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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
deutsche Brüder ansah: um so besser für den Staat, der jetzt die adlichen
Privilegien, die Alleinherrschaft der Bureaukratie zerstören und Alles was
trennend zwischen den beiden deutschen Großmächten stand, hochherzig ver-
gessen mußte.

Nach seinem vergeblichen Kampfe gegen die Cabinetsregierung und
seiner schnöden Entlassung hatte Stein still in Nassau gelebt und dort
schon in einer umfassenden Denkschrift einige Umrisse für die Neugestal-
tung des Staates aufgezeichnet. Da traf ihn die Kunde von dem un-
seligen Frieden und warf den Heißblütigen auf das Krankenbette. Bald
darauf kam die Aufforderung zur Rückkehr. Er nahm an; jede Kränkung
war vergessen; nach drei Tagen wurde sein Wille des Fiebers Herr. Am
30. September 1807 traf er in Memel ein, und der König legte ver-
trauensvoll die Leitung des gesammten Staatswesens in die Hände des
Ministers. Welch eine Lage! An seinem letzten Geburtstage hatte Friedrich
Wilhelm, da die Räumung des Landes gar nicht beginnen wollte, in einem
eigenhändigen Briefe dem Imperator gradezu die Frage gestellt, ob er
Preußen zu vernichten beabsichtige. Napoleon blieb stumm, die Thaten
gaben die Antwort. Mitten im Frieden standen 160,000 Franzosen in
den Festungen und in großen Lagern, über das ganze Staatsgebiet ver-
theilt, allein Ostpreußen ausgenommen. Der Kern der alten preußischen
Armee, mehr als 15,000 Mann, lag noch kriegsgefangen bei Nancy, und
woher sollte die ausgeplünderte Monarchie die Mittel nehmen für die
Bildung eines neuen Heeres? An verfügbarem jährlichem Einkommen ver-
blieben dem Staate noch 131/2 Mill. Thlr., kaum zwei Drittel seiner
früheren Einnahmen. Ueberall wo Napoleons Truppen standen wurden
die Staatseinkünfte, als ob der Krieg noch fortwährte, für Frankreich in
Beschlag genommen, so daß der König nahezu nichts erhielt, hunderte
der auf halben Sold entlassenen Offiziere unbezahlt darben mußten. Die
einst vielbeneidete Seehandlung hatte, wie die Bank, ihre Zahlungen ein-
gestellt; ihre Obligationen sanken im Curse bis auf 25. Die Tresorscheine
fielen bis auf 27, da an die Einlösung nicht mehr zu denken war und die
französischen Behörden das Papiergeld zu Wuchergeschäften mißbrauchten.
Massen entwertheter Scheidemünzen strömten aus den abgetretenen Pro-
vinzen in das Land zurück, und die Franzosen ließen um das Unheil zu
vermehren in der Berliner Münze noch für 3 Mill. Thlr. neues Kleingeld
prägen. Der Staatscredit war so gänzlich vernichtet, daß eine Prämien-
anleihe von einer Million, in kleinen Scheinen zu 25 Thlr. ausgegeben,
nach drei Jahren noch immer nicht vergriffen war. Die französische
Militärverwaltung unter Darus brutaler Leitung hauste im Frieden
ärger als im Kriege; eine Contribution drängte die andere, und monate-
lang blieb es ein tiefes Geheimniß, wie viel der unersättliche Feind noch
von dem erschöpften Lande fordern wolle. In Ost- und Westpreußen
wurde zur Abtragung der Kriegslasten eine progressive Einkommensteuer,

I. 3. Preußens Erhebung.
deutſche Brüder anſah: um ſo beſſer für den Staat, der jetzt die adlichen
Privilegien, die Alleinherrſchaft der Bureaukratie zerſtören und Alles was
trennend zwiſchen den beiden deutſchen Großmächten ſtand, hochherzig ver-
geſſen mußte.

Nach ſeinem vergeblichen Kampfe gegen die Cabinetsregierung und
ſeiner ſchnöden Entlaſſung hatte Stein ſtill in Naſſau gelebt und dort
ſchon in einer umfaſſenden Denkſchrift einige Umriſſe für die Neugeſtal-
tung des Staates aufgezeichnet. Da traf ihn die Kunde von dem un-
ſeligen Frieden und warf den Heißblütigen auf das Krankenbette. Bald
darauf kam die Aufforderung zur Rückkehr. Er nahm an; jede Kränkung
war vergeſſen; nach drei Tagen wurde ſein Wille des Fiebers Herr. Am
30. September 1807 traf er in Memel ein, und der König legte ver-
trauensvoll die Leitung des geſammten Staatsweſens in die Hände des
Miniſters. Welch eine Lage! An ſeinem letzten Geburtstage hatte Friedrich
Wilhelm, da die Räumung des Landes gar nicht beginnen wollte, in einem
eigenhändigen Briefe dem Imperator gradezu die Frage geſtellt, ob er
Preußen zu vernichten beabſichtige. Napoleon blieb ſtumm, die Thaten
gaben die Antwort. Mitten im Frieden ſtanden 160,000 Franzoſen in
den Feſtungen und in großen Lagern, über das ganze Staatsgebiet ver-
theilt, allein Oſtpreußen ausgenommen. Der Kern der alten preußiſchen
Armee, mehr als 15,000 Mann, lag noch kriegsgefangen bei Nancy, und
woher ſollte die ausgeplünderte Monarchie die Mittel nehmen für die
Bildung eines neuen Heeres? An verfügbarem jährlichem Einkommen ver-
blieben dem Staate noch 13½ Mill. Thlr., kaum zwei Drittel ſeiner
früheren Einnahmen. Ueberall wo Napoleons Truppen ſtanden wurden
die Staatseinkünfte, als ob der Krieg noch fortwährte, für Frankreich in
Beſchlag genommen, ſo daß der König nahezu nichts erhielt, hunderte
der auf halben Sold entlaſſenen Offiziere unbezahlt darben mußten. Die
einſt vielbeneidete Seehandlung hatte, wie die Bank, ihre Zahlungen ein-
geſtellt; ihre Obligationen ſanken im Curſe bis auf 25. Die Treſorſcheine
fielen bis auf 27, da an die Einlöſung nicht mehr zu denken war und die
franzöſiſchen Behörden das Papiergeld zu Wuchergeſchäften mißbrauchten.
Maſſen entwertheter Scheidemünzen ſtrömten aus den abgetretenen Pro-
vinzen in das Land zurück, und die Franzoſen ließen um das Unheil zu
vermehren in der Berliner Münze noch für 3 Mill. Thlr. neues Kleingeld
prägen. Der Staatscredit war ſo gänzlich vernichtet, daß eine Prämien-
anleihe von einer Million, in kleinen Scheinen zu 25 Thlr. ausgegeben,
nach drei Jahren noch immer nicht vergriffen war. Die franzöſiſche
Militärverwaltung unter Darus brutaler Leitung hauſte im Frieden
ärger als im Kriege; eine Contribution drängte die andere, und monate-
lang blieb es ein tiefes Geheimniß, wie viel der unerſättliche Feind noch
von dem erſchöpften Lande fordern wolle. In Oſt- und Weſtpreußen
wurde zur Abtragung der Kriegslaſten eine progreſſive Einkommenſteuer,

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[276/0292] I. 3. Preußens Erhebung. deutſche Brüder anſah: um ſo beſſer für den Staat, der jetzt die adlichen Privilegien, die Alleinherrſchaft der Bureaukratie zerſtören und Alles was trennend zwiſchen den beiden deutſchen Großmächten ſtand, hochherzig ver- geſſen mußte. Nach ſeinem vergeblichen Kampfe gegen die Cabinetsregierung und ſeiner ſchnöden Entlaſſung hatte Stein ſtill in Naſſau gelebt und dort ſchon in einer umfaſſenden Denkſchrift einige Umriſſe für die Neugeſtal- tung des Staates aufgezeichnet. Da traf ihn die Kunde von dem un- ſeligen Frieden und warf den Heißblütigen auf das Krankenbette. Bald darauf kam die Aufforderung zur Rückkehr. Er nahm an; jede Kränkung war vergeſſen; nach drei Tagen wurde ſein Wille des Fiebers Herr. Am 30. September 1807 traf er in Memel ein, und der König legte ver- trauensvoll die Leitung des geſammten Staatsweſens in die Hände des Miniſters. Welch eine Lage! An ſeinem letzten Geburtstage hatte Friedrich Wilhelm, da die Räumung des Landes gar nicht beginnen wollte, in einem eigenhändigen Briefe dem Imperator gradezu die Frage geſtellt, ob er Preußen zu vernichten beabſichtige. Napoleon blieb ſtumm, die Thaten gaben die Antwort. Mitten im Frieden ſtanden 160,000 Franzoſen in den Feſtungen und in großen Lagern, über das ganze Staatsgebiet ver- theilt, allein Oſtpreußen ausgenommen. Der Kern der alten preußiſchen Armee, mehr als 15,000 Mann, lag noch kriegsgefangen bei Nancy, und woher ſollte die ausgeplünderte Monarchie die Mittel nehmen für die Bildung eines neuen Heeres? An verfügbarem jährlichem Einkommen ver- blieben dem Staate noch 13½ Mill. Thlr., kaum zwei Drittel ſeiner früheren Einnahmen. Ueberall wo Napoleons Truppen ſtanden wurden die Staatseinkünfte, als ob der Krieg noch fortwährte, für Frankreich in Beſchlag genommen, ſo daß der König nahezu nichts erhielt, hunderte der auf halben Sold entlaſſenen Offiziere unbezahlt darben mußten. Die einſt vielbeneidete Seehandlung hatte, wie die Bank, ihre Zahlungen ein- geſtellt; ihre Obligationen ſanken im Curſe bis auf 25. Die Treſorſcheine fielen bis auf 27, da an die Einlöſung nicht mehr zu denken war und die franzöſiſchen Behörden das Papiergeld zu Wuchergeſchäften mißbrauchten. Maſſen entwertheter Scheidemünzen ſtrömten aus den abgetretenen Pro- vinzen in das Land zurück, und die Franzoſen ließen um das Unheil zu vermehren in der Berliner Münze noch für 3 Mill. Thlr. neues Kleingeld prägen. Der Staatscredit war ſo gänzlich vernichtet, daß eine Prämien- anleihe von einer Million, in kleinen Scheinen zu 25 Thlr. ausgegeben, nach drei Jahren noch immer nicht vergriffen war. Die franzöſiſche Militärverwaltung unter Darus brutaler Leitung hauſte im Frieden ärger als im Kriege; eine Contribution drängte die andere, und monate- lang blieb es ein tiefes Geheimniß, wie viel der unerſättliche Feind noch von dem erſchöpften Lande fordern wolle. In Oſt- und Weſtpreußen wurde zur Abtragung der Kriegslaſten eine progreſſive Einkommenſteuer,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/292>, abgerufen am 22.11.2024.