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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
schwachen Stelle treffen konnte, nachdem sie bisher mit allen ihren fest-
ländischen Unternehmungen nur Mißerfolge geerntet. Sie unterstützte
den Aufstand durch britische und deutsche Regimenter; die tapferen Han-
noveraner der deutschen Legion durften nun endlich die Schande von
Suhlingen sühnen. Wellingtons altväterisch behutsame Kriegführung, die
noch, wie sein Heer, an den Ueberlieferungen des achtzehnten Jahrhunderts
festhielt und auf einem anderen Kriegsschauplatze der napoleonischen Feld-
herrnkunst sicher unterlegen wäre, bewährte sich hier glänzend. Der be-
dächtige Brite wagte selten eine Schlacht, niemals eine durchschlagende
Entscheidung; immer wieder, nach jedem Kampfe im freien Felde, barg
er seine kleine Armee in einer wohlgeschützten festen Stellung um erst
nach Wochen und Monaten wieder plötzlich aus seiner Höhle herauszu-
brechen. So gelang ihm was auf dieser Nebenbühne des Weltkriegs allein
erreicht werden konnte: die Wunde an dem Leibe des Kaiserreichs immer
offen, eine letzte Kraft des Widerstands fünf Jahre lang immer aufgespart
zu halten; unterdessen schmolzen die französischen Truppen dahin im Be-
lagerungskampfe und in dem aufreibenden kleinen Kriege gegen die
spanischen Guerillas. Schon das erste Kriegsjahr brachte der napoleoni-
schen Armee zwei in ihren Annalen unerhörte Niederlagen: in Portugal
capitulirte Junot, bei Baylen streckte Dupont mit seinem Corps die Waffen.

Durch diese spanischen Nachrichten wurde Oesterreich zu rascheren
Rüstungen ermuthigt; Stein aber sah jetzt die Erfüllung seiner theuersten
Hoffnungen nahe gerückt und gab seine diplomatische Zurückhaltung auf.
Es stand zu erwarten, daß Napoleon sich entweder sogleich auf Oesterreich
stürzen oder die große Armee aus Norddeutschland abrufen würde um
zunächst den spanischen Aufstand zu bändigen. In beiden Fällen schien
dem kühnen Patrioten eine plötzliche Erhebung der deutschen Mächte möglich.
Seine edle Leidenschaft erhob sich zu verwegenen, unmöglichen Flügen:
unter schwarzweißgelbem Bundesbanner, mit den Namen der Befreier der
Nation, Herman und Wilhelm von Oranien auf den Fahnen -- sollten
die Truppen ins Feld ziehen. Und dies in einem Augenblicke, da die
alte preußische Armee noch in der französischen Kriegsgefangenschaft weilte!
Stein zählte auf die gesunde Kraft der Bauern und des Mittelstandes;
von "der Weichlichkeit der oberen Stände und dem Miethlingsgeiste der
öffentlichen Beamten" hoffte er wenig. Um den Ehrgeiz der Nation zu
entflammen wollte der ahnenstolze Freiherr sogar den alten Geburtsadel
abschaffen und einen neuen Adel bilden aus Allen, die sich in diesem
heiligen Kriege hervorthäten. Was Wunder, daß der tapfere Mann selbst
manchem ehrlichen Patrioten in Königsberg wie ein Verzweifelter erschien,
der sich mit dem Könige auf eine Pulvertonne setzen wollte! Die enge und
harte Despotenseele des Kaisers Franz hatte keinen Sinn für so über-
schwängliche Entwürfe, doch da Napoleons Sprache gegen das Haus Loth-
ringen von Tag zu Tag drohender und gereizter wurde, so ließ es die

I. 3. Preußens Erhebung.
ſchwachen Stelle treffen konnte, nachdem ſie bisher mit allen ihren feſt-
ländiſchen Unternehmungen nur Mißerfolge geerntet. Sie unterſtützte
den Aufſtand durch britiſche und deutſche Regimenter; die tapferen Han-
noveraner der deutſchen Legion durften nun endlich die Schande von
Suhlingen ſühnen. Wellingtons altväteriſch behutſame Kriegführung, die
noch, wie ſein Heer, an den Ueberlieferungen des achtzehnten Jahrhunderts
feſthielt und auf einem anderen Kriegsſchauplatze der napoleoniſchen Feld-
herrnkunſt ſicher unterlegen wäre, bewährte ſich hier glänzend. Der be-
dächtige Brite wagte ſelten eine Schlacht, niemals eine durchſchlagende
Entſcheidung; immer wieder, nach jedem Kampfe im freien Felde, barg
er ſeine kleine Armee in einer wohlgeſchützten feſten Stellung um erſt
nach Wochen und Monaten wieder plötzlich aus ſeiner Höhle herauszu-
brechen. So gelang ihm was auf dieſer Nebenbühne des Weltkriegs allein
erreicht werden konnte: die Wunde an dem Leibe des Kaiſerreichs immer
offen, eine letzte Kraft des Widerſtands fünf Jahre lang immer aufgeſpart
zu halten; unterdeſſen ſchmolzen die franzöſiſchen Truppen dahin im Be-
lagerungskampfe und in dem aufreibenden kleinen Kriege gegen die
ſpaniſchen Guerillas. Schon das erſte Kriegsjahr brachte der napoleoni-
ſchen Armee zwei in ihren Annalen unerhörte Niederlagen: in Portugal
capitulirte Junot, bei Baylen ſtreckte Dupont mit ſeinem Corps die Waffen.

Durch dieſe ſpaniſchen Nachrichten wurde Oeſterreich zu raſcheren
Rüſtungen ermuthigt; Stein aber ſah jetzt die Erfüllung ſeiner theuerſten
Hoffnungen nahe gerückt und gab ſeine diplomatiſche Zurückhaltung auf.
Es ſtand zu erwarten, daß Napoleon ſich entweder ſogleich auf Oeſterreich
ſtürzen oder die große Armee aus Norddeutſchland abrufen würde um
zunächſt den ſpaniſchen Aufſtand zu bändigen. In beiden Fällen ſchien
dem kühnen Patrioten eine plötzliche Erhebung der deutſchen Mächte möglich.
Seine edle Leidenſchaft erhob ſich zu verwegenen, unmöglichen Flügen:
unter ſchwarzweißgelbem Bundesbanner, mit den Namen der Befreier der
Nation, Herman und Wilhelm von Oranien auf den Fahnen — ſollten
die Truppen ins Feld ziehen. Und dies in einem Augenblicke, da die
alte preußiſche Armee noch in der franzöſiſchen Kriegsgefangenſchaft weilte!
Stein zählte auf die geſunde Kraft der Bauern und des Mittelſtandes;
von „der Weichlichkeit der oberen Stände und dem Miethlingsgeiſte der
öffentlichen Beamten“ hoffte er wenig. Um den Ehrgeiz der Nation zu
entflammen wollte der ahnenſtolze Freiherr ſogar den alten Geburtsadel
abſchaffen und einen neuen Adel bilden aus Allen, die ſich in dieſem
heiligen Kriege hervorthäten. Was Wunder, daß der tapfere Mann ſelbſt
manchem ehrlichen Patrioten in Königsberg wie ein Verzweifelter erſchien,
der ſich mit dem Könige auf eine Pulvertonne ſetzen wollte! Die enge und
harte Despotenſeele des Kaiſers Franz hatte keinen Sinn für ſo über-
ſchwängliche Entwürfe, doch da Napoleons Sprache gegen das Haus Loth-
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[324/0340] I. 3. Preußens Erhebung. ſchwachen Stelle treffen konnte, nachdem ſie bisher mit allen ihren feſt- ländiſchen Unternehmungen nur Mißerfolge geerntet. Sie unterſtützte den Aufſtand durch britiſche und deutſche Regimenter; die tapferen Han- noveraner der deutſchen Legion durften nun endlich die Schande von Suhlingen ſühnen. Wellingtons altväteriſch behutſame Kriegführung, die noch, wie ſein Heer, an den Ueberlieferungen des achtzehnten Jahrhunderts feſthielt und auf einem anderen Kriegsſchauplatze der napoleoniſchen Feld- herrnkunſt ſicher unterlegen wäre, bewährte ſich hier glänzend. Der be- dächtige Brite wagte ſelten eine Schlacht, niemals eine durchſchlagende Entſcheidung; immer wieder, nach jedem Kampfe im freien Felde, barg er ſeine kleine Armee in einer wohlgeſchützten feſten Stellung um erſt nach Wochen und Monaten wieder plötzlich aus ſeiner Höhle herauszu- brechen. So gelang ihm was auf dieſer Nebenbühne des Weltkriegs allein erreicht werden konnte: die Wunde an dem Leibe des Kaiſerreichs immer offen, eine letzte Kraft des Widerſtands fünf Jahre lang immer aufgeſpart zu halten; unterdeſſen ſchmolzen die franzöſiſchen Truppen dahin im Be- lagerungskampfe und in dem aufreibenden kleinen Kriege gegen die ſpaniſchen Guerillas. Schon das erſte Kriegsjahr brachte der napoleoni- ſchen Armee zwei in ihren Annalen unerhörte Niederlagen: in Portugal capitulirte Junot, bei Baylen ſtreckte Dupont mit ſeinem Corps die Waffen. Durch dieſe ſpaniſchen Nachrichten wurde Oeſterreich zu raſcheren Rüſtungen ermuthigt; Stein aber ſah jetzt die Erfüllung ſeiner theuerſten Hoffnungen nahe gerückt und gab ſeine diplomatiſche Zurückhaltung auf. Es ſtand zu erwarten, daß Napoleon ſich entweder ſogleich auf Oeſterreich ſtürzen oder die große Armee aus Norddeutſchland abrufen würde um zunächſt den ſpaniſchen Aufſtand zu bändigen. In beiden Fällen ſchien dem kühnen Patrioten eine plötzliche Erhebung der deutſchen Mächte möglich. Seine edle Leidenſchaft erhob ſich zu verwegenen, unmöglichen Flügen: unter ſchwarzweißgelbem Bundesbanner, mit den Namen der Befreier der Nation, Herman und Wilhelm von Oranien auf den Fahnen — ſollten die Truppen ins Feld ziehen. Und dies in einem Augenblicke, da die alte preußiſche Armee noch in der franzöſiſchen Kriegsgefangenſchaft weilte! Stein zählte auf die geſunde Kraft der Bauern und des Mittelſtandes; von „der Weichlichkeit der oberen Stände und dem Miethlingsgeiſte der öffentlichen Beamten“ hoffte er wenig. Um den Ehrgeiz der Nation zu entflammen wollte der ahnenſtolze Freiherr ſogar den alten Geburtsadel abſchaffen und einen neuen Adel bilden aus Allen, die ſich in dieſem heiligen Kriege hervorthäten. Was Wunder, daß der tapfere Mann ſelbſt manchem ehrlichen Patrioten in Königsberg wie ein Verzweifelter erſchien, der ſich mit dem Könige auf eine Pulvertonne ſetzen wollte! Die enge und harte Despotenſeele des Kaiſers Franz hatte keinen Sinn für ſo über- ſchwängliche Entwürfe, doch da Napoleons Sprache gegen das Haus Loth- ringen von Tag zu Tag drohender und gereizter wurde, ſo ließ es die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/340>, abgerufen am 22.11.2024.