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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
liefern. Auf diese Nachricht schrieb Friedrich Wilhelm sofort (9. August)
an den Czaren: "wenn Napoleon mit London über Hannover verhandelt,
so will er mich verderben." Der König sah voraus, daß binnen Kurzem
der unwürdige Zustand vom Februar sich erneuern mußte, daß Preußen nur
noch die Wahl hatte abermals eine schimpfliche Beraubung schweigend zu
ertragen oder den Einbruch der großen Armee mit den Waffen abzuweisen.
Darum wurde das preußische Heer auf Kriegsfuß gesetzt und im Magde-
burgischen versammelt. Mit diesem Schritte berechtigter Nothwehr war
der Krieg entschieden. Denn obwohl Frankreichs Verhandlungen mit Eng-
land sich zerschlugen und der geplante Handel mit Hannover vorläufig
nicht zu Stande kam, so stand doch, nach den geheimen Umtrieben der
französischen Diplomatie in Dresden und Cassel, mit voller Sicherheit zu
erwarten, daß Napoleon freudig den bequemen Anlaß benutzen werde,
um den einzigen Staat niederzuwerfen, der noch die Ausbreitung des
Rheinbundes über das gesammte Deutschland verhinderte. Der König
mußte gewärtig sein, daß in den nächsten Tagen schon Frankreich drohend
die Abrüstung des preußischen Heeres und die Auflösung des werdenden
Norddeutschen Bundes forderte. Mit vollem Rechte schrieb er seinem
russischen Freunde: der Friede sei nur noch unter zwei Bedingungen mög-
lich, wenn Napoleon seine Truppen aus Deutschland zurückziehe und sich
verpflichte, dem Norddeutschen Bunde nichts mehr in den Weg zu legen;
es bleibe nichts mehr übrig als der Krieg, denn wer könne diesem Manne
Gesetze vorschreiben?

Wenn der Imperator gleichwohl mit seinen letzten Forderungen nicht
sofort heraustrat, so geschah es nur, weil er vorerst den Erfolg der
mit Rußland eingeleiteten Friedensverhandlungen abwarten wollte. Mit
vollendeter Umsicht, jeden Schritt berechnend, betrieb er seit Monaten die
diplomatischen und militärischen Vorbereitungen für den preußischen Krieg;
keinen andern seiner Eroberungszüge hatte er je so behutsam eingeleitet,
denn er dachte noch immer hoch von dem fridericianischen Heere. Es
gelang ihm, den Gegner von den anderen Großmächten fast völlig zu
trennen, und er hielt sein Spiel so wohl verdeckt, daß Mit- und Nach-
welt ihm die Lüge glaubte, dieser dem preußischen Staate aufgezwungene
Vertheidigungskrieg sei durch einen verzweifelten Entschluß des Königs
muthwillig vom Zaune gebrochen worden. Das Märchen fand in Preußen
selbst Anklang, da nach dem unheilvollen Verlaufe des Waffenganges
Jedermann die Politik von 1806 verwünschte.

Durch die Abtretung Hannovers hatte Napoleon den preußischen Hof
mit England verfeindet; nun beredete er den russischen Bevollmächtigten
Oubril zum Abschluß eines Sonderfriedens. Versagte der Czar dem
eigenmächtigen Schritte seines Gesandten die Genehmigung, so lag noch
eine andere Waffe bereit, die den Petersburger Hof von dem preußischen
Kriege fern halten sollte. Schon im August ging der Corse Sebastiani

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
liefern. Auf dieſe Nachricht ſchrieb Friedrich Wilhelm ſofort (9. Auguſt)
an den Czaren: „wenn Napoleon mit London über Hannover verhandelt,
ſo will er mich verderben.“ Der König ſah voraus, daß binnen Kurzem
der unwürdige Zuſtand vom Februar ſich erneuern mußte, daß Preußen nur
noch die Wahl hatte abermals eine ſchimpfliche Beraubung ſchweigend zu
ertragen oder den Einbruch der großen Armee mit den Waffen abzuweiſen.
Darum wurde das preußiſche Heer auf Kriegsfuß geſetzt und im Magde-
burgiſchen verſammelt. Mit dieſem Schritte berechtigter Nothwehr war
der Krieg entſchieden. Denn obwohl Frankreichs Verhandlungen mit Eng-
land ſich zerſchlugen und der geplante Handel mit Hannover vorläufig
nicht zu Stande kam, ſo ſtand doch, nach den geheimen Umtrieben der
franzöſiſchen Diplomatie in Dresden und Caſſel, mit voller Sicherheit zu
erwarten, daß Napoleon freudig den bequemen Anlaß benutzen werde,
um den einzigen Staat niederzuwerfen, der noch die Ausbreitung des
Rheinbundes über das geſammte Deutſchland verhinderte. Der König
mußte gewärtig ſein, daß in den nächſten Tagen ſchon Frankreich drohend
die Abrüſtung des preußiſchen Heeres und die Auflöſung des werdenden
Norddeutſchen Bundes forderte. Mit vollem Rechte ſchrieb er ſeinem
ruſſiſchen Freunde: der Friede ſei nur noch unter zwei Bedingungen mög-
lich, wenn Napoleon ſeine Truppen aus Deutſchland zurückziehe und ſich
verpflichte, dem Norddeutſchen Bunde nichts mehr in den Weg zu legen;
es bleibe nichts mehr übrig als der Krieg, denn wer könne dieſem Manne
Geſetze vorſchreiben?

Wenn der Imperator gleichwohl mit ſeinen letzten Forderungen nicht
ſofort heraustrat, ſo geſchah es nur, weil er vorerſt den Erfolg der
mit Rußland eingeleiteten Friedensverhandlungen abwarten wollte. Mit
vollendeter Umſicht, jeden Schritt berechnend, betrieb er ſeit Monaten die
diplomatiſchen und militäriſchen Vorbereitungen für den preußiſchen Krieg;
keinen andern ſeiner Eroberungszüge hatte er je ſo behutſam eingeleitet,
denn er dachte noch immer hoch von dem fridericianiſchen Heere. Es
gelang ihm, den Gegner von den anderen Großmächten faſt völlig zu
trennen, und er hielt ſein Spiel ſo wohl verdeckt, daß Mit- und Nach-
welt ihm die Lüge glaubte, dieſer dem preußiſchen Staate aufgezwungene
Vertheidigungskrieg ſei durch einen verzweifelten Entſchluß des Königs
muthwillig vom Zaune gebrochen worden. Das Märchen fand in Preußen
ſelbſt Anklang, da nach dem unheilvollen Verlaufe des Waffenganges
Jedermann die Politik von 1806 verwünſchte.

Durch die Abtretung Hannovers hatte Napoleon den preußiſchen Hof
mit England verfeindet; nun beredete er den ruſſiſchen Bevollmächtigten
Oubril zum Abſchluß eines Sonderfriedens. Verſagte der Czar dem
eigenmächtigen Schritte ſeines Geſandten die Genehmigung, ſo lag noch
eine andere Waffe bereit, die den Petersburger Hof von dem preußiſchen
Kriege fern halten ſollte. Schon im Auguſt ging der Corſe Sebaſtiani

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[242/0258] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. liefern. Auf dieſe Nachricht ſchrieb Friedrich Wilhelm ſofort (9. Auguſt) an den Czaren: „wenn Napoleon mit London über Hannover verhandelt, ſo will er mich verderben.“ Der König ſah voraus, daß binnen Kurzem der unwürdige Zuſtand vom Februar ſich erneuern mußte, daß Preußen nur noch die Wahl hatte abermals eine ſchimpfliche Beraubung ſchweigend zu ertragen oder den Einbruch der großen Armee mit den Waffen abzuweiſen. Darum wurde das preußiſche Heer auf Kriegsfuß geſetzt und im Magde- burgiſchen verſammelt. Mit dieſem Schritte berechtigter Nothwehr war der Krieg entſchieden. Denn obwohl Frankreichs Verhandlungen mit Eng- land ſich zerſchlugen und der geplante Handel mit Hannover vorläufig nicht zu Stande kam, ſo ſtand doch, nach den geheimen Umtrieben der franzöſiſchen Diplomatie in Dresden und Caſſel, mit voller Sicherheit zu erwarten, daß Napoleon freudig den bequemen Anlaß benutzen werde, um den einzigen Staat niederzuwerfen, der noch die Ausbreitung des Rheinbundes über das geſammte Deutſchland verhinderte. Der König mußte gewärtig ſein, daß in den nächſten Tagen ſchon Frankreich drohend die Abrüſtung des preußiſchen Heeres und die Auflöſung des werdenden Norddeutſchen Bundes forderte. Mit vollem Rechte ſchrieb er ſeinem ruſſiſchen Freunde: der Friede ſei nur noch unter zwei Bedingungen mög- lich, wenn Napoleon ſeine Truppen aus Deutſchland zurückziehe und ſich verpflichte, dem Norddeutſchen Bunde nichts mehr in den Weg zu legen; es bleibe nichts mehr übrig als der Krieg, denn wer könne dieſem Manne Geſetze vorſchreiben? Wenn der Imperator gleichwohl mit ſeinen letzten Forderungen nicht ſofort heraustrat, ſo geſchah es nur, weil er vorerſt den Erfolg der mit Rußland eingeleiteten Friedensverhandlungen abwarten wollte. Mit vollendeter Umſicht, jeden Schritt berechnend, betrieb er ſeit Monaten die diplomatiſchen und militäriſchen Vorbereitungen für den preußiſchen Krieg; keinen andern ſeiner Eroberungszüge hatte er je ſo behutſam eingeleitet, denn er dachte noch immer hoch von dem fridericianiſchen Heere. Es gelang ihm, den Gegner von den anderen Großmächten faſt völlig zu trennen, und er hielt ſein Spiel ſo wohl verdeckt, daß Mit- und Nach- welt ihm die Lüge glaubte, dieſer dem preußiſchen Staate aufgezwungene Vertheidigungskrieg ſei durch einen verzweifelten Entſchluß des Königs muthwillig vom Zaune gebrochen worden. Das Märchen fand in Preußen ſelbſt Anklang, da nach dem unheilvollen Verlaufe des Waffenganges Jedermann die Politik von 1806 verwünſchte. Durch die Abtretung Hannovers hatte Napoleon den preußiſchen Hof mit England verfeindet; nun beredete er den ruſſiſchen Bevollmächtigten Oubril zum Abſchluß eines Sonderfriedens. Verſagte der Czar dem eigenmächtigen Schritte ſeines Geſandten die Genehmigung, ſo lag noch eine andere Waffe bereit, die den Petersburger Hof von dem preußiſchen Kriege fern halten ſollte. Schon im Auguſt ging der Corſe Sebaſtiani

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/258>, abgerufen am 22.11.2024.