Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. an dem geheimen Argwohne, daß in diesem Staate, trotz aller Schmachund Thorheit der jüngsten Wochen, doch eine unzähmbare Willenskraft schlummere, wie sie dem Imperator auf dem Festlande noch nie begegnet war. Was der preußische Soldat unter kräftiger Führung zu leisten ver- mochte, das lehrte der Rückzug des Blücherschen Corps; in diesen Kämpfen wurden mehrere jener Helden, welche dereinst eine neue bessere Zeit über den Staat heraufführen sollten, zuerst bei Freund und Feind bekannt. Blücher ging mit den Ueberresten der Reservearmee und einigen anderen Truppen im Magdeburgischen über die Elbe um das Hohenlohische Corps zu erreichen, und Oberst York mit seinen Jägern wehrte dem nachrückenden Feinde viele Stunden lang den Uebergang über den Fluß in dem glänzenden Gefechte von Altenzaun. Als die Vereinigung mit Hohenlohe durch die Nachricht von der Prenzlauer Capitulation vereitelt wurde, faßte Scharnhorst den verwegenen Plan sich gegen Flanke und Rücken der Franzosen zu wenden, damit ein Theil des feindlichen Heeres von den Marken hinweggezogen würde. Die kleine Schaar warf sich nach Mecklenburg, und es gelang ihr wirklich, drei französische Armeecorps hinter sich herzulocken. Inmitten der Sorgen und Nöthe dieses harten Rückzugs stiegen in Scharnhorsts freier Seele schon die ersten schöpferischen Gedanken der Heeresreform auf: mit überzeugender Klarheit erörterte er in Gadebusch, in einem Gespräche mit Müffling: wie die Theilnahmlosigkeit des gemeinen Soldaten unter den niederschlagenden Erfahrungen der letzten Wochen doch die schwerste, der letzte Grund alles Unglücks sei, und wie es jetzt gelte die Armee also umzugestalten, daß sie sich eins wisse mit dem Vaterlande. *) Dann kämpfte das Corps noch mit verzweifeltem Muthe an den Thoren und in den Straßen Lübecks gegen die Uebermacht des Feindes; erst als alle Munition und aller Proviant verloren, jeder Widerstand unmöglich war, legte Blücher bei Rattkau die Waffen nieder. Es waren Kämpfe voll Heldenzornes, wie sie der elende Feldzug von 1805 nie gesehen; und ganz anders als die gedankenlose Neugierde der Wiener erschien auch die würdige Haltung der großen Mehrheit des Berliner Volkes beim Einzuge Napoleons. So hatte noch Niemand zu dem Imperator geredet wie jener ehrwürdige Prediger Erman, der bei der Begrüßung am Thore rund her- aus sagte, ein Diener des Evangeliums dürfe nicht die Lüge aussprechen, daß er sich freue über den Einzug des Feindes. Die schonungslose Wahrhaftigkeit des Krieges vernichtete die Phrasen *) So erzählt Müffling in einer Denkschrift über die Landwehr, die er am 12. Juli
1821 an Hardenberg übersendete. I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. an dem geheimen Argwohne, daß in dieſem Staate, trotz aller Schmachund Thorheit der jüngſten Wochen, doch eine unzähmbare Willenskraft ſchlummere, wie ſie dem Imperator auf dem Feſtlande noch nie begegnet war. Was der preußiſche Soldat unter kräftiger Führung zu leiſten ver- mochte, das lehrte der Rückzug des Blücherſchen Corps; in dieſen Kämpfen wurden mehrere jener Helden, welche dereinſt eine neue beſſere Zeit über den Staat heraufführen ſollten, zuerſt bei Freund und Feind bekannt. Blücher ging mit den Ueberreſten der Reſervearmee und einigen anderen Truppen im Magdeburgiſchen über die Elbe um das Hohenlohiſche Corps zu erreichen, und Oberſt York mit ſeinen Jägern wehrte dem nachrückenden Feinde viele Stunden lang den Uebergang über den Fluß in dem glänzenden Gefechte von Altenzaun. Als die Vereinigung mit Hohenlohe durch die Nachricht von der Prenzlauer Capitulation vereitelt wurde, faßte Scharnhorſt den verwegenen Plan ſich gegen Flanke und Rücken der Franzoſen zu wenden, damit ein Theil des feindlichen Heeres von den Marken hinweggezogen würde. Die kleine Schaar warf ſich nach Mecklenburg, und es gelang ihr wirklich, drei franzöſiſche Armeecorps hinter ſich herzulocken. Inmitten der Sorgen und Nöthe dieſes harten Rückzugs ſtiegen in Scharnhorſts freier Seele ſchon die erſten ſchöpferiſchen Gedanken der Heeresreform auf: mit überzeugender Klarheit erörterte er in Gadebuſch, in einem Geſpräche mit Müffling: wie die Theilnahmloſigkeit des gemeinen Soldaten unter den niederſchlagenden Erfahrungen der letzten Wochen doch die ſchwerſte, der letzte Grund alles Unglücks ſei, und wie es jetzt gelte die Armee alſo umzugeſtalten, daß ſie ſich eins wiſſe mit dem Vaterlande. *) Dann kämpfte das Corps noch mit verzweifeltem Muthe an den Thoren und in den Straßen Lübecks gegen die Uebermacht des Feindes; erſt als alle Munition und aller Proviant verloren, jeder Widerſtand unmöglich war, legte Blücher bei Rattkau die Waffen nieder. Es waren Kämpfe voll Heldenzornes, wie ſie der elende Feldzug von 1805 nie geſehen; und ganz anders als die gedankenloſe Neugierde der Wiener erſchien auch die würdige Haltung der großen Mehrheit des Berliner Volkes beim Einzuge Napoleons. So hatte noch Niemand zu dem Imperator geredet wie jener ehrwürdige Prediger Erman, der bei der Begrüßung am Thore rund her- aus ſagte, ein Diener des Evangeliums dürfe nicht die Lüge ausſprechen, daß er ſich freue über den Einzug des Feindes. Die ſchonungsloſe Wahrhaftigkeit des Krieges vernichtete die Phraſen *) So erzählt Müffling in einer Denkſchrift über die Landwehr, die er am 12. Juli
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I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
an dem geheimen Argwohne, daß in dieſem Staate, trotz aller Schmach
und Thorheit der jüngſten Wochen, doch eine unzähmbare Willenskraft
ſchlummere, wie ſie dem Imperator auf dem Feſtlande noch nie begegnet
war. Was der preußiſche Soldat unter kräftiger Führung zu leiſten ver-
mochte, das lehrte der Rückzug des Blücherſchen Corps; in dieſen Kämpfen
wurden mehrere jener Helden, welche dereinſt eine neue beſſere Zeit über den
Staat heraufführen ſollten, zuerſt bei Freund und Feind bekannt. Blücher
ging mit den Ueberreſten der Reſervearmee und einigen anderen Truppen im
Magdeburgiſchen über die Elbe um das Hohenlohiſche Corps zu erreichen,
und Oberſt York mit ſeinen Jägern wehrte dem nachrückenden Feinde viele
Stunden lang den Uebergang über den Fluß in dem glänzenden Gefechte
von Altenzaun. Als die Vereinigung mit Hohenlohe durch die Nachricht
von der Prenzlauer Capitulation vereitelt wurde, faßte Scharnhorſt den
verwegenen Plan ſich gegen Flanke und Rücken der Franzoſen zu wenden,
damit ein Theil des feindlichen Heeres von den Marken hinweggezogen
würde. Die kleine Schaar warf ſich nach Mecklenburg, und es gelang
ihr wirklich, drei franzöſiſche Armeecorps hinter ſich herzulocken. Inmitten
der Sorgen und Nöthe dieſes harten Rückzugs ſtiegen in Scharnhorſts
freier Seele ſchon die erſten ſchöpferiſchen Gedanken der Heeresreform auf:
mit überzeugender Klarheit erörterte er in Gadebuſch, in einem Geſpräche
mit Müffling: wie die Theilnahmloſigkeit des gemeinen Soldaten unter
den niederſchlagenden Erfahrungen der letzten Wochen doch die ſchwerſte,
der letzte Grund alles Unglücks ſei, und wie es jetzt gelte die Armee alſo
umzugeſtalten, daß ſie ſich eins wiſſe mit dem Vaterlande. *) Dann
kämpfte das Corps noch mit verzweifeltem Muthe an den Thoren und in
den Straßen Lübecks gegen die Uebermacht des Feindes; erſt als alle
Munition und aller Proviant verloren, jeder Widerſtand unmöglich war,
legte Blücher bei Rattkau die Waffen nieder. Es waren Kämpfe voll
Heldenzornes, wie ſie der elende Feldzug von 1805 nie geſehen; und
ganz anders als die gedankenloſe Neugierde der Wiener erſchien auch die
würdige Haltung der großen Mehrheit des Berliner Volkes beim Einzuge
Napoleons. So hatte noch Niemand zu dem Imperator geredet wie jener
ehrwürdige Prediger Erman, der bei der Begrüßung am Thore rund her-
aus ſagte, ein Diener des Evangeliums dürfe nicht die Lüge ausſprechen,
daß er ſich freue über den Einzug des Feindes.
Die ſchonungsloſe Wahrhaftigkeit des Krieges vernichtete die Phraſen
der aufgeklärten Eitelkeit, zerſtörte jene Traumwelt des Verſtandes, worin
die großſtädtiſche Ueberbildung ſich zu verlieren pflegt, und zwang die er-
ſchlafften Gemüther wieder aus Herzensgrunde zu haſſen und zu lieben.
Mit dem Wohlleben der geiſtreichen Geſelligkeit ging auch die papierene
*) So erzählt Müffling in einer Denkſchrift über die Landwehr, die er am 12. Juli
1821 an Hardenberg überſendete.
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