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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
gelänge, als ob er nur für das Unglück geboren sei. Als er im Königs-
berger Dome die Inschriften auf den Gräbern der preußischen Herzöge
las, wählte er sich den Sinnspruch für sein hartes Leben: meine Zeit in
Unruhe, meine Hoffnung in Gott! Doch diese Hoffnung hielt ihn auf-
recht. Niemals wollte er sich überzeugen, daß die gemeinen Seelen aus
der Familie Bonaparte, die jetzt Europas Kronen trugen, wirkliche Fürsten
seien, daß dies mit allem seinem Ruhm und Glanz so windige, so schwindel-
hafte Abenteuer des napoleonischen Weltreichs in der vernünftigen Gottes-
welt auf die Dauer bestehen könne. Willig und ohne Vorbehalt ging er
auf die Vorschläge seines großen Ministers ein. An Steins Gesetzen hatte
er weit größeren Antheil als die Zeitgenossen wußten. Vieles was sich
jetzt vollendete war ja nur die kühne Durchführung jener Reformgedanken,
worüber der unentschlossene Fürst ein Jahrzehnt hindurch gebrütet hatte.
Nur so werden die raschen, durchschlagenden Erfolge des einen kurzen
Jahres der Steinschen Verwaltung verständlich.

Auch unter den Beamten fand der neue Minister willige Helfer. Ein
Glück für ihn, daß er sein Reformwerk grade auf ostpreußischem Boden
beginnen mußte. Hier wurde die Unhaltbarkeit der alten ständischen Gliede-
rung besonders lebhaft empfunden, da die Provinz in ihren Köllmern einen
freien nichtadlichen Grundbesitzerstand besaß; hier waren die Gebildeten,
namentlich die Beamten, längst vertraut mit den freien sittlichen und poli-
tischen Anschauungen, welche die beiden wirksamsten Lehrer der Königs-
berger Hochschule, Kant und der soeben verstorbene Kraus, seit Jahren
verbreitet hatten. Ganz und gar von diesen Ideen erfüllt war Schoen,
in mancher Hinsicht ein getreuer Vertreter des stolzen, freisinnigen, ge-
dankenreichen ostpreußischen Wesens, freilich auch ein Doctrinär der un-
bedingten Freihandelslehre, zudem maßlos eitel, unfähig fremdes Verdienst
bescheiden anzuerkennen und, ganz gegen die Art seines edlen Stammes,
unwahrhaftig. Neben ihm wirkte Staegemann, ein hochgebildeter, kundiger
Geschäftsmann von seltenem Fleiße und seltener Bescheidenheit, der seine
treue Liebe zum preußischen Staate zuweilen in tief empfundenen unge-
lenken Gedichten aussprach; dann Niebuhr, der geniale Gelehrte, zu reiz-
bar, zu abhängig von der Stimmung des Augenblicks um sich leicht in
die gleichmäßige Thätigkeit der Bureaus zu finden, aber Allen unschätzbar
durch den unerschöpflichen Reichthum eines lebendigen Wissens, durch die
Weite seines Blicks, durch den Adel einer hohen Leidenschaft; dann Nico-
lovius, ein tiefes, von der religiösen Strömung der Zeit im Innersten
bewegtes Gemüth; dann Sack, Klewitz, Wilken und viele Andere, ein
schöner Verein ungewöhnlicher Kräfte. Unter Allen stand wohl der west-
phälische Freiherr v. Vincke den Anschauungen Steins am nächsten. Auch
er hatte sich seine Ansicht vom Staate unter dem Adel und den Bauern
der rothen Erde gebildet, nur daß der geborene Preuße die Verdienste des
Soldbeamtenthums unbefangener anerkannte als der Reichsritter; er

I. 3. Preußens Erhebung.
gelänge, als ob er nur für das Unglück geboren ſei. Als er im Königs-
berger Dome die Inſchriften auf den Gräbern der preußiſchen Herzöge
las, wählte er ſich den Sinnſpruch für ſein hartes Leben: meine Zeit in
Unruhe, meine Hoffnung in Gott! Doch dieſe Hoffnung hielt ihn auf-
recht. Niemals wollte er ſich überzeugen, daß die gemeinen Seelen aus
der Familie Bonaparte, die jetzt Europas Kronen trugen, wirkliche Fürſten
ſeien, daß dies mit allem ſeinem Ruhm und Glanz ſo windige, ſo ſchwindel-
hafte Abenteuer des napoleoniſchen Weltreichs in der vernünftigen Gottes-
welt auf die Dauer beſtehen könne. Willig und ohne Vorbehalt ging er
auf die Vorſchläge ſeines großen Miniſters ein. An Steins Geſetzen hatte
er weit größeren Antheil als die Zeitgenoſſen wußten. Vieles was ſich
jetzt vollendete war ja nur die kühne Durchführung jener Reformgedanken,
worüber der unentſchloſſene Fürſt ein Jahrzehnt hindurch gebrütet hatte.
Nur ſo werden die raſchen, durchſchlagenden Erfolge des einen kurzen
Jahres der Steinſchen Verwaltung verſtändlich.

Auch unter den Beamten fand der neue Miniſter willige Helfer. Ein
Glück für ihn, daß er ſein Reformwerk grade auf oſtpreußiſchem Boden
beginnen mußte. Hier wurde die Unhaltbarkeit der alten ſtändiſchen Gliede-
rung beſonders lebhaft empfunden, da die Provinz in ihren Köllmern einen
freien nichtadlichen Grundbeſitzerſtand beſaß; hier waren die Gebildeten,
namentlich die Beamten, längſt vertraut mit den freien ſittlichen und poli-
tiſchen Anſchauungen, welche die beiden wirkſamſten Lehrer der Königs-
berger Hochſchule, Kant und der ſoeben verſtorbene Kraus, ſeit Jahren
verbreitet hatten. Ganz und gar von dieſen Ideen erfüllt war Schoen,
in mancher Hinſicht ein getreuer Vertreter des ſtolzen, freiſinnigen, ge-
dankenreichen oſtpreußiſchen Weſens, freilich auch ein Doctrinär der un-
bedingten Freihandelslehre, zudem maßlos eitel, unfähig fremdes Verdienſt
beſcheiden anzuerkennen und, ganz gegen die Art ſeines edlen Stammes,
unwahrhaftig. Neben ihm wirkte Staegemann, ein hochgebildeter, kundiger
Geſchäftsmann von ſeltenem Fleiße und ſeltener Beſcheidenheit, der ſeine
treue Liebe zum preußiſchen Staate zuweilen in tief empfundenen unge-
lenken Gedichten ausſprach; dann Niebuhr, der geniale Gelehrte, zu reiz-
bar, zu abhängig von der Stimmung des Augenblicks um ſich leicht in
die gleichmäßige Thätigkeit der Bureaus zu finden, aber Allen unſchätzbar
durch den unerſchöpflichen Reichthum eines lebendigen Wiſſens, durch die
Weite ſeines Blicks, durch den Adel einer hohen Leidenſchaft; dann Nico-
lovius, ein tiefes, von der religiöſen Strömung der Zeit im Innerſten
bewegtes Gemüth; dann Sack, Klewitz, Wilken und viele Andere, ein
ſchöner Verein ungewöhnlicher Kräfte. Unter Allen ſtand wohl der weſt-
phäliſche Freiherr v. Vincke den Anſchauungen Steins am nächſten. Auch
er hatte ſich ſeine Anſicht vom Staate unter dem Adel und den Bauern
der rothen Erde gebildet, nur daß der geborene Preuße die Verdienſte des
Soldbeamtenthums unbefangener anerkannte als der Reichsritter; er

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[278/0294] I. 3. Preußens Erhebung. gelänge, als ob er nur für das Unglück geboren ſei. Als er im Königs- berger Dome die Inſchriften auf den Gräbern der preußiſchen Herzöge las, wählte er ſich den Sinnſpruch für ſein hartes Leben: meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung in Gott! Doch dieſe Hoffnung hielt ihn auf- recht. Niemals wollte er ſich überzeugen, daß die gemeinen Seelen aus der Familie Bonaparte, die jetzt Europas Kronen trugen, wirkliche Fürſten ſeien, daß dies mit allem ſeinem Ruhm und Glanz ſo windige, ſo ſchwindel- hafte Abenteuer des napoleoniſchen Weltreichs in der vernünftigen Gottes- welt auf die Dauer beſtehen könne. Willig und ohne Vorbehalt ging er auf die Vorſchläge ſeines großen Miniſters ein. An Steins Geſetzen hatte er weit größeren Antheil als die Zeitgenoſſen wußten. Vieles was ſich jetzt vollendete war ja nur die kühne Durchführung jener Reformgedanken, worüber der unentſchloſſene Fürſt ein Jahrzehnt hindurch gebrütet hatte. Nur ſo werden die raſchen, durchſchlagenden Erfolge des einen kurzen Jahres der Steinſchen Verwaltung verſtändlich. Auch unter den Beamten fand der neue Miniſter willige Helfer. Ein Glück für ihn, daß er ſein Reformwerk grade auf oſtpreußiſchem Boden beginnen mußte. Hier wurde die Unhaltbarkeit der alten ſtändiſchen Gliede- rung beſonders lebhaft empfunden, da die Provinz in ihren Köllmern einen freien nichtadlichen Grundbeſitzerſtand beſaß; hier waren die Gebildeten, namentlich die Beamten, längſt vertraut mit den freien ſittlichen und poli- tiſchen Anſchauungen, welche die beiden wirkſamſten Lehrer der Königs- berger Hochſchule, Kant und der ſoeben verſtorbene Kraus, ſeit Jahren verbreitet hatten. Ganz und gar von dieſen Ideen erfüllt war Schoen, in mancher Hinſicht ein getreuer Vertreter des ſtolzen, freiſinnigen, ge- dankenreichen oſtpreußiſchen Weſens, freilich auch ein Doctrinär der un- bedingten Freihandelslehre, zudem maßlos eitel, unfähig fremdes Verdienſt beſcheiden anzuerkennen und, ganz gegen die Art ſeines edlen Stammes, unwahrhaftig. Neben ihm wirkte Staegemann, ein hochgebildeter, kundiger Geſchäftsmann von ſeltenem Fleiße und ſeltener Beſcheidenheit, der ſeine treue Liebe zum preußiſchen Staate zuweilen in tief empfundenen unge- lenken Gedichten ausſprach; dann Niebuhr, der geniale Gelehrte, zu reiz- bar, zu abhängig von der Stimmung des Augenblicks um ſich leicht in die gleichmäßige Thätigkeit der Bureaus zu finden, aber Allen unſchätzbar durch den unerſchöpflichen Reichthum eines lebendigen Wiſſens, durch die Weite ſeines Blicks, durch den Adel einer hohen Leidenſchaft; dann Nico- lovius, ein tiefes, von der religiöſen Strömung der Zeit im Innerſten bewegtes Gemüth; dann Sack, Klewitz, Wilken und viele Andere, ein ſchöner Verein ungewöhnlicher Kräfte. Unter Allen ſtand wohl der weſt- phäliſche Freiherr v. Vincke den Anſchauungen Steins am nächſten. Auch er hatte ſich ſeine Anſicht vom Staate unter dem Adel und den Bauern der rothen Erde gebildet, nur daß der geborene Preuße die Verdienſte des Soldbeamtenthums unbefangener anerkannte als der Reichsritter; er

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/294>, abgerufen am 22.11.2024.