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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Städteordnung.
herrschaften zu Schanden geworden. Jetzt endlich erhielt die Staatsver-
waltung in dem Städtewesen einen kräftigen Unterbau, der ihrem eigenen
staatlichen Charakter entsprach.

Auch diese Reform mußte der Nation durch den Befehl des Königs
aufgezwungen werden. Der märkische Adel und die alte Schule des Be-
amtenthums klagten über die republikanischen Grundsätze der Städteordnung.
Welch ein Entsetzen in diesen Kreisen, als man erfuhr, daß einer der ersten
Staatsbeamten, der Präsident v. Gerlach die Wahl zum Oberbürgermeister
von Berlin angenommen habe! Der ermattete Gemeinsinn des Bürgerthums
zeigte anfangs geringe Neigung für den erzwungenen Ehrendienst; auch ent-
deckte man bald, daß jede Selbstverwaltung theuer ist, während Stein und
seine Freunde vielmehr eine Verminderung der Kosten erwartet hatten. Die
von Friedrich Wilhelm I. regulirten, an strenge Haushaltung gewöhnten
Städte fanden sich meist williger in die neue Ordnung als die alten
Communen, die noch das Vetterschaftswesen selbstherrlicher Magistrate sich
bewahrt hatten. Das rechte Verständniß für den Segen ihrer Freiheit
erwachte den Bürgern jedoch erst während der Befreiungskriege, als die
Staatsbehörden fast überall ihre Arbeit einstellten und jede Stadt sich
selber helfen mußte. Seitdem erst kam unserem Städtewesen eine zweite
Blüthezeit, minder glänzend aber nicht weniger ehrenreich als die große
Epoche der Hansa; das Schulwesen, die Armenpflege, die gemeinnützigen
Stiftungen des deutschen Bürgerthums versuchten wieder zu wetteifern
mit der älteren und reicheren städtischen Cultur der Romanen. Wie der
erste Friedrich Wilhelm das moderne deutsche Verwaltungsbeamtenthum
geschaffen hatte, so wurde Steins Städteordnung der Ausgangspunkt für
die deutsche Selbstverwaltung. Auf ihr fußten alle die neuen Gemeinde-
gesetze, welche durch zwei Menschenalter, so lange der Parlamentarismus
noch unreif und unfertig dastand, den bewährtesten, den bestgesicherten
Theil deutscher Volksfreiheit gebildet haben. Durch Steins Reformen
wurde der lebendige Gemeinsinn, die Freude am verantwortlichen poli-
tischen Handeln wieder im deutschen Bürgerthum erweckt. Ihnen danken
wir, daß der deutsche constitutionelle Staat heute auf festem Boden steht,
daß unsere Anschauung vom Wesen der politischen Freiheit, so oft wir
auch irrten, doch nie so leer und schablonenhaft wurde wie die Doctrinen
der französischen Revolution.

Durch die Verluste des Tilsiter Friedens war Preußen wieder wesent-
lich ein Ackerbauland geworden. Darum dachte Stein der Städteordnung
so bald als möglich eine Landgemeinde-Ordnung folgen zu lassen. Er
verlangte freie Landgemeinden mit Schulzen und Dorfgerichten. Die letzten
und stärksten Stützen der altständischen Gesellschaftsordnung, die gutsherr-
liche Polizei und die Patrimonialgerichtsbarkeit, mußten fallen, denn Re-
gierung könne nur von der höchsten Gewalt ausgehen. An dem alt-
historischen Charakter des Landrathsamtes änderten Steins Pläne nichts;

Die Städteordnung.
herrſchaften zu Schanden geworden. Jetzt endlich erhielt die Staatsver-
waltung in dem Städteweſen einen kräftigen Unterbau, der ihrem eigenen
ſtaatlichen Charakter entſprach.

Auch dieſe Reform mußte der Nation durch den Befehl des Königs
aufgezwungen werden. Der märkiſche Adel und die alte Schule des Be-
amtenthums klagten über die republikaniſchen Grundſätze der Städteordnung.
Welch ein Entſetzen in dieſen Kreiſen, als man erfuhr, daß einer der erſten
Staatsbeamten, der Präſident v. Gerlach die Wahl zum Oberbürgermeiſter
von Berlin angenommen habe! Der ermattete Gemeinſinn des Bürgerthums
zeigte anfangs geringe Neigung für den erzwungenen Ehrendienſt; auch ent-
deckte man bald, daß jede Selbſtverwaltung theuer iſt, während Stein und
ſeine Freunde vielmehr eine Verminderung der Koſten erwartet hatten. Die
von Friedrich Wilhelm I. regulirten, an ſtrenge Haushaltung gewöhnten
Städte fanden ſich meiſt williger in die neue Ordnung als die alten
Communen, die noch das Vetterſchaftsweſen ſelbſtherrlicher Magiſtrate ſich
bewahrt hatten. Das rechte Verſtändniß für den Segen ihrer Freiheit
erwachte den Bürgern jedoch erſt während der Befreiungskriege, als die
Staatsbehörden faſt überall ihre Arbeit einſtellten und jede Stadt ſich
ſelber helfen mußte. Seitdem erſt kam unſerem Städteweſen eine zweite
Blüthezeit, minder glänzend aber nicht weniger ehrenreich als die große
Epoche der Hanſa; das Schulweſen, die Armenpflege, die gemeinnützigen
Stiftungen des deutſchen Bürgerthums verſuchten wieder zu wetteifern
mit der älteren und reicheren ſtädtiſchen Cultur der Romanen. Wie der
erſte Friedrich Wilhelm das moderne deutſche Verwaltungsbeamtenthum
geſchaffen hatte, ſo wurde Steins Städteordnung der Ausgangspunkt für
die deutſche Selbſtverwaltung. Auf ihr fußten alle die neuen Gemeinde-
geſetze, welche durch zwei Menſchenalter, ſo lange der Parlamentarismus
noch unreif und unfertig daſtand, den bewährteſten, den beſtgeſicherten
Theil deutſcher Volksfreiheit gebildet haben. Durch Steins Reformen
wurde der lebendige Gemeinſinn, die Freude am verantwortlichen poli-
tiſchen Handeln wieder im deutſchen Bürgerthum erweckt. Ihnen danken
wir, daß der deutſche conſtitutionelle Staat heute auf feſtem Boden ſteht,
daß unſere Anſchauung vom Weſen der politiſchen Freiheit, ſo oft wir
auch irrten, doch nie ſo leer und ſchablonenhaft wurde wie die Doctrinen
der franzöſiſchen Revolution.

Durch die Verluſte des Tilſiter Friedens war Preußen wieder weſent-
lich ein Ackerbauland geworden. Darum dachte Stein der Städteordnung
ſo bald als möglich eine Landgemeinde-Ordnung folgen zu laſſen. Er
verlangte freie Landgemeinden mit Schulzen und Dorfgerichten. Die letzten
und ſtärkſten Stützen der altſtändiſchen Geſellſchaftsordnung, die gutsherr-
liche Polizei und die Patrimonialgerichtsbarkeit, mußten fallen, denn Re-
gierung könne nur von der höchſten Gewalt ausgehen. An dem alt-
hiſtoriſchen Charakter des Landrathsamtes änderten Steins Pläne nichts;

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[285/0301] Die Städteordnung. herrſchaften zu Schanden geworden. Jetzt endlich erhielt die Staatsver- waltung in dem Städteweſen einen kräftigen Unterbau, der ihrem eigenen ſtaatlichen Charakter entſprach. Auch dieſe Reform mußte der Nation durch den Befehl des Königs aufgezwungen werden. Der märkiſche Adel und die alte Schule des Be- amtenthums klagten über die republikaniſchen Grundſätze der Städteordnung. Welch ein Entſetzen in dieſen Kreiſen, als man erfuhr, daß einer der erſten Staatsbeamten, der Präſident v. Gerlach die Wahl zum Oberbürgermeiſter von Berlin angenommen habe! Der ermattete Gemeinſinn des Bürgerthums zeigte anfangs geringe Neigung für den erzwungenen Ehrendienſt; auch ent- deckte man bald, daß jede Selbſtverwaltung theuer iſt, während Stein und ſeine Freunde vielmehr eine Verminderung der Koſten erwartet hatten. Die von Friedrich Wilhelm I. regulirten, an ſtrenge Haushaltung gewöhnten Städte fanden ſich meiſt williger in die neue Ordnung als die alten Communen, die noch das Vetterſchaftsweſen ſelbſtherrlicher Magiſtrate ſich bewahrt hatten. Das rechte Verſtändniß für den Segen ihrer Freiheit erwachte den Bürgern jedoch erſt während der Befreiungskriege, als die Staatsbehörden faſt überall ihre Arbeit einſtellten und jede Stadt ſich ſelber helfen mußte. Seitdem erſt kam unſerem Städteweſen eine zweite Blüthezeit, minder glänzend aber nicht weniger ehrenreich als die große Epoche der Hanſa; das Schulweſen, die Armenpflege, die gemeinnützigen Stiftungen des deutſchen Bürgerthums verſuchten wieder zu wetteifern mit der älteren und reicheren ſtädtiſchen Cultur der Romanen. Wie der erſte Friedrich Wilhelm das moderne deutſche Verwaltungsbeamtenthum geſchaffen hatte, ſo wurde Steins Städteordnung der Ausgangspunkt für die deutſche Selbſtverwaltung. Auf ihr fußten alle die neuen Gemeinde- geſetze, welche durch zwei Menſchenalter, ſo lange der Parlamentarismus noch unreif und unfertig daſtand, den bewährteſten, den beſtgeſicherten Theil deutſcher Volksfreiheit gebildet haben. Durch Steins Reformen wurde der lebendige Gemeinſinn, die Freude am verantwortlichen poli- tiſchen Handeln wieder im deutſchen Bürgerthum erweckt. Ihnen danken wir, daß der deutſche conſtitutionelle Staat heute auf feſtem Boden ſteht, daß unſere Anſchauung vom Weſen der politiſchen Freiheit, ſo oft wir auch irrten, doch nie ſo leer und ſchablonenhaft wurde wie die Doctrinen der franzöſiſchen Revolution. Durch die Verluſte des Tilſiter Friedens war Preußen wieder weſent- lich ein Ackerbauland geworden. Darum dachte Stein der Städteordnung ſo bald als möglich eine Landgemeinde-Ordnung folgen zu laſſen. Er verlangte freie Landgemeinden mit Schulzen und Dorfgerichten. Die letzten und ſtärkſten Stützen der altſtändiſchen Geſellſchaftsordnung, die gutsherr- liche Polizei und die Patrimonialgerichtsbarkeit, mußten fallen, denn Re- gierung könne nur von der höchſten Gewalt ausgehen. An dem alt- hiſtoriſchen Charakter des Landrathsamtes änderten Steins Pläne nichts;

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/301>, abgerufen am 09.11.2024.