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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Preußens Verluste.
seine Fassung behaupten, da ihm aus Ostfriesland und Magdeburg, aus
Thorn und Westphalen, aus allen seinen verlorenen deutschen Landen
Briefe voll heißen Dankes, voll erschütternder Klagen zukamen; die treuen
Bauern der Grafschaft Mark schrieben in ihrem derben Platt: "das Herz
wollte uns brechen, als wir Deinen Abschied lasen; so wahr wir leben, es
ist nicht Deine Schuld!" Auch die deutschen Einwanderer in den polnischen
Provinzen schieden schweren Herzens von der alten Monarchie; einer der
ersten Grundherren dort zu Lande, ein Keudell, erschoß sich weil er unter
slavischer Herrschaft nicht leben wollte. Und wie furchtbar war das Land
verwüstet, das dem Könige noch blieb; ein einziges Jahr hatte die reiche
Friedensarbeit dreier Jahrzehnte zerstört. Erst seit diesem Kriege nahm das
häusliche Leben Norddeutschlands durchweg den Charakter kahler Dürftig-
keit an. Vorher hatten doch einige Zweige des Kunstgewerbes noch in
leidlicher Blüthe gestanden; jetzt erst kam die Zeit der allgemeinen Form-
und Geschmacklosigkeit. Das Elend verrieth sich überall: in den nüchternen
Bauten, dem häßlichen Geräth, der kargen Kost; ängstliche Sparsamkeit
bestimmte alle Gewohnheiten des Lebens. In dem unglücklichen Ost-
preußen lagen weite Landstriche wie ausgestorben, ganze Dorfschaften an
der Passarge waren verschwunden; die Prediger mahnten von der Kanzel:
wer da wolle möge ernten, daß nur das Korn nicht auf dem Halme ver-
derbe. Der Sieger aber sorgte auch nach dem Frieden mit peinlicher
Strenge für die Ausplünderung des verhaßten Landes. Alle Kranken aus
den Hospitälern in Warschau und Westphalen ließ er sofort nach Preußen
schaffen; wo eines seiner Regimenter abzog, wurden zuvor alle königlichen
Magazine und Vorräthe verkauft, bis herab zu den Beständen der Salz-
werke und der Porzellanfabrik. Keine Flinte, so befahl er, und kein
Pulverkorn darf im Lande verbleiben, auch nicht wenn die Preußen sie
baar bezahlen wollen; ich habe keinen Grund mehr Preußen zu schonen.
Gegen den klaren Wortlaut des Tilsiter Vertrages wurde Neu-Schlesien
sofort mit Warschau vereinigt; die Beschwerden des Königs, hieß es kurzab,
seien sinnlos, keiner Widerlegung werth.

Das Entsetzlichste blieb doch, daß mit allen diesen Opfern die Ruhe
des Friedens noch immer nicht erkauft war. Der preußische Bevollmäch-
tigte, Feldmarschall Kalkreuth, ein warmer Verehrer Napoleons, hatte die
Tilsiter Verhandlungen mit einem vertrauensvollen Leichtsinn geführt, der
alle militärischen Verdienste des Vertheidigers von Danzig in Schatten
stellte und von dem Staate hart gebüßt werden mußte. Die Räumung
des Landes und der Festungen sollte zwar bis zum 1. November erfolgen,
doch nur wenn zuvor die gesammte Kriegscontribution abgezahlt sei; und
da über den Betrag dieser Summe gar nichts Bestimmtes ausbedungen
war, so blieb nach wie vor fast das gesammte preußische Gebiet durch
Napoleons Heer besetzt. Also gewann der Imperator freie Hand für seine
iberischen Pläne, da die große Armee in Preußen die beiden Kaisermächte

Preußens Verluſte.
ſeine Faſſung behaupten, da ihm aus Oſtfriesland und Magdeburg, aus
Thorn und Weſtphalen, aus allen ſeinen verlorenen deutſchen Landen
Briefe voll heißen Dankes, voll erſchütternder Klagen zukamen; die treuen
Bauern der Grafſchaft Mark ſchrieben in ihrem derben Platt: „das Herz
wollte uns brechen, als wir Deinen Abſchied laſen; ſo wahr wir leben, es
iſt nicht Deine Schuld!“ Auch die deutſchen Einwanderer in den polniſchen
Provinzen ſchieden ſchweren Herzens von der alten Monarchie; einer der
erſten Grundherren dort zu Lande, ein Keudell, erſchoß ſich weil er unter
ſlaviſcher Herrſchaft nicht leben wollte. Und wie furchtbar war das Land
verwüſtet, das dem Könige noch blieb; ein einziges Jahr hatte die reiche
Friedensarbeit dreier Jahrzehnte zerſtört. Erſt ſeit dieſem Kriege nahm das
häusliche Leben Norddeutſchlands durchweg den Charakter kahler Dürftig-
keit an. Vorher hatten doch einige Zweige des Kunſtgewerbes noch in
leidlicher Blüthe geſtanden; jetzt erſt kam die Zeit der allgemeinen Form-
und Geſchmackloſigkeit. Das Elend verrieth ſich überall: in den nüchternen
Bauten, dem häßlichen Geräth, der kargen Koſt; ängſtliche Sparſamkeit
beſtimmte alle Gewohnheiten des Lebens. In dem unglücklichen Oſt-
preußen lagen weite Landſtriche wie ausgeſtorben, ganze Dorfſchaften an
der Paſſarge waren verſchwunden; die Prediger mahnten von der Kanzel:
wer da wolle möge ernten, daß nur das Korn nicht auf dem Halme ver-
derbe. Der Sieger aber ſorgte auch nach dem Frieden mit peinlicher
Strenge für die Ausplünderung des verhaßten Landes. Alle Kranken aus
den Hoſpitälern in Warſchau und Weſtphalen ließ er ſofort nach Preußen
ſchaffen; wo eines ſeiner Regimenter abzog, wurden zuvor alle königlichen
Magazine und Vorräthe verkauft, bis herab zu den Beſtänden der Salz-
werke und der Porzellanfabrik. Keine Flinte, ſo befahl er, und kein
Pulverkorn darf im Lande verbleiben, auch nicht wenn die Preußen ſie
baar bezahlen wollen; ich habe keinen Grund mehr Preußen zu ſchonen.
Gegen den klaren Wortlaut des Tilſiter Vertrages wurde Neu-Schleſien
ſofort mit Warſchau vereinigt; die Beſchwerden des Königs, hieß es kurzab,
ſeien ſinnlos, keiner Widerlegung werth.

Das Entſetzlichſte blieb doch, daß mit allen dieſen Opfern die Ruhe
des Friedens noch immer nicht erkauft war. Der preußiſche Bevollmäch-
tigte, Feldmarſchall Kalkreuth, ein warmer Verehrer Napoleons, hatte die
Tilſiter Verhandlungen mit einem vertrauensvollen Leichtſinn geführt, der
alle militäriſchen Verdienſte des Vertheidigers von Danzig in Schatten
ſtellte und von dem Staate hart gebüßt werden mußte. Die Räumung
des Landes und der Feſtungen ſollte zwar bis zum 1. November erfolgen,
doch nur wenn zuvor die geſammte Kriegscontribution abgezahlt ſei; und
da über den Betrag dieſer Summe gar nichts Beſtimmtes ausbedungen
war, ſo blieb nach wie vor faſt das geſammte preußiſche Gebiet durch
Napoleons Heer beſetzt. Alſo gewann der Imperator freie Hand für ſeine
iberiſchen Pläne, da die große Armee in Preußen die beiden Kaiſermächte

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[267/0283] Preußens Verluſte. ſeine Faſſung behaupten, da ihm aus Oſtfriesland und Magdeburg, aus Thorn und Weſtphalen, aus allen ſeinen verlorenen deutſchen Landen Briefe voll heißen Dankes, voll erſchütternder Klagen zukamen; die treuen Bauern der Grafſchaft Mark ſchrieben in ihrem derben Platt: „das Herz wollte uns brechen, als wir Deinen Abſchied laſen; ſo wahr wir leben, es iſt nicht Deine Schuld!“ Auch die deutſchen Einwanderer in den polniſchen Provinzen ſchieden ſchweren Herzens von der alten Monarchie; einer der erſten Grundherren dort zu Lande, ein Keudell, erſchoß ſich weil er unter ſlaviſcher Herrſchaft nicht leben wollte. Und wie furchtbar war das Land verwüſtet, das dem Könige noch blieb; ein einziges Jahr hatte die reiche Friedensarbeit dreier Jahrzehnte zerſtört. Erſt ſeit dieſem Kriege nahm das häusliche Leben Norddeutſchlands durchweg den Charakter kahler Dürftig- keit an. Vorher hatten doch einige Zweige des Kunſtgewerbes noch in leidlicher Blüthe geſtanden; jetzt erſt kam die Zeit der allgemeinen Form- und Geſchmackloſigkeit. Das Elend verrieth ſich überall: in den nüchternen Bauten, dem häßlichen Geräth, der kargen Koſt; ängſtliche Sparſamkeit beſtimmte alle Gewohnheiten des Lebens. In dem unglücklichen Oſt- preußen lagen weite Landſtriche wie ausgeſtorben, ganze Dorfſchaften an der Paſſarge waren verſchwunden; die Prediger mahnten von der Kanzel: wer da wolle möge ernten, daß nur das Korn nicht auf dem Halme ver- derbe. Der Sieger aber ſorgte auch nach dem Frieden mit peinlicher Strenge für die Ausplünderung des verhaßten Landes. Alle Kranken aus den Hoſpitälern in Warſchau und Weſtphalen ließ er ſofort nach Preußen ſchaffen; wo eines ſeiner Regimenter abzog, wurden zuvor alle königlichen Magazine und Vorräthe verkauft, bis herab zu den Beſtänden der Salz- werke und der Porzellanfabrik. Keine Flinte, ſo befahl er, und kein Pulverkorn darf im Lande verbleiben, auch nicht wenn die Preußen ſie baar bezahlen wollen; ich habe keinen Grund mehr Preußen zu ſchonen. Gegen den klaren Wortlaut des Tilſiter Vertrages wurde Neu-Schleſien ſofort mit Warſchau vereinigt; die Beſchwerden des Königs, hieß es kurzab, ſeien ſinnlos, keiner Widerlegung werth. Das Entſetzlichſte blieb doch, daß mit allen dieſen Opfern die Ruhe des Friedens noch immer nicht erkauft war. Der preußiſche Bevollmäch- tigte, Feldmarſchall Kalkreuth, ein warmer Verehrer Napoleons, hatte die Tilſiter Verhandlungen mit einem vertrauensvollen Leichtſinn geführt, der alle militäriſchen Verdienſte des Vertheidigers von Danzig in Schatten ſtellte und von dem Staate hart gebüßt werden mußte. Die Räumung des Landes und der Feſtungen ſollte zwar bis zum 1. November erfolgen, doch nur wenn zuvor die geſammte Kriegscontribution abgezahlt ſei; und da über den Betrag dieſer Summe gar nichts Beſtimmtes ausbedungen war, ſo blieb nach wie vor faſt das geſammte preußiſche Gebiet durch Napoleons Heer beſetzt. Alſo gewann der Imperator freie Hand für ſeine iberiſchen Pläne, da die große Armee in Preußen die beiden Kaiſermächte

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/283>, abgerufen am 22.11.2024.