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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
Wissenschaft bei den kleinen Leuten in die Schule, hörte andächtig auf das
Geplauder der Spinnstuben und der Schützenhöfe. Eine alte Bauerfrau
half den Brüdern Grimm bei der Sammlung der deutschen Volksmärchen,
und so entstand ein Buch wie Luthers Bibel: ein edles Gemeingut der
europäischen Völker erhielt durch congeniale Nachdichtung sein bleibendes
nationales Gepräge. Die altindischen Märchengestalten, der Däumling,
Hans im Glücke, Dornröschen und Schneeweißchen, zeigten so grundehr-
liche deutsche Gesichter, die einfältige Heiterkeit, die ihnen auf der weiten
Wanderung durch Deutschlands Kinderstuben angeflogen war, sprach so
anheimelnd aus der schmucklos treuherzigen Erzählung, daß wir uns heute
die Lieblinge unserer Kindheit nur noch in dieser Gestalt denken können,
wie wir auch die Bergpredigt nur mit Luthers Worten hören wollen.

Um die nämliche Zeit wurde ein anderer, noch ärger verwahrloster
Schatz der Vorzeit der Nation wieder geschenkt. Was hatten doch unsere
alten Dome Alles ausstehen müssen von der Selbstverliebtheit des letzten
Jahrhunderts; die Bilderpracht ihrer Wände war mit Gips und Mörtel
überdeckt, an den gothischen Altären klebten Propfenziehersäulen und Po-
saunenengel. Nun führten der Kirchenhaß und der harte Nützlichkeits-
sinn der rheinbündisch-französischen Bureaukratie einen neuen Bildersturm
über Baiern, Schwaben und die Rheinlande herauf. Eine Menge ehr-
würdiger Kirchen ward ausgeplündert und kam unter den Hammer; ein
jammervoller Anblick, wenn beim Abbrechen der Mauern der Mörtel her-
abfiel und die schönen alten Fresken auf wenige Augenblicke wieder im
Tageslichte glänzten um alsbald für immer zu verschwinden. Da faßten
sich die Brüder Boisseree das Herz, zu retten was noch zu retten war
aus der großen Zerstörung; ihre stille treue Thätigkeit war das erste
Lebenszeichen der wiedererwachenden deutschen Gesinnung am linken Ufer.
Unermüdlich suchten sie unter dem Gerümpel auf den Böden der rheinischen
Patricierhäuser die vergessenen altdeutschen Gemälde zusammen. Ihre alte
Mutter begleitete das fromme Werk mit ihrem Segen, die romantischen
Freunde draußen im Reiche halfen treulich mit. Wie freuten sich Görres und
Savigny, wenn sie ein schönes Altarschnitzwerk für wenige Kreuzer irgendwo
von einem Bauern oder Trödler erstanden hatten und den Brüdern senden
konnten. Alles war willkommen und fand Bewunderung was nur die
echten Züge altdeutschen Geistes trug: die idealistische Weichheit der Köl-
nischen Malerschule so gut wie Dürers Tiefsinn und der kräftige Realis-
mus der alten Niederländer. Dann fand Sulpiz Boisseree einige der alten
Risse des Kölner Domes wieder auf und entwarf nun frohen Muthes die
Zeichnungen für sein großes Dom-Werk. Mitten in den argen Tagen, da
Napoleon einmal seine gute Stadt Köln besuchte und das schönste Gottes-
haus der Deutschen nach wenigen Minuten eilig wieder verließ um ein
Kürassierregiment zu inspiciren, träumte jener treue Sohn des Rheinlandes
schon von dem Wiederauferstehen der Kölner Bauhütte, die einst durch

I. 3. Preußens Erhebung.
Wiſſenſchaft bei den kleinen Leuten in die Schule, hörte andächtig auf das
Geplauder der Spinnſtuben und der Schützenhöfe. Eine alte Bauerfrau
half den Brüdern Grimm bei der Sammlung der deutſchen Volksmärchen,
und ſo entſtand ein Buch wie Luthers Bibel: ein edles Gemeingut der
europäiſchen Völker erhielt durch congeniale Nachdichtung ſein bleibendes
nationales Gepräge. Die altindiſchen Märchengeſtalten, der Däumling,
Hans im Glücke, Dornröschen und Schneeweißchen, zeigten ſo grundehr-
liche deutſche Geſichter, die einfältige Heiterkeit, die ihnen auf der weiten
Wanderung durch Deutſchlands Kinderſtuben angeflogen war, ſprach ſo
anheimelnd aus der ſchmucklos treuherzigen Erzählung, daß wir uns heute
die Lieblinge unſerer Kindheit nur noch in dieſer Geſtalt denken können,
wie wir auch die Bergpredigt nur mit Luthers Worten hören wollen.

Um die nämliche Zeit wurde ein anderer, noch ärger verwahrloſter
Schatz der Vorzeit der Nation wieder geſchenkt. Was hatten doch unſere
alten Dome Alles ausſtehen müſſen von der Selbſtverliebtheit des letzten
Jahrhunderts; die Bilderpracht ihrer Wände war mit Gips und Mörtel
überdeckt, an den gothiſchen Altären klebten Propfenzieherſäulen und Po-
ſaunenengel. Nun führten der Kirchenhaß und der harte Nützlichkeits-
ſinn der rheinbündiſch-franzöſiſchen Bureaukratie einen neuen Bilderſturm
über Baiern, Schwaben und die Rheinlande herauf. Eine Menge ehr-
würdiger Kirchen ward ausgeplündert und kam unter den Hammer; ein
jammervoller Anblick, wenn beim Abbrechen der Mauern der Mörtel her-
abfiel und die ſchönen alten Fresken auf wenige Augenblicke wieder im
Tageslichte glänzten um alsbald für immer zu verſchwinden. Da faßten
ſich die Brüder Boiſſeree das Herz, zu retten was noch zu retten war
aus der großen Zerſtörung; ihre ſtille treue Thätigkeit war das erſte
Lebenszeichen der wiedererwachenden deutſchen Geſinnung am linken Ufer.
Unermüdlich ſuchten ſie unter dem Gerümpel auf den Böden der rheiniſchen
Patricierhäuſer die vergeſſenen altdeutſchen Gemälde zuſammen. Ihre alte
Mutter begleitete das fromme Werk mit ihrem Segen, die romantiſchen
Freunde draußen im Reiche halfen treulich mit. Wie freuten ſich Görres und
Savigny, wenn ſie ein ſchönes Altarſchnitzwerk für wenige Kreuzer irgendwo
von einem Bauern oder Trödler erſtanden hatten und den Brüdern ſenden
konnten. Alles war willkommen und fand Bewunderung was nur die
echten Züge altdeutſchen Geiſtes trug: die idealiſtiſche Weichheit der Köl-
niſchen Malerſchule ſo gut wie Dürers Tiefſinn und der kräftige Realis-
mus der alten Niederländer. Dann fand Sulpiz Boiſſeree einige der alten
Riſſe des Kölner Domes wieder auf und entwarf nun frohen Muthes die
Zeichnungen für ſein großes Dom-Werk. Mitten in den argen Tagen, da
Napoleon einmal ſeine gute Stadt Köln beſuchte und das ſchönſte Gottes-
haus der Deutſchen nach wenigen Minuten eilig wieder verließ um ein
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ſchon von dem Wiederauferſtehen der Kölner Bauhütte, die einſt durch

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[312/0328] I. 3. Preußens Erhebung. Wiſſenſchaft bei den kleinen Leuten in die Schule, hörte andächtig auf das Geplauder der Spinnſtuben und der Schützenhöfe. Eine alte Bauerfrau half den Brüdern Grimm bei der Sammlung der deutſchen Volksmärchen, und ſo entſtand ein Buch wie Luthers Bibel: ein edles Gemeingut der europäiſchen Völker erhielt durch congeniale Nachdichtung ſein bleibendes nationales Gepräge. Die altindiſchen Märchengeſtalten, der Däumling, Hans im Glücke, Dornröschen und Schneeweißchen, zeigten ſo grundehr- liche deutſche Geſichter, die einfältige Heiterkeit, die ihnen auf der weiten Wanderung durch Deutſchlands Kinderſtuben angeflogen war, ſprach ſo anheimelnd aus der ſchmucklos treuherzigen Erzählung, daß wir uns heute die Lieblinge unſerer Kindheit nur noch in dieſer Geſtalt denken können, wie wir auch die Bergpredigt nur mit Luthers Worten hören wollen. Um die nämliche Zeit wurde ein anderer, noch ärger verwahrloſter Schatz der Vorzeit der Nation wieder geſchenkt. Was hatten doch unſere alten Dome Alles ausſtehen müſſen von der Selbſtverliebtheit des letzten Jahrhunderts; die Bilderpracht ihrer Wände war mit Gips und Mörtel überdeckt, an den gothiſchen Altären klebten Propfenzieherſäulen und Po- ſaunenengel. Nun führten der Kirchenhaß und der harte Nützlichkeits- ſinn der rheinbündiſch-franzöſiſchen Bureaukratie einen neuen Bilderſturm über Baiern, Schwaben und die Rheinlande herauf. Eine Menge ehr- würdiger Kirchen ward ausgeplündert und kam unter den Hammer; ein jammervoller Anblick, wenn beim Abbrechen der Mauern der Mörtel her- abfiel und die ſchönen alten Fresken auf wenige Augenblicke wieder im Tageslichte glänzten um alsbald für immer zu verſchwinden. Da faßten ſich die Brüder Boiſſeree das Herz, zu retten was noch zu retten war aus der großen Zerſtörung; ihre ſtille treue Thätigkeit war das erſte Lebenszeichen der wiedererwachenden deutſchen Geſinnung am linken Ufer. Unermüdlich ſuchten ſie unter dem Gerümpel auf den Böden der rheiniſchen Patricierhäuſer die vergeſſenen altdeutſchen Gemälde zuſammen. Ihre alte Mutter begleitete das fromme Werk mit ihrem Segen, die romantiſchen Freunde draußen im Reiche halfen treulich mit. Wie freuten ſich Görres und Savigny, wenn ſie ein ſchönes Altarſchnitzwerk für wenige Kreuzer irgendwo von einem Bauern oder Trödler erſtanden hatten und den Brüdern ſenden konnten. Alles war willkommen und fand Bewunderung was nur die echten Züge altdeutſchen Geiſtes trug: die idealiſtiſche Weichheit der Köl- niſchen Malerſchule ſo gut wie Dürers Tiefſinn und der kräftige Realis- mus der alten Niederländer. Dann fand Sulpiz Boiſſeree einige der alten Riſſe des Kölner Domes wieder auf und entwarf nun frohen Muthes die Zeichnungen für ſein großes Dom-Werk. Mitten in den argen Tagen, da Napoleon einmal ſeine gute Stadt Köln beſuchte und das ſchönſte Gottes- haus der Deutſchen nach wenigen Minuten eilig wieder verließ um ein Küraſſierregiment zu inſpiciren, träumte jener treue Sohn des Rheinlandes ſchon von dem Wiederauferſtehen der Kölner Bauhütte, die einſt durch

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/328>, abgerufen am 09.11.2024.