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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Palm. Gentz. Arndt.
entsann sich seines Vaterlandes. Während des Krieges von 1805 schrieb
er den ersten Theil des "Geistes der Zeit", und seitdem blieb er seinem
unglücklichen Volke unerschütterlich als ein getreuer Eckart, ein Wecker
der Gewissen zur Seite. Weder Gentzens umfassende Sachkenntniß, noch
die stahlharte Schärfe und die bewußte Berechnung des großen Publi-
cisten standen ihm zu Gebote; ein Kind der Natur wie er war brauchte
er langer Jahre um die landschaftlichen Vorurtheile seiner schwedisch-
pommerschen Heimath zu überwinden: die unklare Begeisterung für das
Land der Wälder und der Freiheit, Skandinavien, und den Widerwillen
gegen dies ärmlich nüchterne Preußen, das mit seinem verstandeskalten
Friedrich doch allein die Spaltung Deutschlands verschuldet habe. Aber
frisch und kräftig, wie die Wogen seines heimischen Meeres, mit einer ur-
sprünglichen, unmittelbaren Macht der Empfindung, die so keinem anderen
politischen Schriftsteller jener Tage gegeben war, strömte ihm die Rede aus
dem übervollen liebeglühenden Herzen; jedes Wort war treu, muthig, wahr-
haft wie die tiefen blauen Augen des ewig jugendlichen Mannes. Während
die hart politischen Gedanken des Wiener Publicisten nur von Wenigen in
diesem staatlosen Geschlechte verstanden wurden, schloß Arndt sein Buch
mit dem kindlichen Ausruf: "ich liebe die Menschen"; er ergriff die Ge-
müther, weil er die Politik von der menschlichen Seite nahm. Er zuerst
erkannte und strafte die sittlichen Schäden der geistigen Ueberbildung und
rief dem klugen Jahrhundert zu: besser ist Leben als vom Leben schwatzen.
"Ohne das Volk ist keine Menschheit und ohne den freien Bürger kein
freier Mensch. Ein Mensch ist selten so erhaben, daß er äußere Knecht-
schaft und Verachtung dulden kann ohne schlechter zu werden; ein Volk
ist es nie." Verwandte Stimmungen regten sich auch in der Berliner
literarischen Jugend; seit den unseligen Ansbacher Händeln wollte das
alte behagliche Selbstgefühl nicht wiederkehren. In den Kreisen Schleier-
machers träumte man gern von einem nordischen Bunde, der durch Ver-
kehrsfreiheit und gemeinsames Heerwesen die Deutschen des Nordens wieder
zu Brüdern machen sollte.

Eben diesen Gedanken, den einzigen der noch Rettung verhieß, hatte
die preußische Regierung selbst soeben aufgenommen. Während das heilige
Reich unterging, der Süden und Westen sich der französischen Herrschaft
beugten, unternahm König Friedrich Wilhelm -- so sagte nachher sein
Kriegsmanifest -- die letzten Deutschen unter Preußens Fahnen zu ver-
sammeln. Vor zwei Jahren hatte er die norddeutsche Kaiserkrone, die
ihm Napoleon anbieten ließ, rundweg zurückgewiesen weil er den Geschenken
der Danaer mißtraute, und mit aufrichtigem Bedauern sah er jetzt das
Reich zu Grunde gehen. Erst als die alte Rechtsgemeinschaft der deutschen
Nation sich völlig auflöste, entschloß sich der gewissenhafte Fürst, jene bün-
dischen Reformpläne, die seit dem Fürstenbunde am Berliner Hofe immer
wieder aufgetaucht waren, endlich durchzuführen, und der Schirmherrschaft

Palm. Gentz. Arndt.
entſann ſich ſeines Vaterlandes. Während des Krieges von 1805 ſchrieb
er den erſten Theil des „Geiſtes der Zeit“, und ſeitdem blieb er ſeinem
unglücklichen Volke unerſchütterlich als ein getreuer Eckart, ein Wecker
der Gewiſſen zur Seite. Weder Gentzens umfaſſende Sachkenntniß, noch
die ſtahlharte Schärfe und die bewußte Berechnung des großen Publi-
ciſten ſtanden ihm zu Gebote; ein Kind der Natur wie er war brauchte
er langer Jahre um die landſchaftlichen Vorurtheile ſeiner ſchwediſch-
pommerſchen Heimath zu überwinden: die unklare Begeiſterung für das
Land der Wälder und der Freiheit, Skandinavien, und den Widerwillen
gegen dies ärmlich nüchterne Preußen, das mit ſeinem verſtandeskalten
Friedrich doch allein die Spaltung Deutſchlands verſchuldet habe. Aber
friſch und kräftig, wie die Wogen ſeines heimiſchen Meeres, mit einer ur-
ſprünglichen, unmittelbaren Macht der Empfindung, die ſo keinem anderen
politiſchen Schriftſteller jener Tage gegeben war, ſtrömte ihm die Rede aus
dem übervollen liebeglühenden Herzen; jedes Wort war treu, muthig, wahr-
haft wie die tiefen blauen Augen des ewig jugendlichen Mannes. Während
die hart politiſchen Gedanken des Wiener Publiciſten nur von Wenigen in
dieſem ſtaatloſen Geſchlechte verſtanden wurden, ſchloß Arndt ſein Buch
mit dem kindlichen Ausruf: „ich liebe die Menſchen“; er ergriff die Ge-
müther, weil er die Politik von der menſchlichen Seite nahm. Er zuerſt
erkannte und ſtrafte die ſittlichen Schäden der geiſtigen Ueberbildung und
rief dem klugen Jahrhundert zu: beſſer iſt Leben als vom Leben ſchwatzen.
„Ohne das Volk iſt keine Menſchheit und ohne den freien Bürger kein
freier Menſch. Ein Menſch iſt ſelten ſo erhaben, daß er äußere Knecht-
ſchaft und Verachtung dulden kann ohne ſchlechter zu werden; ein Volk
iſt es nie.“ Verwandte Stimmungen regten ſich auch in der Berliner
literariſchen Jugend; ſeit den unſeligen Ansbacher Händeln wollte das
alte behagliche Selbſtgefühl nicht wiederkehren. In den Kreiſen Schleier-
machers träumte man gern von einem nordiſchen Bunde, der durch Ver-
kehrsfreiheit und gemeinſames Heerweſen die Deutſchen des Nordens wieder
zu Brüdern machen ſollte.

Eben dieſen Gedanken, den einzigen der noch Rettung verhieß, hatte
die preußiſche Regierung ſelbſt ſoeben aufgenommen. Während das heilige
Reich unterging, der Süden und Weſten ſich der franzöſiſchen Herrſchaft
beugten, unternahm König Friedrich Wilhelm — ſo ſagte nachher ſein
Kriegsmanifeſt — die letzten Deutſchen unter Preußens Fahnen zu ver-
ſammeln. Vor zwei Jahren hatte er die norddeutſche Kaiſerkrone, die
ihm Napoleon anbieten ließ, rundweg zurückgewieſen weil er den Geſchenken
der Danaer mißtraute, und mit aufrichtigem Bedauern ſah er jetzt das
Reich zu Grunde gehen. Erſt als die alte Rechtsgemeinſchaft der deutſchen
Nation ſich völlig auflöſte, entſchloß ſich der gewiſſenhafte Fürſt, jene bün-
diſchen Reformpläne, die ſeit dem Fürſtenbunde am Berliner Hofe immer
wieder aufgetaucht waren, endlich durchzuführen, und der Schirmherrſchaft

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[237/0253] Palm. Gentz. Arndt. entſann ſich ſeines Vaterlandes. Während des Krieges von 1805 ſchrieb er den erſten Theil des „Geiſtes der Zeit“, und ſeitdem blieb er ſeinem unglücklichen Volke unerſchütterlich als ein getreuer Eckart, ein Wecker der Gewiſſen zur Seite. Weder Gentzens umfaſſende Sachkenntniß, noch die ſtahlharte Schärfe und die bewußte Berechnung des großen Publi- ciſten ſtanden ihm zu Gebote; ein Kind der Natur wie er war brauchte er langer Jahre um die landſchaftlichen Vorurtheile ſeiner ſchwediſch- pommerſchen Heimath zu überwinden: die unklare Begeiſterung für das Land der Wälder und der Freiheit, Skandinavien, und den Widerwillen gegen dies ärmlich nüchterne Preußen, das mit ſeinem verſtandeskalten Friedrich doch allein die Spaltung Deutſchlands verſchuldet habe. Aber friſch und kräftig, wie die Wogen ſeines heimiſchen Meeres, mit einer ur- ſprünglichen, unmittelbaren Macht der Empfindung, die ſo keinem anderen politiſchen Schriftſteller jener Tage gegeben war, ſtrömte ihm die Rede aus dem übervollen liebeglühenden Herzen; jedes Wort war treu, muthig, wahr- haft wie die tiefen blauen Augen des ewig jugendlichen Mannes. Während die hart politiſchen Gedanken des Wiener Publiciſten nur von Wenigen in dieſem ſtaatloſen Geſchlechte verſtanden wurden, ſchloß Arndt ſein Buch mit dem kindlichen Ausruf: „ich liebe die Menſchen“; er ergriff die Ge- müther, weil er die Politik von der menſchlichen Seite nahm. Er zuerſt erkannte und ſtrafte die ſittlichen Schäden der geiſtigen Ueberbildung und rief dem klugen Jahrhundert zu: beſſer iſt Leben als vom Leben ſchwatzen. „Ohne das Volk iſt keine Menſchheit und ohne den freien Bürger kein freier Menſch. Ein Menſch iſt ſelten ſo erhaben, daß er äußere Knecht- ſchaft und Verachtung dulden kann ohne ſchlechter zu werden; ein Volk iſt es nie.“ Verwandte Stimmungen regten ſich auch in der Berliner literariſchen Jugend; ſeit den unſeligen Ansbacher Händeln wollte das alte behagliche Selbſtgefühl nicht wiederkehren. In den Kreiſen Schleier- machers träumte man gern von einem nordiſchen Bunde, der durch Ver- kehrsfreiheit und gemeinſames Heerweſen die Deutſchen des Nordens wieder zu Brüdern machen ſollte. Eben dieſen Gedanken, den einzigen der noch Rettung verhieß, hatte die preußiſche Regierung ſelbſt ſoeben aufgenommen. Während das heilige Reich unterging, der Süden und Weſten ſich der franzöſiſchen Herrſchaft beugten, unternahm König Friedrich Wilhelm — ſo ſagte nachher ſein Kriegsmanifeſt — die letzten Deutſchen unter Preußens Fahnen zu ver- ſammeln. Vor zwei Jahren hatte er die norddeutſche Kaiſerkrone, die ihm Napoleon anbieten ließ, rundweg zurückgewieſen weil er den Geſchenken der Danaer mißtraute, und mit aufrichtigem Bedauern ſah er jetzt das Reich zu Grunde gehen. Erſt als die alte Rechtsgemeinſchaft der deutſchen Nation ſich völlig auflöſte, entſchloß ſich der gewiſſenhafte Fürſt, jene bün- diſchen Reformpläne, die ſeit dem Fürſtenbunde am Berliner Hofe immer wieder aufgetaucht waren, endlich durchzuführen, und der Schirmherrſchaft

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/253>, abgerufen am 22.11.2024.