Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Erhebung Spaniens.
derte als Gegenleistung eine nochmalige Verstümmelung des preußischen
Staates. Alexander konnte sich nicht verbergen, daß diese unheimlichen
Pläne für Rußland ebenso bedenklich waren wie für Deutschland. Später
erhielt man in Petersburg auch Nachrichten über die Umtriebe der fran-
zösischen Agenten im Oriente; in Teheran wie in Constantinopel suchte
Frankreich die Pläne seines nordischen Verbündeten insgeheim zu durch-
kreuzen. Der Tilsiter Bund war durch dieselbe Kraft, die ihn begründet,
durch die frivole Ländergier bereits in seinen Fugen erschüttert.

Da wurde der Imperator durch eine selbstverschuldete Bedrängniß
genöthigt, das wankende Bündniß nochmals zu befestigen. Die Welt hatte
sich längst darein gefunden, in jedem neuen Monat von neuen Gewalt-
streichen zu vernehmen. So erfuhr sie jetzt Schlag auf Schlag, daß Ost-
friesland mit Holland vereinigt worden, daß Toscana dem französischen
Kaiserreiche, die adriatischen Provinzen des Kirchenstaates dem Königreich
Italien einverleibt seien, daß Napoleons Truppen in Rom eingerückt, daß
sie in Portugal eingebrochen waren und das Haus Braganza aufgehört
hatte zu regieren. Aber fast unglaublich klangen selbst dieser des Grauens
gewohnten Zeit die entsetzlichen Nachrichten, die im Mai 1808 aus dem
Schlosse Marrac bei Bayonne kamen: wie Napoleon die spanischen Bour-
bonen zu sich gelockt, wie er dann den Vater und den Sohn gleich wüthen-
den Bestien auf einander gehetzt, Beide zur Abdankung gezwungen und
seinen Bruder Joseph auf den spanischen Thron erhoben hatte. Er
schwelgte in Banditenstreichen; eben dort brachte er jenes schmutzige Han-
delsgeschäft mit der Krone Sachsen-Warschau zu Stande. In sechs Wochen
dachte er der spanischen Wirren ledig zu sein und das alte Wort: "es
giebt keine Pyrenäen mehr!" zur Wahrheit zu machen. Aber die Strafe
folgte dem Frevel auf dem Fuße. Ganz Spanien erhob sich wie ein
Mann für seine Unabhängigkeit, für die Rechte seines Königshauses und
seiner alten Kirche. Die Halbinsel starrte von Waffen. Die hochherzige
Nation hatte die beiden jüngsten Jahrhunderte in einem wachen Traum-
leben verbracht, kaum berührt von den Ideen des neuen Europas; sie
stürmte in den ungleichen Kampf mit maßlosem Selbstgefühl, ohne jede
Ahnung von der Stärke des Feindes, sie wähnte noch immer das mäch-
tigste und das höchstgebildete Volk der Welt zu sein: wer durfte dem
Reiche, in dem die Sonne nicht unterging, etwas anhaben? Niemand im
Lande glaubte an die Abdankung des Königs Ferdinand. Alle edlen und
alle finsteren Leidenschaften der Spanier gährten in dem furchtbaren Auf-
stande dieser Royalisten ohne König wild durcheinander: ihr patriotischer
Stolz, ihre Treue, ihr Heldenmuth, aber auch ihr starrer Fremdenhaß,
ihre bigotte Unduldsamkeit, ihre unmenschliche Grausamkeit; und zugleich
erwachten in dem unerfahrenen, sich selber überlassenen Volke die unklaren
Träume des politischen Radicalismus.

Die englische Politik erkannte schnell, daß sie jetzt den Feind an einer

21*

Die Erhebung Spaniens.
derte als Gegenleiſtung eine nochmalige Verſtümmelung des preußiſchen
Staates. Alexander konnte ſich nicht verbergen, daß dieſe unheimlichen
Pläne für Rußland ebenſo bedenklich waren wie für Deutſchland. Später
erhielt man in Petersburg auch Nachrichten über die Umtriebe der fran-
zöſiſchen Agenten im Oriente; in Teheran wie in Conſtantinopel ſuchte
Frankreich die Pläne ſeines nordiſchen Verbündeten insgeheim zu durch-
kreuzen. Der Tilſiter Bund war durch dieſelbe Kraft, die ihn begründet,
durch die frivole Ländergier bereits in ſeinen Fugen erſchüttert.

Da wurde der Imperator durch eine ſelbſtverſchuldete Bedrängniß
genöthigt, das wankende Bündniß nochmals zu befeſtigen. Die Welt hatte
ſich längſt darein gefunden, in jedem neuen Monat von neuen Gewalt-
ſtreichen zu vernehmen. So erfuhr ſie jetzt Schlag auf Schlag, daß Oſt-
friesland mit Holland vereinigt worden, daß Toscana dem franzöſiſchen
Kaiſerreiche, die adriatiſchen Provinzen des Kirchenſtaates dem Königreich
Italien einverleibt ſeien, daß Napoleons Truppen in Rom eingerückt, daß
ſie in Portugal eingebrochen waren und das Haus Braganza aufgehört
hatte zu regieren. Aber faſt unglaublich klangen ſelbſt dieſer des Grauens
gewohnten Zeit die entſetzlichen Nachrichten, die im Mai 1808 aus dem
Schloſſe Marrac bei Bayonne kamen: wie Napoleon die ſpaniſchen Bour-
bonen zu ſich gelockt, wie er dann den Vater und den Sohn gleich wüthen-
den Beſtien auf einander gehetzt, Beide zur Abdankung gezwungen und
ſeinen Bruder Joſeph auf den ſpaniſchen Thron erhoben hatte. Er
ſchwelgte in Banditenſtreichen; eben dort brachte er jenes ſchmutzige Han-
delsgeſchäft mit der Krone Sachſen-Warſchau zu Stande. In ſechs Wochen
dachte er der ſpaniſchen Wirren ledig zu ſein und das alte Wort: „es
giebt keine Pyrenäen mehr!“ zur Wahrheit zu machen. Aber die Strafe
folgte dem Frevel auf dem Fuße. Ganz Spanien erhob ſich wie ein
Mann für ſeine Unabhängigkeit, für die Rechte ſeines Königshauſes und
ſeiner alten Kirche. Die Halbinſel ſtarrte von Waffen. Die hochherzige
Nation hatte die beiden jüngſten Jahrhunderte in einem wachen Traum-
leben verbracht, kaum berührt von den Ideen des neuen Europas; ſie
ſtürmte in den ungleichen Kampf mit maßloſem Selbſtgefühl, ohne jede
Ahnung von der Stärke des Feindes, ſie wähnte noch immer das mäch-
tigſte und das höchſtgebildete Volk der Welt zu ſein: wer durfte dem
Reiche, in dem die Sonne nicht unterging, etwas anhaben? Niemand im
Lande glaubte an die Abdankung des Königs Ferdinand. Alle edlen und
alle finſteren Leidenſchaften der Spanier gährten in dem furchtbaren Auf-
ſtande dieſer Royaliſten ohne König wild durcheinander: ihr patriotiſcher
Stolz, ihre Treue, ihr Heldenmuth, aber auch ihr ſtarrer Fremdenhaß,
ihre bigotte Unduldſamkeit, ihre unmenſchliche Grauſamkeit; und zugleich
erwachten in dem unerfahrenen, ſich ſelber überlaſſenen Volke die unklaren
Träume des politiſchen Radicalismus.

Die engliſche Politik erkannte ſchnell, daß ſie jetzt den Feind an einer

21*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0339" n="323"/><fw place="top" type="header">Die Erhebung Spaniens.</fw><lb/>
derte als Gegenlei&#x017F;tung eine nochmalige Ver&#x017F;tümmelung des preußi&#x017F;chen<lb/>
Staates. Alexander konnte &#x017F;ich nicht verbergen, daß die&#x017F;e unheimlichen<lb/>
Pläne für Rußland eben&#x017F;o bedenklich waren wie für Deut&#x017F;chland. Später<lb/>
erhielt man in Petersburg auch Nachrichten über die Umtriebe der fran-<lb/>&#x017F;i&#x017F;chen Agenten im Oriente; in Teheran wie in Con&#x017F;tantinopel &#x017F;uchte<lb/>
Frankreich die Pläne &#x017F;eines nordi&#x017F;chen Verbündeten insgeheim zu durch-<lb/>
kreuzen. Der Til&#x017F;iter Bund war durch die&#x017F;elbe Kraft, die ihn begründet,<lb/>
durch die frivole Ländergier bereits in &#x017F;einen Fugen er&#x017F;chüttert.</p><lb/>
            <p>Da wurde der Imperator durch eine &#x017F;elb&#x017F;tver&#x017F;chuldete Bedrängniß<lb/>
genöthigt, das wankende Bündniß nochmals zu befe&#x017F;tigen. Die Welt hatte<lb/>
&#x017F;ich läng&#x017F;t darein gefunden, in jedem neuen Monat von neuen Gewalt-<lb/>
&#x017F;treichen zu vernehmen. So erfuhr &#x017F;ie jetzt Schlag auf Schlag, daß O&#x017F;t-<lb/>
friesland mit Holland vereinigt worden, daß Toscana dem franzö&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Kai&#x017F;erreiche, die adriati&#x017F;chen Provinzen des Kirchen&#x017F;taates dem Königreich<lb/>
Italien einverleibt &#x017F;eien, daß Napoleons Truppen in Rom eingerückt, daß<lb/>
&#x017F;ie in Portugal eingebrochen waren und das Haus Braganza aufgehört<lb/>
hatte zu regieren. Aber fa&#x017F;t unglaublich klangen &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;er des Grauens<lb/>
gewohnten Zeit die ent&#x017F;etzlichen Nachrichten, die im Mai 1808 aus dem<lb/>
Schlo&#x017F;&#x017F;e Marrac bei Bayonne kamen: wie Napoleon die &#x017F;pani&#x017F;chen Bour-<lb/>
bonen zu &#x017F;ich gelockt, wie er dann den Vater und den Sohn gleich wüthen-<lb/>
den Be&#x017F;tien auf einander gehetzt, Beide zur Abdankung gezwungen und<lb/>
&#x017F;einen Bruder Jo&#x017F;eph auf den &#x017F;pani&#x017F;chen Thron erhoben hatte. Er<lb/>
&#x017F;chwelgte in Banditen&#x017F;treichen; eben dort brachte er jenes &#x017F;chmutzige Han-<lb/>
delsge&#x017F;chäft mit der Krone Sach&#x017F;en-War&#x017F;chau zu Stande. In &#x017F;echs Wochen<lb/>
dachte er der &#x017F;pani&#x017F;chen Wirren ledig zu &#x017F;ein und das alte Wort: &#x201E;es<lb/>
giebt keine Pyrenäen mehr!&#x201C; zur Wahrheit zu machen. Aber die Strafe<lb/>
folgte dem Frevel auf dem Fuße. Ganz Spanien erhob &#x017F;ich wie ein<lb/>
Mann für &#x017F;eine Unabhängigkeit, für die Rechte &#x017F;eines Königshau&#x017F;es und<lb/>
&#x017F;einer alten Kirche. Die Halbin&#x017F;el &#x017F;tarrte von Waffen. Die hochherzige<lb/>
Nation hatte die beiden jüng&#x017F;ten Jahrhunderte in einem wachen Traum-<lb/>
leben verbracht, kaum berührt von den Ideen des neuen Europas; &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;türmte in den ungleichen Kampf mit maßlo&#x017F;em Selb&#x017F;tgefühl, ohne jede<lb/>
Ahnung von der Stärke des Feindes, &#x017F;ie wähnte noch immer das mäch-<lb/>
tig&#x017F;te und das höch&#x017F;tgebildete Volk der Welt zu &#x017F;ein: wer durfte dem<lb/>
Reiche, in dem die Sonne nicht unterging, etwas anhaben? Niemand im<lb/>
Lande glaubte an die Abdankung des Königs Ferdinand. Alle edlen und<lb/>
alle fin&#x017F;teren Leiden&#x017F;chaften der Spanier gährten in dem furchtbaren Auf-<lb/>
&#x017F;tande die&#x017F;er Royali&#x017F;ten ohne König wild durcheinander: ihr patrioti&#x017F;cher<lb/>
Stolz, ihre Treue, ihr Heldenmuth, aber auch ihr &#x017F;tarrer Fremdenhaß,<lb/>
ihre bigotte Unduld&#x017F;amkeit, ihre unmen&#x017F;chliche Grau&#x017F;amkeit; und zugleich<lb/>
erwachten in dem unerfahrenen, &#x017F;ich &#x017F;elber überla&#x017F;&#x017F;enen Volke die unklaren<lb/>
Träume des politi&#x017F;chen Radicalismus.</p><lb/>
            <p>Die engli&#x017F;che Politik erkannte &#x017F;chnell, daß &#x017F;ie jetzt den Feind an einer<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">21*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[323/0339] Die Erhebung Spaniens. derte als Gegenleiſtung eine nochmalige Verſtümmelung des preußiſchen Staates. Alexander konnte ſich nicht verbergen, daß dieſe unheimlichen Pläne für Rußland ebenſo bedenklich waren wie für Deutſchland. Später erhielt man in Petersburg auch Nachrichten über die Umtriebe der fran- zöſiſchen Agenten im Oriente; in Teheran wie in Conſtantinopel ſuchte Frankreich die Pläne ſeines nordiſchen Verbündeten insgeheim zu durch- kreuzen. Der Tilſiter Bund war durch dieſelbe Kraft, die ihn begründet, durch die frivole Ländergier bereits in ſeinen Fugen erſchüttert. Da wurde der Imperator durch eine ſelbſtverſchuldete Bedrängniß genöthigt, das wankende Bündniß nochmals zu befeſtigen. Die Welt hatte ſich längſt darein gefunden, in jedem neuen Monat von neuen Gewalt- ſtreichen zu vernehmen. So erfuhr ſie jetzt Schlag auf Schlag, daß Oſt- friesland mit Holland vereinigt worden, daß Toscana dem franzöſiſchen Kaiſerreiche, die adriatiſchen Provinzen des Kirchenſtaates dem Königreich Italien einverleibt ſeien, daß Napoleons Truppen in Rom eingerückt, daß ſie in Portugal eingebrochen waren und das Haus Braganza aufgehört hatte zu regieren. Aber faſt unglaublich klangen ſelbſt dieſer des Grauens gewohnten Zeit die entſetzlichen Nachrichten, die im Mai 1808 aus dem Schloſſe Marrac bei Bayonne kamen: wie Napoleon die ſpaniſchen Bour- bonen zu ſich gelockt, wie er dann den Vater und den Sohn gleich wüthen- den Beſtien auf einander gehetzt, Beide zur Abdankung gezwungen und ſeinen Bruder Joſeph auf den ſpaniſchen Thron erhoben hatte. Er ſchwelgte in Banditenſtreichen; eben dort brachte er jenes ſchmutzige Han- delsgeſchäft mit der Krone Sachſen-Warſchau zu Stande. In ſechs Wochen dachte er der ſpaniſchen Wirren ledig zu ſein und das alte Wort: „es giebt keine Pyrenäen mehr!“ zur Wahrheit zu machen. Aber die Strafe folgte dem Frevel auf dem Fuße. Ganz Spanien erhob ſich wie ein Mann für ſeine Unabhängigkeit, für die Rechte ſeines Königshauſes und ſeiner alten Kirche. Die Halbinſel ſtarrte von Waffen. Die hochherzige Nation hatte die beiden jüngſten Jahrhunderte in einem wachen Traum- leben verbracht, kaum berührt von den Ideen des neuen Europas; ſie ſtürmte in den ungleichen Kampf mit maßloſem Selbſtgefühl, ohne jede Ahnung von der Stärke des Feindes, ſie wähnte noch immer das mäch- tigſte und das höchſtgebildete Volk der Welt zu ſein: wer durfte dem Reiche, in dem die Sonne nicht unterging, etwas anhaben? Niemand im Lande glaubte an die Abdankung des Königs Ferdinand. Alle edlen und alle finſteren Leidenſchaften der Spanier gährten in dem furchtbaren Auf- ſtande dieſer Royaliſten ohne König wild durcheinander: ihr patriotiſcher Stolz, ihre Treue, ihr Heldenmuth, aber auch ihr ſtarrer Fremdenhaß, ihre bigotte Unduldſamkeit, ihre unmenſchliche Grauſamkeit; und zugleich erwachten in dem unerfahrenen, ſich ſelber überlaſſenen Volke die unklaren Träume des politiſchen Radicalismus. Die engliſche Politik erkannte ſchnell, daß ſie jetzt den Feind an einer 21*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/339
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/339>, abgerufen am 09.11.2024.