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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
lands Kaufmannsselbstsucht und der Uebermuth der preußischen Offiziere
hatten das friedliebende Frankreich zum Kampfe gezwungen; und nichts
wollte Buchholz dem Staate Friedrichs weniger verzeihen als den un-
würdigen Bund mit der russischen Uncultur gegen die französische Cultur.

Die Verfasser dieser Libelle wurden die geistigen Ahnherren einer neuen
politischen Richtung, welche seitdem unter mannichfachen Formen und Namen
auf dem Berliner Boden heimisch und ein Krebsschaden des preußischen
Staates blieb, einer gewerbmäßigen Tadelsucht, die unerschöpflich im
Skandal, unendlich eingebildet und doch wehrlos gegen die Macht der
Phrase, immer mit großen Worten von Freiheit und Fortschritt prunkte
und ebenso regelmäßig die Zeichen der Zeit verkannte. Gemeinsam war
diesen Schriften auch ein echt deutscher Charakterzug, eine nationale
Schwäche, wovon nur wenige unserer Publicisten ganz frei geblieben sind:
die eigenthümliche Unfähigkeit die Dimensionen der Menschen und der
Dinge recht zu sehen, das Große und Echte von dem Kleinen und Ver-
gänglichen zu unterscheiden. Ganz in dem gleichen Tone wie Lombard
und Haugwitz wurden auch Hardenberg und Blücher von jenen Alles-
tadlern mißhandelt, und den Lesern blieb nur der trostlose Eindruck, daß
in dem faulen Holze dieses Staates kein Nagel mehr haften wolle.

Indeß die Noth des Tages drückte allzuschwer; das Volk dachte zu
ehrenhaft um sich noch lange beim rückwärtsschauenden Tadel aufzuhalten.
Wer ein Mann war blickte vorwärts, dem Tage der Freiheit entgegen.
Die Schmähschriften fielen platt zu Boden; selbst in Berlin fand die
Kritik der Lästerer geringen Anklang. Ein tiefer Ernst lagerte auf den
Gemüthern; es war als ob alle Menschen reiner und besser würden, als
ob der Zorn über den Untergang des Vaterlandes alle gemeinen und
niedrigen Regungen der Herzen ganz aufsöge. Niemals früher hatte ein
so lebendiges Gefühl der Gleichheit Hoch und Niedrig im deutschen Nor-
den verbunden; man rückte traulich zusammen wie die Hinterbliebenen im
verwaisten Hause. Unzählige Vermögen waren zerstört, der ganze Reich-
thum des preußischen Adels darauf gegangen; die willkürliche neue Länder-
vertheilung hatte den altgewohnten Verkehr ganzer Landestheile vernichtet;
tausende treuer Diener konnte der verstümmelte Staat nicht mehr be-
schäftigen. Wer jung ins Leben eintrat und dem Glückssterne der rhein-
bündischen Untreue nicht folgen wollte, fand nirgends eine Stätte zu
fröhlichem Wirken; man wußte in diesen napoleonischen Tagen nichts mit
sich anzufangen, wie Dahlmann, seiner harten Jugendzeit gedenkend, sagte.
Die Erbitterung wuchs und wuchs, und je weiter sich die Entscheidung
hinausschob, um so mächtiger und leidenschaftlicher ward der Glaube, dies
Eintagsgebilde der Fremdherrschaft könne und dürfe nicht dauern, diese
Verwüstung alles deutschen Lebens sei eine Sünde wider Gott und Ge-
schichte, sei der Fiebertraum eines hirnwüthigen Frevlers.

Während dieser Tage krampfhafter Aufregung erwachte in Nord-

I. 3. Preußens Erhebung.
lands Kaufmannsſelbſtſucht und der Uebermuth der preußiſchen Offiziere
hatten das friedliebende Frankreich zum Kampfe gezwungen; und nichts
wollte Buchholz dem Staate Friedrichs weniger verzeihen als den un-
würdigen Bund mit der ruſſiſchen Uncultur gegen die franzöſiſche Cultur.

Die Verfaſſer dieſer Libelle wurden die geiſtigen Ahnherren einer neuen
politiſchen Richtung, welche ſeitdem unter mannichfachen Formen und Namen
auf dem Berliner Boden heimiſch und ein Krebsſchaden des preußiſchen
Staates blieb, einer gewerbmäßigen Tadelſucht, die unerſchöpflich im
Skandal, unendlich eingebildet und doch wehrlos gegen die Macht der
Phraſe, immer mit großen Worten von Freiheit und Fortſchritt prunkte
und ebenſo regelmäßig die Zeichen der Zeit verkannte. Gemeinſam war
dieſen Schriften auch ein echt deutſcher Charakterzug, eine nationale
Schwäche, wovon nur wenige unſerer Publiciſten ganz frei geblieben ſind:
die eigenthümliche Unfähigkeit die Dimenſionen der Menſchen und der
Dinge recht zu ſehen, das Große und Echte von dem Kleinen und Ver-
gänglichen zu unterſcheiden. Ganz in dem gleichen Tone wie Lombard
und Haugwitz wurden auch Hardenberg und Blücher von jenen Alles-
tadlern mißhandelt, und den Leſern blieb nur der troſtloſe Eindruck, daß
in dem faulen Holze dieſes Staates kein Nagel mehr haften wolle.

Indeß die Noth des Tages drückte allzuſchwer; das Volk dachte zu
ehrenhaft um ſich noch lange beim rückwärtsſchauenden Tadel aufzuhalten.
Wer ein Mann war blickte vorwärts, dem Tage der Freiheit entgegen.
Die Schmähſchriften fielen platt zu Boden; ſelbſt in Berlin fand die
Kritik der Läſterer geringen Anklang. Ein tiefer Ernſt lagerte auf den
Gemüthern; es war als ob alle Menſchen reiner und beſſer würden, als
ob der Zorn über den Untergang des Vaterlandes alle gemeinen und
niedrigen Regungen der Herzen ganz aufſöge. Niemals früher hatte ein
ſo lebendiges Gefühl der Gleichheit Hoch und Niedrig im deutſchen Nor-
den verbunden; man rückte traulich zuſammen wie die Hinterbliebenen im
verwaiſten Hauſe. Unzählige Vermögen waren zerſtört, der ganze Reich-
thum des preußiſchen Adels darauf gegangen; die willkürliche neue Länder-
vertheilung hatte den altgewohnten Verkehr ganzer Landestheile vernichtet;
tauſende treuer Diener konnte der verſtümmelte Staat nicht mehr be-
ſchäftigen. Wer jung ins Leben eintrat und dem Glücksſterne der rhein-
bündiſchen Untreue nicht folgen wollte, fand nirgends eine Stätte zu
fröhlichem Wirken; man wußte in dieſen napoleoniſchen Tagen nichts mit
ſich anzufangen, wie Dahlmann, ſeiner harten Jugendzeit gedenkend, ſagte.
Die Erbitterung wuchs und wuchs, und je weiter ſich die Entſcheidung
hinausſchob, um ſo mächtiger und leidenſchaftlicher ward der Glaube, dies
Eintagsgebilde der Fremdherrſchaft könne und dürfe nicht dauern, dieſe
Verwüſtung alles deutſchen Lebens ſei eine Sünde wider Gott und Ge-
ſchichte, ſei der Fiebertraum eines hirnwüthigen Frevlers.

Während dieſer Tage krampfhafter Aufregung erwachte in Nord-

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[298/0314] I. 3. Preußens Erhebung. lands Kaufmannsſelbſtſucht und der Uebermuth der preußiſchen Offiziere hatten das friedliebende Frankreich zum Kampfe gezwungen; und nichts wollte Buchholz dem Staate Friedrichs weniger verzeihen als den un- würdigen Bund mit der ruſſiſchen Uncultur gegen die franzöſiſche Cultur. Die Verfaſſer dieſer Libelle wurden die geiſtigen Ahnherren einer neuen politiſchen Richtung, welche ſeitdem unter mannichfachen Formen und Namen auf dem Berliner Boden heimiſch und ein Krebsſchaden des preußiſchen Staates blieb, einer gewerbmäßigen Tadelſucht, die unerſchöpflich im Skandal, unendlich eingebildet und doch wehrlos gegen die Macht der Phraſe, immer mit großen Worten von Freiheit und Fortſchritt prunkte und ebenſo regelmäßig die Zeichen der Zeit verkannte. Gemeinſam war dieſen Schriften auch ein echt deutſcher Charakterzug, eine nationale Schwäche, wovon nur wenige unſerer Publiciſten ganz frei geblieben ſind: die eigenthümliche Unfähigkeit die Dimenſionen der Menſchen und der Dinge recht zu ſehen, das Große und Echte von dem Kleinen und Ver- gänglichen zu unterſcheiden. Ganz in dem gleichen Tone wie Lombard und Haugwitz wurden auch Hardenberg und Blücher von jenen Alles- tadlern mißhandelt, und den Leſern blieb nur der troſtloſe Eindruck, daß in dem faulen Holze dieſes Staates kein Nagel mehr haften wolle. Indeß die Noth des Tages drückte allzuſchwer; das Volk dachte zu ehrenhaft um ſich noch lange beim rückwärtsſchauenden Tadel aufzuhalten. Wer ein Mann war blickte vorwärts, dem Tage der Freiheit entgegen. Die Schmähſchriften fielen platt zu Boden; ſelbſt in Berlin fand die Kritik der Läſterer geringen Anklang. Ein tiefer Ernſt lagerte auf den Gemüthern; es war als ob alle Menſchen reiner und beſſer würden, als ob der Zorn über den Untergang des Vaterlandes alle gemeinen und niedrigen Regungen der Herzen ganz aufſöge. Niemals früher hatte ein ſo lebendiges Gefühl der Gleichheit Hoch und Niedrig im deutſchen Nor- den verbunden; man rückte traulich zuſammen wie die Hinterbliebenen im verwaiſten Hauſe. Unzählige Vermögen waren zerſtört, der ganze Reich- thum des preußiſchen Adels darauf gegangen; die willkürliche neue Länder- vertheilung hatte den altgewohnten Verkehr ganzer Landestheile vernichtet; tauſende treuer Diener konnte der verſtümmelte Staat nicht mehr be- ſchäftigen. Wer jung ins Leben eintrat und dem Glücksſterne der rhein- bündiſchen Untreue nicht folgen wollte, fand nirgends eine Stätte zu fröhlichem Wirken; man wußte in dieſen napoleoniſchen Tagen nichts mit ſich anzufangen, wie Dahlmann, ſeiner harten Jugendzeit gedenkend, ſagte. Die Erbitterung wuchs und wuchs, und je weiter ſich die Entſcheidung hinausſchob, um ſo mächtiger und leidenſchaftlicher ward der Glaube, dies Eintagsgebilde der Fremdherrſchaft könne und dürfe nicht dauern, dieſe Verwüſtung alles deutſchen Lebens ſei eine Sünde wider Gott und Ge- ſchichte, ſei der Fiebertraum eines hirnwüthigen Frevlers. Während dieſer Tage krampfhafter Aufregung erwachte in Nord-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/314>, abgerufen am 09.11.2024.