten Geſchichte des politiſchen Gleichgewichts verriethen freilich
ſchon, daß der geiſtvolle Mann jetzt im Solde Oeſterreichs ſchrieb; für das
ehrwürdige Erzhaus hatte er nur Worte des Lobes und die offenkundigen
Pläne der Hofburg gegen Baiern leugnete er kurzweg ab. Doch was
wollten ſolche Bemäntelungen bedeuten neben der großartigen Offenheit,
die hier mit flammenden Worten die letzten Gründe der deutſchen Schande
beleuchtete? Das alte Gleichgewicht der Mächte iſt durch eine neue Welt-
herrſchaft zerſtört; nicht Napoleons Genie, ſondern Deutſchlands ſelbſt-
verſchuldete Wehrloſigkeit hat das Verhängniß heraufgeführt, und die große
Frage der Zukunft lautet: ſoll Deutſchland in ſeinem ganzen Umfange
werden, was heute ſchon die Hälfte davon iſt, was Holland und die
Schweiz und Spanien und Italien wurde? Europa iſt durch Deutſch-
land gefallen; durch Deutſchland muß es wieder emporſteigen. Einen
Retter und Rächer ruft er auf, der uns einſetze in unſer ewiges Recht,
der Deutſchland und Europa wieder aufbaue; und mit der Wucht ſeines
Hohnes erdrückt er die Thoren, die von Frankreich das Heil der Welt
erwarten: „eben der rächende Dämon, der ſie zur Strafe ihrer hoch-
müthigen Plattheit durch den ganzen ermüdenden Kreis politiſcher Raſereien
gepeitſcht hat, ſchuf ſie endlich aus Enthuſiaſten der Freiheit, einer ſcheu-
ſeligen fieberhaften Freiheit, zu Lobrednern der vollkommenſten Sklaverei,
die jemals die Völker gebeugt hatte, um.“

Auch aus dem ſtillen Norden erklangen jetzt endlich wieder mächtige
Worte vaterländiſchen Zornes. Als ein ergebener Unterthan der drei
Kronen Schwedens hatte Ernſt Moritz Arndt, der tapfere Sohn der
Inſel Rügen, bisher dahin gelebt; erſt da die Schande den Deutſchen
in den Nacken ſchlug wallte das deutſche Blut in ihm auf und er

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[236/0252] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. Die Anarchie eines neuen Interregnums brach über Deutſchland her- ein; das Fauſtrecht herrſchte, nicht mehr von adlichen Wegelagerern, ſondern von fürſtlichen Höfen gehandhabt. Mißtrauiſch verfolgte Napoleon jede Regung des nationalen Gefühls in dem unterjochten Lande; Frankreichs Intereſſe verlangt, ſo ſchrieb er ſeinem Talleyrand, daß die Meinung in Deutſchland getheilt bleibe. Als nun ein Ansbacher Yelin eine anonyme Flugſchrift „Deutſchland in ſeiner tiefen Erniedrigung“ herausgab — ein treugemeintes, gefühlsſeliges Schriftchen, das in eiſerner Zeit nur den friedlichen Rath fand: „weine laut auf, edler, biederer Deutſcher!“ — da ſchien dem Imperator ſelbſt dieſer Stoßſeufzer des harmloſen Spießbürger- thums bedenklich, und er ließ den Buchhändler Palm, der das Buch verbreitet haben ſollte, ſtandrechtlich erſchießen. Es war der erſte Juſtiz- mord des Bonapartismus auf deutſchem Boden; die klugen Leute in Baiern fingen an zu zweifeln, ob der Rheinbund wirklich den Sieg der Freiheit und der Aufklärung gebracht habe. Wie anders als jener weinerliche Ansbacher wußte Friedrich Gentz zu ſeinem Volke zu reden! Die ſchönſte ſeiner Schriften, die Fragmente aus der neueſten Geſchichte des politiſchen Gleichgewichts verriethen freilich ſchon, daß der geiſtvolle Mann jetzt im Solde Oeſterreichs ſchrieb; für das ehrwürdige Erzhaus hatte er nur Worte des Lobes und die offenkundigen Pläne der Hofburg gegen Baiern leugnete er kurzweg ab. Doch was wollten ſolche Bemäntelungen bedeuten neben der großartigen Offenheit, die hier mit flammenden Worten die letzten Gründe der deutſchen Schande beleuchtete? Das alte Gleichgewicht der Mächte iſt durch eine neue Welt- herrſchaft zerſtört; nicht Napoleons Genie, ſondern Deutſchlands ſelbſt- verſchuldete Wehrloſigkeit hat das Verhängniß heraufgeführt, und die große Frage der Zukunft lautet: ſoll Deutſchland in ſeinem ganzen Umfange werden, was heute ſchon die Hälfte davon iſt, was Holland und die Schweiz und Spanien und Italien wurde? Europa iſt durch Deutſch- land gefallen; durch Deutſchland muß es wieder emporſteigen. Einen Retter und Rächer ruft er auf, der uns einſetze in unſer ewiges Recht, der Deutſchland und Europa wieder aufbaue; und mit der Wucht ſeines Hohnes erdrückt er die Thoren, die von Frankreich das Heil der Welt erwarten: „eben der rächende Dämon, der ſie zur Strafe ihrer hoch- müthigen Plattheit durch den ganzen ermüdenden Kreis politiſcher Raſereien gepeitſcht hat, ſchuf ſie endlich aus Enthuſiaſten der Freiheit, einer ſcheu- ſeligen fieberhaften Freiheit, zu Lobrednern der vollkommenſten Sklaverei, die jemals die Völker gebeugt hatte, um.“ Auch aus dem ſtillen Norden erklangen jetzt endlich wieder mächtige Worte vaterländiſchen Zornes. Als ein ergebener Unterthan der drei Kronen Schwedens hatte Ernſt Moritz Arndt, der tapfere Sohn der Inſel Rügen, bisher dahin gelebt; erſt da die Schande den Deutſchen in den Nacken ſchlug wallte das deutſche Blut in ihm auf und er

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/252>, abgerufen am 22.11.2024.