Derweil Preußens deutsche Bundesgenossen abfielen, ereilte den un- glücklichen Staat zugleich die Vergeltung für die Theilung Polens. Diese slavischen Gebiete, die während des letzten Jahrzehnts die innere Entwick- lung der Monarchie ins Stocken gebracht hatten, erwiesen sich im Augen- blicke der Gefahr als ein unhaltbarer Besitz. Vier Wochen nach der Jenaer Schlacht erhob Dombrowsky in Posen das Banner der Empörung, der gesammte Adel eilte den Fahnen des weißen Adlers zu, und bald er- griff der Aufruhr alle Lande, die durch die beiden letzten Theilungen an Preußen gelangt waren. Dem Könige war es ein Herzensbedürfniß von seinen Unterthanen geliebt zu werden; er ahnte, daß sittliche Bande den Staat zusammenhalten. Der Anblick des großen Abfalls erfüllte sein Gemüth mit tiefer Erbitterung, doch erkannte er nüchtern, wie unhemm- bar diese nationale Bewegung dahinfluthete, und ließ sich nicht ein auf die phantastischen Vorschläge des Fürsten Radziwill, der von einer roya- listischen Gegenbewegung träumte. Dem Imperator kam die Erhebung der alten Bundesgenossen Frankreichs hochwillkommen; eifrig ermuthigte er den Aufruhr, ließ Waffen an die Empörer vertheilen, die Polen in den preußi- schen Regimentern zur Desertion verleiten, rühmte in seinen Bulletins, wie dies Volk sich in wahrhaft interessanten Farben zeige. Dabei hütete er sich wohl den Polen eine feste Zusage zu geben; kalt und sicher durch- schaute er diese sarmatischen Junker, ihre brausende Tapferkeit, aber auch ihren Leichtsinn, ihre Selbstsucht, ihre politische Unfähigkeit. Das Land war ihm werthvoll als ein Lager streitbarer Hilfstruppen und als ein Mittel um die längst geplante Demüthigung Rußlands vorzubereiten; je nach Umständen behielt er sich vor, den Polen wieder den Schein politischer Selbständigkeit zu gewähren.
Der polnische Aufstand nöthigte den Czaren, die Unterstützung, die er seinem preußischen Freunde zugesagt, jetzt endlich zu leisten. Aber nicht als ein Hilfsheer, wie man im Herbst angenommen, erschien die russische Armee auf preußischem Boden; sie hatte die Hauptlast des Kampfes zu tragen, und schwer rächte sich jetzt der leichtsinnig begonnene Türkenkrieg, denn nur ein Theil der russischen Streitkräfte war für Preußen verfügbar. In dem unglücklichen Grenzlande erneuerten sich die Schrecken des sieben- jährigen Krieges. Bald wurde die zuchtlose Roheit der russischen Freunde dem ausgeplünderten preußischen Landmanne noch verhaßter als die Wuth des Feindes; dazu die kopflose Heeresleitung der Russen und der unerträg- liche Uebermuth ihrer Offiziere gegen das tapfere kleine preußische Corps des Generals Lestocq. Trotzdem hat dieser Feldzug, wie er sich viele Monate lang unentschieden durch die verödeten Ebenen Polens und Preußens fortschleppte, zum ersten male die feste Siegeszuversicht des napoleonischen Heeres ins Wanken gebracht. Der an rasche Erfolge und reiche Beute, an das Wohlleben der Weinlande des Südens gewöhnte Soldat begann zu murren und fragte, ob der Unersättliche des Schlachtens gar kein Ende
Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 17
Abfall der Polen.
Derweil Preußens deutſche Bundesgenoſſen abfielen, ereilte den un- glücklichen Staat zugleich die Vergeltung für die Theilung Polens. Dieſe ſlaviſchen Gebiete, die während des letzten Jahrzehnts die innere Entwick- lung der Monarchie ins Stocken gebracht hatten, erwieſen ſich im Augen- blicke der Gefahr als ein unhaltbarer Beſitz. Vier Wochen nach der Jenaer Schlacht erhob Dombrowsky in Poſen das Banner der Empörung, der geſammte Adel eilte den Fahnen des weißen Adlers zu, und bald er- griff der Aufruhr alle Lande, die durch die beiden letzten Theilungen an Preußen gelangt waren. Dem Könige war es ein Herzensbedürfniß von ſeinen Unterthanen geliebt zu werden; er ahnte, daß ſittliche Bande den Staat zuſammenhalten. Der Anblick des großen Abfalls erfüllte ſein Gemüth mit tiefer Erbitterung, doch erkannte er nüchtern, wie unhemm- bar dieſe nationale Bewegung dahinfluthete, und ließ ſich nicht ein auf die phantaſtiſchen Vorſchläge des Fürſten Radziwill, der von einer roya- liſtiſchen Gegenbewegung träumte. Dem Imperator kam die Erhebung der alten Bundesgenoſſen Frankreichs hochwillkommen; eifrig ermuthigte er den Aufruhr, ließ Waffen an die Empörer vertheilen, die Polen in den preußi- ſchen Regimentern zur Deſertion verleiten, rühmte in ſeinen Bulletins, wie dies Volk ſich in wahrhaft intereſſanten Farben zeige. Dabei hütete er ſich wohl den Polen eine feſte Zuſage zu geben; kalt und ſicher durch- ſchaute er dieſe ſarmatiſchen Junker, ihre brauſende Tapferkeit, aber auch ihren Leichtſinn, ihre Selbſtſucht, ihre politiſche Unfähigkeit. Das Land war ihm werthvoll als ein Lager ſtreitbarer Hilfstruppen und als ein Mittel um die längſt geplante Demüthigung Rußlands vorzubereiten; je nach Umſtänden behielt er ſich vor, den Polen wieder den Schein politiſcher Selbſtändigkeit zu gewähren.
Der polniſche Aufſtand nöthigte den Czaren, die Unterſtützung, die er ſeinem preußiſchen Freunde zugeſagt, jetzt endlich zu leiſten. Aber nicht als ein Hilfsheer, wie man im Herbſt angenommen, erſchien die ruſſiſche Armee auf preußiſchem Boden; ſie hatte die Hauptlaſt des Kampfes zu tragen, und ſchwer rächte ſich jetzt der leichtſinnig begonnene Türkenkrieg, denn nur ein Theil der ruſſiſchen Streitkräfte war für Preußen verfügbar. In dem unglücklichen Grenzlande erneuerten ſich die Schrecken des ſieben- jährigen Krieges. Bald wurde die zuchtloſe Roheit der ruſſiſchen Freunde dem ausgeplünderten preußiſchen Landmanne noch verhaßter als die Wuth des Feindes; dazu die kopfloſe Heeresleitung der Ruſſen und der unerträg- liche Uebermuth ihrer Offiziere gegen das tapfere kleine preußiſche Corps des Generals Leſtocq. Trotzdem hat dieſer Feldzug, wie er ſich viele Monate lang unentſchieden durch die verödeten Ebenen Polens und Preußens fortſchleppte, zum erſten male die feſte Siegeszuverſicht des napoleoniſchen Heeres ins Wanken gebracht. Der an raſche Erfolge und reiche Beute, an das Wohlleben der Weinlande des Südens gewöhnte Soldat begann zu murren und fragte, ob der Unerſättliche des Schlachtens gar kein Ende
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 17
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Abfall der Polen.
Derweil Preußens deutſche Bundesgenoſſen abfielen, ereilte den un-
glücklichen Staat zugleich die Vergeltung für die Theilung Polens. Dieſe
ſlaviſchen Gebiete, die während des letzten Jahrzehnts die innere Entwick-
lung der Monarchie ins Stocken gebracht hatten, erwieſen ſich im Augen-
blicke der Gefahr als ein unhaltbarer Beſitz. Vier Wochen nach der Jenaer
Schlacht erhob Dombrowsky in Poſen das Banner der Empörung, der
geſammte Adel eilte den Fahnen des weißen Adlers zu, und bald er-
griff der Aufruhr alle Lande, die durch die beiden letzten Theilungen an
Preußen gelangt waren. Dem Könige war es ein Herzensbedürfniß von
ſeinen Unterthanen geliebt zu werden; er ahnte, daß ſittliche Bande den
Staat zuſammenhalten. Der Anblick des großen Abfalls erfüllte ſein
Gemüth mit tiefer Erbitterung, doch erkannte er nüchtern, wie unhemm-
bar dieſe nationale Bewegung dahinfluthete, und ließ ſich nicht ein auf
die phantaſtiſchen Vorſchläge des Fürſten Radziwill, der von einer roya-
liſtiſchen Gegenbewegung träumte. Dem Imperator kam die Erhebung der
alten Bundesgenoſſen Frankreichs hochwillkommen; eifrig ermuthigte er den
Aufruhr, ließ Waffen an die Empörer vertheilen, die Polen in den preußi-
ſchen Regimentern zur Deſertion verleiten, rühmte in ſeinen Bulletins,
wie dies Volk ſich in wahrhaft intereſſanten Farben zeige. Dabei hütete
er ſich wohl den Polen eine feſte Zuſage zu geben; kalt und ſicher durch-
ſchaute er dieſe ſarmatiſchen Junker, ihre brauſende Tapferkeit, aber auch
ihren Leichtſinn, ihre Selbſtſucht, ihre politiſche Unfähigkeit. Das Land
war ihm werthvoll als ein Lager ſtreitbarer Hilfstruppen und als ein
Mittel um die längſt geplante Demüthigung Rußlands vorzubereiten; je
nach Umſtänden behielt er ſich vor, den Polen wieder den Schein politiſcher
Selbſtändigkeit zu gewähren.
Der polniſche Aufſtand nöthigte den Czaren, die Unterſtützung, die
er ſeinem preußiſchen Freunde zugeſagt, jetzt endlich zu leiſten. Aber nicht
als ein Hilfsheer, wie man im Herbſt angenommen, erſchien die ruſſiſche
Armee auf preußiſchem Boden; ſie hatte die Hauptlaſt des Kampfes zu
tragen, und ſchwer rächte ſich jetzt der leichtſinnig begonnene Türkenkrieg,
denn nur ein Theil der ruſſiſchen Streitkräfte war für Preußen verfügbar.
In dem unglücklichen Grenzlande erneuerten ſich die Schrecken des ſieben-
jährigen Krieges. Bald wurde die zuchtloſe Roheit der ruſſiſchen Freunde
dem ausgeplünderten preußiſchen Landmanne noch verhaßter als die Wuth
des Feindes; dazu die kopfloſe Heeresleitung der Ruſſen und der unerträg-
liche Uebermuth ihrer Offiziere gegen das tapfere kleine preußiſche Corps des
Generals Leſtocq. Trotzdem hat dieſer Feldzug, wie er ſich viele Monate
lang unentſchieden durch die verödeten Ebenen Polens und Preußens
fortſchleppte, zum erſten male die feſte Siegeszuverſicht des napoleoniſchen
Heeres ins Wanken gebracht. Der an raſche Erfolge und reiche Beute, an
das Wohlleben der Weinlande des Südens gewöhnte Soldat begann zu
murren und fragte, ob der Unerſättliche des Schlachtens gar kein Ende
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 17
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/273>, abgerufen am 22.11.2024.
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