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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Idee der deutschen Einheit.
deutschland zuerst die Idee der deutschen Einheit -- recht eigentlich ein
Kind des Schmerzes, der historischen Sehnsucht, einer ebenso sehr poetischen
als politischen Begeisterung. Wie felsenfest hatte das achtzehnte Jahr-
hundert an die Ewigkeit seines römischen Reichs geglaubt. Wie zahm,
zufrieden und liebevoll hatte noch das Geschlecht der neunziger Jahre an
seinen Fürsten gehangen, als Georg Forster in dem Gedenkbuche des
Jahres 1790 mit beweglichen Worten die "menschenfreundliche Handlung
eines deutschen Fürsten" schilderte und Chodowiecki in einem Kupferstiche
diesen großen Menschenfreund verewigte -- den Erzherzog Max nämlich,
wie er einer Marktfrau den Korb auf den Kopf zu nehmen half! Jetzt
war das Reich dahin, die Deutschen waren kein Volk mehr, nur noch
Sprachgenossen. Wie bald konnte auch dies letzte Band zerreißen, da
das linke Rheinufer für immer der wälschen Gesittung verfallen schien
und im Königreich Westphalen die französische Amtssprache bis zur Elbe
hin herrschte; unsere Fürsten aber, die vielgeliebten, heißbewunderten,
trugen die Ketten des Fremdlings, sie alle bis auf zwei! Und mitten im
Niedergange ihres alten Volksthums blieb den Deutschen doch das stolze
Gefühl, daß die Welt ihrer nicht entbehren könne, daß sie eben jetzt, durch
ihre Dichter und Denker, für die Menschheit mehr gethan als jemals
ihre Besieger. Aus dem Jammer der Gegenwart flüchtete die Sehnsucht
in die fernen Zeiten deutscher Größe; das Kaiserthum, vor Kurzem noch
ein Kinderspott, erschien jetzt wieder als ein Ruhm der Nation. In allen
den aufgeregten Briefen, Reden und Schriften dieser bedrängten Tage
klingen die beiden bitteren Fragen wieder: warum sind die Deutschen als
Einzelne so groß, als Nation so gar nichts? warum sind die einst der
Welt Gesetze gaben jetzt den Fremden unter die Füße geworfen?

Die Dichter und Gelehrten waren gewohnt, vor einem idealen Deutsch-
land zu reden, über die Grenzen der Länder und Ländchen hinweg an alle
Söhne deutschen Blutes sich zu wenden. Nun da die Literatur mit politischer
Leidenschaft sich erfüllte, übertrug sie diese Anschauungen kurzerhand auf
den Staat. Fichte richtete seine politischen Ermahnungen als Deutscher
schlechtweg an Deutsche schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus
bei Seite setzend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige
Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Die
Deutschheit, die echte alte unverstümmelte deutsche Art sollte wieder zu
Ehren kommen. Eine hochherzige Schwärmerei pries in überschwänglicher
Begeisterung den angeborenen Adel deutschen Wesens, denn nur durch
die Ueberhebung konnte ein so unpolitisches Geschlecht wieder zur rechten
Schätzung des Heimathlichen, zum nationalen Selbstgefühle gelangen. An
die Stelle der alten leidsamen Ergebung trat ein verwegener Radicalis-
mus, der alle die Gebilde unserer neuen Geschichte als Werke des Zu-
falls und des Frevels verachtete: was blieb denn noch ehrwürdig und der
Schonung werth in diesem rheinbündischen Deutschland? Waren nur erst

Die Idee der deutſchen Einheit.
deutſchland zuerſt die Idee der deutſchen Einheit — recht eigentlich ein
Kind des Schmerzes, der hiſtoriſchen Sehnſucht, einer ebenſo ſehr poetiſchen
als politiſchen Begeiſterung. Wie felſenfeſt hatte das achtzehnte Jahr-
hundert an die Ewigkeit ſeines römiſchen Reichs geglaubt. Wie zahm,
zufrieden und liebevoll hatte noch das Geſchlecht der neunziger Jahre an
ſeinen Fürſten gehangen, als Georg Forſter in dem Gedenkbuche des
Jahres 1790 mit beweglichen Worten die „menſchenfreundliche Handlung
eines deutſchen Fürſten“ ſchilderte und Chodowiecki in einem Kupferſtiche
dieſen großen Menſchenfreund verewigte — den Erzherzog Max nämlich,
wie er einer Marktfrau den Korb auf den Kopf zu nehmen half! Jetzt
war das Reich dahin, die Deutſchen waren kein Volk mehr, nur noch
Sprachgenoſſen. Wie bald konnte auch dies letzte Band zerreißen, da
das linke Rheinufer für immer der wälſchen Geſittung verfallen ſchien
und im Königreich Weſtphalen die franzöſiſche Amtsſprache bis zur Elbe
hin herrſchte; unſere Fürſten aber, die vielgeliebten, heißbewunderten,
trugen die Ketten des Fremdlings, ſie alle bis auf zwei! Und mitten im
Niedergange ihres alten Volksthums blieb den Deutſchen doch das ſtolze
Gefühl, daß die Welt ihrer nicht entbehren könne, daß ſie eben jetzt, durch
ihre Dichter und Denker, für die Menſchheit mehr gethan als jemals
ihre Beſieger. Aus dem Jammer der Gegenwart flüchtete die Sehnſucht
in die fernen Zeiten deutſcher Größe; das Kaiſerthum, vor Kurzem noch
ein Kinderſpott, erſchien jetzt wieder als ein Ruhm der Nation. In allen
den aufgeregten Briefen, Reden und Schriften dieſer bedrängten Tage
klingen die beiden bitteren Fragen wieder: warum ſind die Deutſchen als
Einzelne ſo groß, als Nation ſo gar nichts? warum ſind die einſt der
Welt Geſetze gaben jetzt den Fremden unter die Füße geworfen?

Die Dichter und Gelehrten waren gewohnt, vor einem idealen Deutſch-
land zu reden, über die Grenzen der Länder und Ländchen hinweg an alle
Söhne deutſchen Blutes ſich zu wenden. Nun da die Literatur mit politiſcher
Leidenſchaft ſich erfüllte, übertrug ſie dieſe Anſchauungen kurzerhand auf
den Staat. Fichte richtete ſeine politiſchen Ermahnungen als Deutſcher
ſchlechtweg an Deutſche ſchlechtweg, nicht anerkennend, ſondern durchaus
bei Seite ſetzend alle die trennenden Unterſcheidungen, welche unſelige
Ereigniſſe ſeit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Die
Deutſchheit, die echte alte unverſtümmelte deutſche Art ſollte wieder zu
Ehren kommen. Eine hochherzige Schwärmerei pries in überſchwänglicher
Begeiſterung den angeborenen Adel deutſchen Weſens, denn nur durch
die Ueberhebung konnte ein ſo unpolitiſches Geſchlecht wieder zur rechten
Schätzung des Heimathlichen, zum nationalen Selbſtgefühle gelangen. An
die Stelle der alten leidſamen Ergebung trat ein verwegener Radicalis-
mus, der alle die Gebilde unſerer neuen Geſchichte als Werke des Zu-
falls und des Frevels verachtete: was blieb denn noch ehrwürdig und der
Schonung werth in dieſem rheinbündiſchen Deutſchland? Waren nur erſt

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[299/0315] Die Idee der deutſchen Einheit. deutſchland zuerſt die Idee der deutſchen Einheit — recht eigentlich ein Kind des Schmerzes, der hiſtoriſchen Sehnſucht, einer ebenſo ſehr poetiſchen als politiſchen Begeiſterung. Wie felſenfeſt hatte das achtzehnte Jahr- hundert an die Ewigkeit ſeines römiſchen Reichs geglaubt. Wie zahm, zufrieden und liebevoll hatte noch das Geſchlecht der neunziger Jahre an ſeinen Fürſten gehangen, als Georg Forſter in dem Gedenkbuche des Jahres 1790 mit beweglichen Worten die „menſchenfreundliche Handlung eines deutſchen Fürſten“ ſchilderte und Chodowiecki in einem Kupferſtiche dieſen großen Menſchenfreund verewigte — den Erzherzog Max nämlich, wie er einer Marktfrau den Korb auf den Kopf zu nehmen half! Jetzt war das Reich dahin, die Deutſchen waren kein Volk mehr, nur noch Sprachgenoſſen. Wie bald konnte auch dies letzte Band zerreißen, da das linke Rheinufer für immer der wälſchen Geſittung verfallen ſchien und im Königreich Weſtphalen die franzöſiſche Amtsſprache bis zur Elbe hin herrſchte; unſere Fürſten aber, die vielgeliebten, heißbewunderten, trugen die Ketten des Fremdlings, ſie alle bis auf zwei! Und mitten im Niedergange ihres alten Volksthums blieb den Deutſchen doch das ſtolze Gefühl, daß die Welt ihrer nicht entbehren könne, daß ſie eben jetzt, durch ihre Dichter und Denker, für die Menſchheit mehr gethan als jemals ihre Beſieger. Aus dem Jammer der Gegenwart flüchtete die Sehnſucht in die fernen Zeiten deutſcher Größe; das Kaiſerthum, vor Kurzem noch ein Kinderſpott, erſchien jetzt wieder als ein Ruhm der Nation. In allen den aufgeregten Briefen, Reden und Schriften dieſer bedrängten Tage klingen die beiden bitteren Fragen wieder: warum ſind die Deutſchen als Einzelne ſo groß, als Nation ſo gar nichts? warum ſind die einſt der Welt Geſetze gaben jetzt den Fremden unter die Füße geworfen? Die Dichter und Gelehrten waren gewohnt, vor einem idealen Deutſch- land zu reden, über die Grenzen der Länder und Ländchen hinweg an alle Söhne deutſchen Blutes ſich zu wenden. Nun da die Literatur mit politiſcher Leidenſchaft ſich erfüllte, übertrug ſie dieſe Anſchauungen kurzerhand auf den Staat. Fichte richtete ſeine politiſchen Ermahnungen als Deutſcher ſchlechtweg an Deutſche ſchlechtweg, nicht anerkennend, ſondern durchaus bei Seite ſetzend alle die trennenden Unterſcheidungen, welche unſelige Ereigniſſe ſeit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Die Deutſchheit, die echte alte unverſtümmelte deutſche Art ſollte wieder zu Ehren kommen. Eine hochherzige Schwärmerei pries in überſchwänglicher Begeiſterung den angeborenen Adel deutſchen Weſens, denn nur durch die Ueberhebung konnte ein ſo unpolitiſches Geſchlecht wieder zur rechten Schätzung des Heimathlichen, zum nationalen Selbſtgefühle gelangen. An die Stelle der alten leidſamen Ergebung trat ein verwegener Radicalis- mus, der alle die Gebilde unſerer neuen Geſchichte als Werke des Zu- falls und des Frevels verachtete: was blieb denn noch ehrwürdig und der Schonung werth in dieſem rheinbündiſchen Deutſchland? Waren nur erſt

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/315>, abgerufen am 22.11.2024.