Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.I. 3. Preußens Erhebung. hervor aus der selbständigen, eigenthümlichen Durchbildung von Gedanken,welche seit dem Ausbruche der Revolution in der Luft lagen und allen hellen Köpfen des preußischen Beamtenthums als ein Gemeingut ange- hörten. Eine durchaus schöpferische That, das freie Werk seines Genius, war dagegen die Städte-Ordnung vom 19. November 1808. Als die letzte und höchste Aufgabe seines politischen Wirkens erschien ihm die Er- hebung der Nation aus der dumpfen Enge ihres häuslichen Lebens; er sah sie in Gefahr, der Sinnlichkeit zu verfallen oder den speculativen Wissenschaften einen übertriebenen Werth beizulegen, und wollte sie erziehen zu gemeinnütziger Thätigkeit, zu kräftigem Handeln. Ein glücklicher prak- tischer Blick hieß ihn sein Werk bei den Städten beginnen. Erst wenn unter der gebildeten städtischen Bevölkerung wieder ein selbständiges Ge- meindeleben erwacht war, konnten den rohen, soeben erst der Erbunter- thänigkeit entwachsenen Bauern, die ihren Grundherren noch voll Grolles gegenüberstanden, die Rechte und Pflichten der Selbstverwaltung auferlegt werden. Die Städte erhielten die selbständige Verwaltung ihres Haus- halts, ihres Armen- und Schulwesens und sollten auf Verlangen des Staates in seinem Namen auch die Geschäfte der Polizei besorgen. Die alten buntscheckigen Abstufungen des Bürgerrechts fielen hinweg, wie die Vorrechte der Zünfte. Die Einwohner der Städte zerfielen nur noch in zwei Klassen, Bürger und Schutzverwandte. Wer das leicht zu erwerbende Bürgerrecht erlangt hatte, war verbunden zur Uebernahme aller Gemeinde- ämter; denn war die Freiheit des Eigenthums ein leitender Gedanke der Stein'schen Gesetze, so nicht minder der Grundsatz, daß der Eigenthümer dem Gemeinwesen zum Dienst verpflichtet sei. Ein erwählter Magistrat, aus unbesoldeten und wenigen besoldeten Mitgliedern zusammengesetzt, und eine von der gesammten Bürgerschaft nach Bezirken gewählte Stadt- verordnetenversammlung leiteten die städtische Verwaltung. So ward end- lich gebrochen mit der zweihundertjährigen Verkümmerung des deutschen Communallebens. Die Reform erscheint um so bewunderungswürdiger in ihrer ein- I. 3. Preußens Erhebung. hervor aus der ſelbſtändigen, eigenthümlichen Durchbildung von Gedanken,welche ſeit dem Ausbruche der Revolution in der Luft lagen und allen hellen Köpfen des preußiſchen Beamtenthums als ein Gemeingut ange- hörten. Eine durchaus ſchöpferiſche That, das freie Werk ſeines Genius, war dagegen die Städte-Ordnung vom 19. November 1808. Als die letzte und höchſte Aufgabe ſeines politiſchen Wirkens erſchien ihm die Er- hebung der Nation aus der dumpfen Enge ihres häuslichen Lebens; er ſah ſie in Gefahr, der Sinnlichkeit zu verfallen oder den ſpeculativen Wiſſenſchaften einen übertriebenen Werth beizulegen, und wollte ſie erziehen zu gemeinnütziger Thätigkeit, zu kräftigem Handeln. Ein glücklicher prak- tiſcher Blick hieß ihn ſein Werk bei den Städten beginnen. Erſt wenn unter der gebildeten ſtädtiſchen Bevölkerung wieder ein ſelbſtändiges Ge- meindeleben erwacht war, konnten den rohen, ſoeben erſt der Erbunter- thänigkeit entwachſenen Bauern, die ihren Grundherren noch voll Grolles gegenüberſtanden, die Rechte und Pflichten der Selbſtverwaltung auferlegt werden. Die Städte erhielten die ſelbſtändige Verwaltung ihres Haus- halts, ihres Armen- und Schulweſens und ſollten auf Verlangen des Staates in ſeinem Namen auch die Geſchäfte der Polizei beſorgen. Die alten buntſcheckigen Abſtufungen des Bürgerrechts fielen hinweg, wie die Vorrechte der Zünfte. Die Einwohner der Städte zerfielen nur noch in zwei Klaſſen, Bürger und Schutzverwandte. Wer das leicht zu erwerbende Bürgerrecht erlangt hatte, war verbunden zur Uebernahme aller Gemeinde- ämter; denn war die Freiheit des Eigenthums ein leitender Gedanke der Stein’ſchen Geſetze, ſo nicht minder der Grundſatz, daß der Eigenthümer dem Gemeinweſen zum Dienſt verpflichtet ſei. Ein erwählter Magiſtrat, aus unbeſoldeten und wenigen beſoldeten Mitgliedern zuſammengeſetzt, und eine von der geſammten Bürgerſchaft nach Bezirken gewählte Stadt- verordnetenverſammlung leiteten die ſtädtiſche Verwaltung. So ward end- lich gebrochen mit der zweihundertjährigen Verkümmerung des deutſchen Communallebens. Die Reform erſcheint um ſo bewunderungswürdiger in ihrer ein- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0300" n="284"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 3. Preußens Erhebung.</fw><lb/> hervor aus der ſelbſtändigen, eigenthümlichen Durchbildung von Gedanken,<lb/> welche ſeit dem Ausbruche der Revolution in der Luft lagen und allen<lb/> hellen Köpfen des preußiſchen Beamtenthums als ein Gemeingut ange-<lb/> hörten. Eine durchaus ſchöpferiſche That, das freie Werk ſeines Genius,<lb/> war dagegen die Städte-Ordnung vom 19. November 1808. Als die<lb/> letzte und höchſte Aufgabe ſeines politiſchen Wirkens erſchien ihm die Er-<lb/> hebung der Nation aus der dumpfen Enge ihres häuslichen Lebens; er<lb/> ſah ſie in Gefahr, der Sinnlichkeit zu verfallen oder den ſpeculativen<lb/> Wiſſenſchaften einen übertriebenen Werth beizulegen, und wollte ſie erziehen<lb/> zu gemeinnütziger Thätigkeit, zu kräftigem Handeln. 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Nun erſt gab es in Deutſchland<lb/> moderne Gemeinden — unabhängige Corporationen, die doch zugleich als<lb/> zuverläſſige Organe den Willen der Staatsgewalt vollſtreckten, der Auf-<lb/> ſicht der Regierungen unterworfen blieben. Bisher war ein Theil der<lb/> Städte jeder Selbſtändigkeit beraubt geweſen. Andere hatten, wie die<lb/> Grundherrſchaften des flachen Landes, kleine Staaten im Staate gebildet<lb/> mit patrimonialer Gerichtsbarkeit und Polizei, und wie oft waren die Ge-<lb/> bote des Königs an „Unſere Vaſallen, Amtleute, Magiſtrate und liebe<lb/> Getreue“ durch den paſſiven Widerſtand dieſer altſtändiſchen Communal-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [284/0300]
I. 3. Preußens Erhebung.
hervor aus der ſelbſtändigen, eigenthümlichen Durchbildung von Gedanken,
welche ſeit dem Ausbruche der Revolution in der Luft lagen und allen
hellen Köpfen des preußiſchen Beamtenthums als ein Gemeingut ange-
hörten. Eine durchaus ſchöpferiſche That, das freie Werk ſeines Genius,
war dagegen die Städte-Ordnung vom 19. November 1808. Als die
letzte und höchſte Aufgabe ſeines politiſchen Wirkens erſchien ihm die Er-
hebung der Nation aus der dumpfen Enge ihres häuslichen Lebens; er
ſah ſie in Gefahr, der Sinnlichkeit zu verfallen oder den ſpeculativen
Wiſſenſchaften einen übertriebenen Werth beizulegen, und wollte ſie erziehen
zu gemeinnütziger Thätigkeit, zu kräftigem Handeln. Ein glücklicher prak-
tiſcher Blick hieß ihn ſein Werk bei den Städten beginnen. Erſt wenn
unter der gebildeten ſtädtiſchen Bevölkerung wieder ein ſelbſtändiges Ge-
meindeleben erwacht war, konnten den rohen, ſoeben erſt der Erbunter-
thänigkeit entwachſenen Bauern, die ihren Grundherren noch voll Grolles
gegenüberſtanden, die Rechte und Pflichten der Selbſtverwaltung auferlegt
werden. Die Städte erhielten die ſelbſtändige Verwaltung ihres Haus-
halts, ihres Armen- und Schulweſens und ſollten auf Verlangen des
Staates in ſeinem Namen auch die Geſchäfte der Polizei beſorgen. Die
alten buntſcheckigen Abſtufungen des Bürgerrechts fielen hinweg, wie die
Vorrechte der Zünfte. Die Einwohner der Städte zerfielen nur noch in
zwei Klaſſen, Bürger und Schutzverwandte. Wer das leicht zu erwerbende
Bürgerrecht erlangt hatte, war verbunden zur Uebernahme aller Gemeinde-
ämter; denn war die Freiheit des Eigenthums ein leitender Gedanke der
Stein’ſchen Geſetze, ſo nicht minder der Grundſatz, daß der Eigenthümer
dem Gemeinweſen zum Dienſt verpflichtet ſei. Ein erwählter Magiſtrat,
aus unbeſoldeten und wenigen beſoldeten Mitgliedern zuſammengeſetzt,
und eine von der geſammten Bürgerſchaft nach Bezirken gewählte Stadt-
verordnetenverſammlung leiteten die ſtädtiſche Verwaltung. So ward end-
lich gebrochen mit der zweihundertjährigen Verkümmerung des deutſchen
Communallebens.
Die Reform erſcheint um ſo bewunderungswürdiger in ihrer ein-
fachen Klarheit und Zweckmäßigkeit, da Stein nirgends in Europa ein
Vorbild fand. Die verwahrloſten engliſchen Stadtverfaſſungen konnten
ihm ebenſo wenig zum Muſter dienen wie die Patricierherrſchaft in
ſeinen geliebten weſtphäliſchen Städten. Nun erſt gab es in Deutſchland
moderne Gemeinden — unabhängige Corporationen, die doch zugleich als
zuverläſſige Organe den Willen der Staatsgewalt vollſtreckten, der Auf-
ſicht der Regierungen unterworfen blieben. Bisher war ein Theil der
Städte jeder Selbſtändigkeit beraubt geweſen. Andere hatten, wie die
Grundherrſchaften des flachen Landes, kleine Staaten im Staate gebildet
mit patrimonialer Gerichtsbarkeit und Polizei, und wie oft waren die Ge-
bote des Königs an „Unſere Vaſallen, Amtleute, Magiſtrate und liebe
Getreue“ durch den paſſiven Widerſtand dieſer altſtändiſchen Communal-
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