Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 3. Preußens Erhebung.
freien Mannes, die Sorge für den Haushalt der Gemeinde als die natür-
liche Aufgabe des Bürgers und des Bauern erschien. Dem begehrlichen
revolutionären Sinne, der von dem Staate unendliche Menschenrechte
heischte, trat das strenge altpreußische Pflichtgefühl entgegen, dem dreisten
Dilettantismus der Staatsphilosophen die Sach- und Menschenkenntniß
eines gewiegten Verwaltungsbeamten, der aus den Erfahrungen des Lebens
die Einsicht gewonnen hatte, daß der Neubau des Staates von unten her
beginnen muß, daß constitutionelle Formen werthlos sind wenn ihnen der
Unterbau der freien Verwaltung fehlt.

Diese Gedanken, wie neu und kühn sie auch erschienen, ergaben sich
doch nothwendig aus der inneren Entwickelung, welche der preußische Staat
seit der Vernichtung der alten Ständeherrschaft bis zum Erscheinen des
Allgemeinen Landrechts durchlaufen hatte; sie berührten sich zugleich so nahe
mit dem sittlichen Ernst der Kantischen Philosophie und dem wieder er-
wachenden historischen Sinne der deutschen Wissenschaft, daß sie uns Nach-
lebenden wie der politische Niederschlag der classischen Zeit unserer Litera-
tur erscheinen. Gleichzeitig, wie auf ein gegebenes Stichwort, wurden
sofort nach dem Untergange der alten Ordnung die nämlichen Ideen von
den besten Männern des Schwertes und der Feder geäußert, von Keinem
freilich so umfassend und eigenthümlich wie von Stein. In den Briefen
und Denkschriften von Scharnhorst und Gneisenau, von Vincke und Nie-
buhr kehrt überall derselbe leitende Gedanke wieder: es gelte, die Nation zu
selbständiger, verantwortlicher politischer Arbeit aufzurufen und ihr da-
durch das Selbstvertrauen, den Muth und Opfermuth der lebendigen
Vaterlandsliebe zu erwecken. Ein geschlossenes System politischer Ideen
aufzubauen lag nicht in der Weise dieser praktischen Staatsmänner; sie
rühmten vielmehr als einen Vorzug des englischen Lebens, daß dort die
politische Doctrin so wenig gelte. Und so war auch das einzige literarische
Werk, das unter Steins Augen entstand, Vinckes Abhandlung über die
britische Verwaltung, der Betrachtung des Wirklichen zugewendet. Die
kleine Schrift gab zum ersten male ein getreues Bild von der Selbst-
verwaltung der englischen Grafschaften, die bisher neben der bewunderten
Gewaltentheilung des constitutionellen Musterstaates noch gar keine Be-
achtung gefunden hatte; sie enthielt zugleich eine so unzweideutige Kriegs-
erklärung gegen die rheinbündisch-französische Bureaukratie, daß sie erst
nach dem Sturze der napoleonischen Herrschaft gedruckt werden durfte.
Darum ist den Zeitgenossen der ganze Tiefsinn der Staatsgedanken
Steins niemals recht zum Bewußtsein gekommen. Erst die Gegenwart
erkennt, daß dieser stolze Mann mit der Idee des nationalen Staates
auch den Gedanken der Selbstverwaltung, eine edlere, aus uralten un-
vergessenen Ueberlieferungen der germanischen Geschichte geschöpfte Auf-
fassung der Volksfreiheit für das Festland gerettet hat. Jeder Fortschritt
unseres politischen Lebens hat die Nation zu Steins Idealen zurückgeführt.

I. 3. Preußens Erhebung.
freien Mannes, die Sorge für den Haushalt der Gemeinde als die natür-
liche Aufgabe des Bürgers und des Bauern erſchien. Dem begehrlichen
revolutionären Sinne, der von dem Staate unendliche Menſchenrechte
heiſchte, trat das ſtrenge altpreußiſche Pflichtgefühl entgegen, dem dreiſten
Dilettantismus der Staatsphiloſophen die Sach- und Menſchenkenntniß
eines gewiegten Verwaltungsbeamten, der aus den Erfahrungen des Lebens
die Einſicht gewonnen hatte, daß der Neubau des Staates von unten her
beginnen muß, daß conſtitutionelle Formen werthlos ſind wenn ihnen der
Unterbau der freien Verwaltung fehlt.

Dieſe Gedanken, wie neu und kühn ſie auch erſchienen, ergaben ſich
doch nothwendig aus der inneren Entwickelung, welche der preußiſche Staat
ſeit der Vernichtung der alten Ständeherrſchaft bis zum Erſcheinen des
Allgemeinen Landrechts durchlaufen hatte; ſie berührten ſich zugleich ſo nahe
mit dem ſittlichen Ernſt der Kantiſchen Philoſophie und dem wieder er-
wachenden hiſtoriſchen Sinne der deutſchen Wiſſenſchaft, daß ſie uns Nach-
lebenden wie der politiſche Niederſchlag der claſſiſchen Zeit unſerer Litera-
tur erſcheinen. Gleichzeitig, wie auf ein gegebenes Stichwort, wurden
ſofort nach dem Untergange der alten Ordnung die nämlichen Ideen von
den beſten Männern des Schwertes und der Feder geäußert, von Keinem
freilich ſo umfaſſend und eigenthümlich wie von Stein. In den Briefen
und Denkſchriften von Scharnhorſt und Gneiſenau, von Vincke und Nie-
buhr kehrt überall derſelbe leitende Gedanke wieder: es gelte, die Nation zu
ſelbſtändiger, verantwortlicher politiſcher Arbeit aufzurufen und ihr da-
durch das Selbſtvertrauen, den Muth und Opfermuth der lebendigen
Vaterlandsliebe zu erwecken. Ein geſchloſſenes Syſtem politiſcher Ideen
aufzubauen lag nicht in der Weiſe dieſer praktiſchen Staatsmänner; ſie
rühmten vielmehr als einen Vorzug des engliſchen Lebens, daß dort die
politiſche Doctrin ſo wenig gelte. Und ſo war auch das einzige literariſche
Werk, das unter Steins Augen entſtand, Vinckes Abhandlung über die
britiſche Verwaltung, der Betrachtung des Wirklichen zugewendet. Die
kleine Schrift gab zum erſten male ein getreues Bild von der Selbſt-
verwaltung der engliſchen Grafſchaften, die bisher neben der bewunderten
Gewaltentheilung des conſtitutionellen Muſterſtaates noch gar keine Be-
achtung gefunden hatte; ſie enthielt zugleich eine ſo unzweideutige Kriegs-
erklärung gegen die rheinbündiſch-franzöſiſche Bureaukratie, daß ſie erſt
nach dem Sturze der napoleoniſchen Herrſchaft gedruckt werden durfte.
Darum iſt den Zeitgenoſſen der ganze Tiefſinn der Staatsgedanken
Steins niemals recht zum Bewußtſein gekommen. Erſt die Gegenwart
erkennt, daß dieſer ſtolze Mann mit der Idee des nationalen Staates
auch den Gedanken der Selbſtverwaltung, eine edlere, aus uralten un-
vergeſſenen Ueberlieferungen der germaniſchen Geſchichte geſchöpfte Auf-
faſſung der Volksfreiheit für das Feſtland gerettet hat. Jeder Fortſchritt
unſeres politiſchen Lebens hat die Nation zu Steins Idealen zurückgeführt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0290" n="274"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 3. Preußens Erhebung.</fw><lb/>
freien Mannes, die Sorge für den Haushalt der Gemeinde als die natür-<lb/>
liche Aufgabe des Bürgers und des Bauern er&#x017F;chien. Dem begehrlichen<lb/>
revolutionären Sinne, der von dem Staate unendliche Men&#x017F;chenrechte<lb/>
hei&#x017F;chte, trat das &#x017F;trenge altpreußi&#x017F;che Pflichtgefühl entgegen, dem drei&#x017F;ten<lb/>
Dilettantismus der Staatsphilo&#x017F;ophen die Sach- und Men&#x017F;chenkenntniß<lb/>
eines gewiegten Verwaltungsbeamten, der aus den Erfahrungen des Lebens<lb/>
die Ein&#x017F;icht gewonnen hatte, daß der Neubau des Staates von unten her<lb/>
beginnen muß, daß con&#x017F;titutionelle Formen werthlos &#x017F;ind wenn ihnen der<lb/>
Unterbau der freien Verwaltung fehlt.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Gedanken, wie neu und kühn &#x017F;ie auch er&#x017F;chienen, ergaben &#x017F;ich<lb/>
doch nothwendig aus der inneren Entwickelung, welche der preußi&#x017F;che Staat<lb/>
&#x017F;eit der Vernichtung der alten Ständeherr&#x017F;chaft bis zum Er&#x017F;cheinen des<lb/>
Allgemeinen Landrechts durchlaufen hatte; &#x017F;ie berührten &#x017F;ich zugleich &#x017F;o nahe<lb/>
mit dem &#x017F;ittlichen Ern&#x017F;t der Kanti&#x017F;chen Philo&#x017F;ophie und dem wieder er-<lb/>
wachenden hi&#x017F;tori&#x017F;chen Sinne der deut&#x017F;chen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, daß &#x017F;ie uns Nach-<lb/>
lebenden wie der politi&#x017F;che Nieder&#x017F;chlag der cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Zeit un&#x017F;erer Litera-<lb/>
tur er&#x017F;cheinen. Gleichzeitig, wie auf ein gegebenes Stichwort, wurden<lb/>
&#x017F;ofort nach dem Untergange der alten Ordnung die nämlichen Ideen von<lb/>
den be&#x017F;ten Männern des Schwertes und der Feder geäußert, von Keinem<lb/>
freilich &#x017F;o umfa&#x017F;&#x017F;end und eigenthümlich wie von Stein. In den Briefen<lb/>
und Denk&#x017F;chriften von Scharnhor&#x017F;t und Gnei&#x017F;enau, von Vincke und Nie-<lb/>
buhr kehrt überall der&#x017F;elbe leitende Gedanke wieder: es gelte, die Nation zu<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tändiger, verantwortlicher politi&#x017F;cher Arbeit aufzurufen und ihr da-<lb/>
durch das Selb&#x017F;tvertrauen, den Muth und Opfermuth der lebendigen<lb/>
Vaterlandsliebe zu erwecken. Ein ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enes Sy&#x017F;tem politi&#x017F;cher Ideen<lb/>
aufzubauen lag nicht in der Wei&#x017F;e die&#x017F;er prakti&#x017F;chen Staatsmänner; &#x017F;ie<lb/>
rühmten vielmehr als einen Vorzug des engli&#x017F;chen Lebens, daß dort die<lb/>
politi&#x017F;che Doctrin &#x017F;o wenig gelte. Und &#x017F;o war auch das einzige literari&#x017F;che<lb/>
Werk, das unter Steins Augen ent&#x017F;tand, Vinckes Abhandlung über die<lb/>
briti&#x017F;che Verwaltung, der Betrachtung des Wirklichen zugewendet. Die<lb/>
kleine Schrift gab zum er&#x017F;ten male ein getreues Bild von der Selb&#x017F;t-<lb/>
verwaltung der engli&#x017F;chen Graf&#x017F;chaften, die bisher neben der bewunderten<lb/>
Gewaltentheilung des con&#x017F;titutionellen Mu&#x017F;ter&#x017F;taates noch gar keine Be-<lb/>
achtung gefunden hatte; &#x017F;ie enthielt zugleich eine &#x017F;o unzweideutige Kriegs-<lb/>
erklärung gegen die rheinbündi&#x017F;ch-franzö&#x017F;i&#x017F;che Bureaukratie, daß &#x017F;ie er&#x017F;t<lb/>
nach dem Sturze der napoleoni&#x017F;chen Herr&#x017F;chaft gedruckt werden durfte.<lb/>
Darum i&#x017F;t den Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en der ganze Tief&#x017F;inn der Staatsgedanken<lb/>
Steins niemals recht zum Bewußt&#x017F;ein gekommen. Er&#x017F;t die Gegenwart<lb/>
erkennt, daß die&#x017F;er &#x017F;tolze Mann mit der Idee des nationalen Staates<lb/>
auch den Gedanken der Selb&#x017F;tverwaltung, eine edlere, aus uralten un-<lb/>
verge&#x017F;&#x017F;enen Ueberlieferungen der germani&#x017F;chen Ge&#x017F;chichte ge&#x017F;chöpfte Auf-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ung der Volksfreiheit für das Fe&#x017F;tland gerettet hat. Jeder Fort&#x017F;chritt<lb/>
un&#x017F;eres politi&#x017F;chen Lebens hat die Nation zu Steins Idealen zurückgeführt.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[274/0290] I. 3. Preußens Erhebung. freien Mannes, die Sorge für den Haushalt der Gemeinde als die natür- liche Aufgabe des Bürgers und des Bauern erſchien. Dem begehrlichen revolutionären Sinne, der von dem Staate unendliche Menſchenrechte heiſchte, trat das ſtrenge altpreußiſche Pflichtgefühl entgegen, dem dreiſten Dilettantismus der Staatsphiloſophen die Sach- und Menſchenkenntniß eines gewiegten Verwaltungsbeamten, der aus den Erfahrungen des Lebens die Einſicht gewonnen hatte, daß der Neubau des Staates von unten her beginnen muß, daß conſtitutionelle Formen werthlos ſind wenn ihnen der Unterbau der freien Verwaltung fehlt. Dieſe Gedanken, wie neu und kühn ſie auch erſchienen, ergaben ſich doch nothwendig aus der inneren Entwickelung, welche der preußiſche Staat ſeit der Vernichtung der alten Ständeherrſchaft bis zum Erſcheinen des Allgemeinen Landrechts durchlaufen hatte; ſie berührten ſich zugleich ſo nahe mit dem ſittlichen Ernſt der Kantiſchen Philoſophie und dem wieder er- wachenden hiſtoriſchen Sinne der deutſchen Wiſſenſchaft, daß ſie uns Nach- lebenden wie der politiſche Niederſchlag der claſſiſchen Zeit unſerer Litera- tur erſcheinen. Gleichzeitig, wie auf ein gegebenes Stichwort, wurden ſofort nach dem Untergange der alten Ordnung die nämlichen Ideen von den beſten Männern des Schwertes und der Feder geäußert, von Keinem freilich ſo umfaſſend und eigenthümlich wie von Stein. In den Briefen und Denkſchriften von Scharnhorſt und Gneiſenau, von Vincke und Nie- buhr kehrt überall derſelbe leitende Gedanke wieder: es gelte, die Nation zu ſelbſtändiger, verantwortlicher politiſcher Arbeit aufzurufen und ihr da- durch das Selbſtvertrauen, den Muth und Opfermuth der lebendigen Vaterlandsliebe zu erwecken. Ein geſchloſſenes Syſtem politiſcher Ideen aufzubauen lag nicht in der Weiſe dieſer praktiſchen Staatsmänner; ſie rühmten vielmehr als einen Vorzug des engliſchen Lebens, daß dort die politiſche Doctrin ſo wenig gelte. Und ſo war auch das einzige literariſche Werk, das unter Steins Augen entſtand, Vinckes Abhandlung über die britiſche Verwaltung, der Betrachtung des Wirklichen zugewendet. Die kleine Schrift gab zum erſten male ein getreues Bild von der Selbſt- verwaltung der engliſchen Grafſchaften, die bisher neben der bewunderten Gewaltentheilung des conſtitutionellen Muſterſtaates noch gar keine Be- achtung gefunden hatte; ſie enthielt zugleich eine ſo unzweideutige Kriegs- erklärung gegen die rheinbündiſch-franzöſiſche Bureaukratie, daß ſie erſt nach dem Sturze der napoleoniſchen Herrſchaft gedruckt werden durfte. Darum iſt den Zeitgenoſſen der ganze Tiefſinn der Staatsgedanken Steins niemals recht zum Bewußtſein gekommen. Erſt die Gegenwart erkennt, daß dieſer ſtolze Mann mit der Idee des nationalen Staates auch den Gedanken der Selbſtverwaltung, eine edlere, aus uralten un- vergeſſenen Ueberlieferungen der germaniſchen Geſchichte geſchöpfte Auf- faſſung der Volksfreiheit für das Feſtland gerettet hat. Jeder Fortſchritt unſeres politiſchen Lebens hat die Nation zu Steins Idealen zurückgeführt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/290
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/290>, abgerufen am 22.11.2024.