blieb der große Name des Vaterlandes dem geringen Manne lange nur ein unbestimmtes Wort, eine wundervolle Verheißung, und die ehrliche Liebe zum einigen Deutschland vertrug sich wohl mit einem engherzigen, handfesten Particularismus.
In Preußen stand die alte Königstreue zu fest, als daß sich die Hoff- nungen der Patrioten so ganz ins Grenzenlose hätten verlieren können. Es ist kein Zufall, daß Keiner unter den Publicisten und Volksrednern der Zeit so viel nüchterne realpolitische Einsicht zeigte, wie Schleiermacher, der geborene Preuße: wenn er von Deutschlands Befreiung sprach, so blieb ihm die Wiederherstellung der alten preußischen Macht immer die selbst- verständliche Voraussetzung. Wenn Schenkendorf in begeisterten Versen vom Kaiser und vom Reiche predigte, wenn Heinrich Kleist die Deutschen beschwor, "voran den Kaiser" in den heiligen Krieg zu ziehen, so nahmen auch sie stillschweigend an, daß Preußen unter diesem neuen Kaiserthum eine würdige Stelle behaupten müsse. Auf dem Turnplatze in der Hasen- haide, in den Kreisen von Jahn, Harnisch und Friesen, vernahm man sogar schon die zuversichtliche Weissagung: Preußen habe immerdar Deutschlands Schwert geführt und müsse in dem neuen Reiche die Krone tragen. Fichte dagegen wuchs erst nach und nach in diese preußischen Anschauungen hin- ein, gelangte erst im Frühjahr 1813 zu der Erkenntniß, daß allein der König von Preußen "der Zwingherr zur Deutschheit" werden könne. Auch Arndt lernte erst durch Preußens Siege die Nothwendigkeit der frideri- cianischen Staatsbildung verstehen. Gemeinsam war aber allen jugend- lichen Patrioten, auch den Preußen, der kindliche Glaube an ein unbe- stimmtes wunderbares Glück, das da kommen müsse wenn Deutschland nur erst wieder sich selber angehöre. Die ganze Macht überschwänglicher Gefühle, die sich in dem classischen Zeitalter unserer Dichtung ange- sammelt hatte, ergoß sich jetzt in das politische Leben. Niemals hatte die norddeutsche Jugend so stolz, so groß gedacht von sich selber und von der Zukunft ihres Volkes, wie jetzt da dies Land vernichtet schien; ihr war kein Zweifel, das ganze große Deutschland, das einträchtig wie eine an- dächtige Gemeinde den Worten seiner Dichter gelauscht hatte, mußte als eine geschlossene Macht wieder eintreten in die Reihe der Völker. Doch nirgends ein Versuch zur Bildung einer politischen Partei mit klar be- grenzten erreichbaren Zielen; nicht einmal ein Meinungskampf über die Frage, in welchen Formen sich das verjüngte Vaterland neu gestalten sollte. Aus der Fülle von Ahnungen und Hoffnungen, welche die un- geduldigen Gemüther bewegte, trat nur ein einziger greifbarer politischer Gedanke hervor -- und dieser eine freilich ward mit grimmigem Ernst er- griffen -- der Entschluß zum Kampfe gegen die Herrschaft der Fremden.
Noch anderthalb Jahre nach dem Frieden blieb der Feind im Lande, und auch nachher, als die französischen Truppen Preußen endlich ge- räumt hatten, stand ganz Deutschland unter der scharfen Aufsicht der
Das neue Deutſchthum.
blieb der große Name des Vaterlandes dem geringen Manne lange nur ein unbeſtimmtes Wort, eine wundervolle Verheißung, und die ehrliche Liebe zum einigen Deutſchland vertrug ſich wohl mit einem engherzigen, handfeſten Particularismus.
In Preußen ſtand die alte Königstreue zu feſt, als daß ſich die Hoff- nungen der Patrioten ſo ganz ins Grenzenloſe hätten verlieren können. Es iſt kein Zufall, daß Keiner unter den Publiciſten und Volksrednern der Zeit ſo viel nüchterne realpolitiſche Einſicht zeigte, wie Schleiermacher, der geborene Preuße: wenn er von Deutſchlands Befreiung ſprach, ſo blieb ihm die Wiederherſtellung der alten preußiſchen Macht immer die ſelbſt- verſtändliche Vorausſetzung. Wenn Schenkendorf in begeiſterten Verſen vom Kaiſer und vom Reiche predigte, wenn Heinrich Kleiſt die Deutſchen beſchwor, „voran den Kaiſer“ in den heiligen Krieg zu ziehen, ſo nahmen auch ſie ſtillſchweigend an, daß Preußen unter dieſem neuen Kaiſerthum eine würdige Stelle behaupten müſſe. Auf dem Turnplatze in der Haſen- haide, in den Kreiſen von Jahn, Harniſch und Frieſen, vernahm man ſogar ſchon die zuverſichtliche Weiſſagung: Preußen habe immerdar Deutſchlands Schwert geführt und müſſe in dem neuen Reiche die Krone tragen. Fichte dagegen wuchs erſt nach und nach in dieſe preußiſchen Anſchauungen hin- ein, gelangte erſt im Frühjahr 1813 zu der Erkenntniß, daß allein der König von Preußen „der Zwingherr zur Deutſchheit“ werden könne. Auch Arndt lernte erſt durch Preußens Siege die Nothwendigkeit der frideri- cianiſchen Staatsbildung verſtehen. Gemeinſam war aber allen jugend- lichen Patrioten, auch den Preußen, der kindliche Glaube an ein unbe- ſtimmtes wunderbares Glück, das da kommen müſſe wenn Deutſchland nur erſt wieder ſich ſelber angehöre. Die ganze Macht überſchwänglicher Gefühle, die ſich in dem claſſiſchen Zeitalter unſerer Dichtung ange- ſammelt hatte, ergoß ſich jetzt in das politiſche Leben. Niemals hatte die norddeutſche Jugend ſo ſtolz, ſo groß gedacht von ſich ſelber und von der Zukunft ihres Volkes, wie jetzt da dies Land vernichtet ſchien; ihr war kein Zweifel, das ganze große Deutſchland, das einträchtig wie eine an- dächtige Gemeinde den Worten ſeiner Dichter gelauſcht hatte, mußte als eine geſchloſſene Macht wieder eintreten in die Reihe der Völker. Doch nirgends ein Verſuch zur Bildung einer politiſchen Partei mit klar be- grenzten erreichbaren Zielen; nicht einmal ein Meinungskampf über die Frage, in welchen Formen ſich das verjüngte Vaterland neu geſtalten ſollte. Aus der Fülle von Ahnungen und Hoffnungen, welche die un- geduldigen Gemüther bewegte, trat nur ein einziger greifbarer politiſcher Gedanke hervor — und dieſer eine freilich ward mit grimmigem Ernſt er- griffen — der Entſchluß zum Kampfe gegen die Herrſchaft der Fremden.
Noch anderthalb Jahre nach dem Frieden blieb der Feind im Lande, und auch nachher, als die franzöſiſchen Truppen Preußen endlich ge- räumt hatten, ſtand ganz Deutſchland unter der ſcharfen Aufſicht der
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Das neue Deutſchthum.
blieb der große Name des Vaterlandes dem geringen Manne lange nur
ein unbeſtimmtes Wort, eine wundervolle Verheißung, und die ehrliche
Liebe zum einigen Deutſchland vertrug ſich wohl mit einem engherzigen,
handfeſten Particularismus.
In Preußen ſtand die alte Königstreue zu feſt, als daß ſich die Hoff-
nungen der Patrioten ſo ganz ins Grenzenloſe hätten verlieren können.
Es iſt kein Zufall, daß Keiner unter den Publiciſten und Volksrednern
der Zeit ſo viel nüchterne realpolitiſche Einſicht zeigte, wie Schleiermacher,
der geborene Preuße: wenn er von Deutſchlands Befreiung ſprach, ſo blieb
ihm die Wiederherſtellung der alten preußiſchen Macht immer die ſelbſt-
verſtändliche Vorausſetzung. Wenn Schenkendorf in begeiſterten Verſen
vom Kaiſer und vom Reiche predigte, wenn Heinrich Kleiſt die Deutſchen
beſchwor, „voran den Kaiſer“ in den heiligen Krieg zu ziehen, ſo nahmen
auch ſie ſtillſchweigend an, daß Preußen unter dieſem neuen Kaiſerthum
eine würdige Stelle behaupten müſſe. Auf dem Turnplatze in der Haſen-
haide, in den Kreiſen von Jahn, Harniſch und Frieſen, vernahm man ſogar
ſchon die zuverſichtliche Weiſſagung: Preußen habe immerdar Deutſchlands
Schwert geführt und müſſe in dem neuen Reiche die Krone tragen. Fichte
dagegen wuchs erſt nach und nach in dieſe preußiſchen Anſchauungen hin-
ein, gelangte erſt im Frühjahr 1813 zu der Erkenntniß, daß allein der
König von Preußen „der Zwingherr zur Deutſchheit“ werden könne. Auch
Arndt lernte erſt durch Preußens Siege die Nothwendigkeit der frideri-
cianiſchen Staatsbildung verſtehen. Gemeinſam war aber allen jugend-
lichen Patrioten, auch den Preußen, der kindliche Glaube an ein unbe-
ſtimmtes wunderbares Glück, das da kommen müſſe wenn Deutſchland
nur erſt wieder ſich ſelber angehöre. Die ganze Macht überſchwänglicher
Gefühle, die ſich in dem claſſiſchen Zeitalter unſerer Dichtung ange-
ſammelt hatte, ergoß ſich jetzt in das politiſche Leben. Niemals hatte die
norddeutſche Jugend ſo ſtolz, ſo groß gedacht von ſich ſelber und von der
Zukunft ihres Volkes, wie jetzt da dies Land vernichtet ſchien; ihr war
kein Zweifel, das ganze große Deutſchland, das einträchtig wie eine an-
dächtige Gemeinde den Worten ſeiner Dichter gelauſcht hatte, mußte als
eine geſchloſſene Macht wieder eintreten in die Reihe der Völker. Doch
nirgends ein Verſuch zur Bildung einer politiſchen Partei mit klar be-
grenzten erreichbaren Zielen; nicht einmal ein Meinungskampf über die
Frage, in welchen Formen ſich das verjüngte Vaterland neu geſtalten
ſollte. Aus der Fülle von Ahnungen und Hoffnungen, welche die un-
geduldigen Gemüther bewegte, trat nur ein einziger greifbarer politiſcher
Gedanke hervor — und dieſer eine freilich ward mit grimmigem Ernſt er-
griffen — der Entſchluß zum Kampfe gegen die Herrſchaft der Fremden.
Noch anderthalb Jahre nach dem Frieden blieb der Feind im Lande,
und auch nachher, als die franzöſiſchen Truppen Preußen endlich ge-
räumt hatten, ſtand ganz Deutſchland unter der ſcharfen Aufſicht der
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/317>, abgerufen am 09.11.2024.
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