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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Auflösung des Tilsiter Bündnisses.
nach Alexanders Meinung die schwerste aller Gefahren, rückte näher und
näher. Um ihr zu begegnen legte der Czar dem französischen Gesandten
einen Vertrag vor, wornach die beiden Alliirten sich verpflichteten den
polnischen Staat niemals wieder aufzurichten, auch den Namen Polen
nie zu dulden. Der Imperator wich aus; sein frommes Gemüth scheute
sich "die Sprache der Gottheit zu reden", ein Versprechen für alle Zu-
kunft zu geben. Nicht als ob er den Gedanken der Wiederherstellung des
polnischen Reichs schon im vollen Ernst ergriffen hätte. Die Bildung
nationaler Staaten widersprach dem Wesen seines Weltreichs. Auch die
revolutionären Ideen, die in dem zweiseitigen Wesen des Bonapartismus
lagen, traten mit den Jahren ganz zurück. Wie die unterjochten Völker
jetzt in Napoleon nur noch den Despoten sahen, so fühlte er selber sich
wieder ganz als der Bändiger der Revolution und prahlte wieder, wie
einst nach dem achtzehnten Brumaire, auf seinen Schultern ruhe die
Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft. Der Radicalismus der Sarmaten
war ihm unheimlich; ihn beunruhigte der Gedanke, von einem halbre-
publikanischen Polen könne "eine teuflische Propaganda" ausgehen, die
sich mit dem Hussitenthum im nahen Böhmen verbände. Gleichwohl wollte
er sich nicht die Hände binden, da die nationalen Hoffnungen der Polen
ihm vielleicht noch als eine willkommene Waffe gegen Rußland dienen
konnten; auch durfte der Usurpator die Schwärmerei der Franzosen für
die Wiederaufrichtung des altverbündeten Polenreichs nicht offen verletzen.
Genug, die Verhandlungen zwischen Paris und Petersburg zerschlugen
sich, und der erbitterte Czar erklärte dem französischen Gesandten: ich
weiß jetzt, daß Ihr Polen wiederherstellen wollt! Der Imperator aber
gab auf den Vorwurf hinterhaltiger Ränkesucht die unzweideutige Ant-
wort: ich intrigire nicht, sondern führe Krieg mit 400,000 Mann!

Nun drängten sich Schlag auf Schlag die Beweise der Feindseligkeit
Napoleons. Kurz bevor er die Erzherzogin heimführte, ließ er um die
Hand der Schwester Alexanders anhalten; er rechnete, Kaiser Franz
werde lieber sein eigen Fleisch und Blut dem gekrönten Plebejer opfern,
als eine Familienverbindung zwischen den Bonapartes und dem Hause
Gottorp dulden. Der Plan gelang vollständig, der Czar aber sagte ver-
stimmt: Ihr habt ein doppeltes Spiel gespielt! Es folgte die Einverleibung
der deutschen Küsten. Das Weltreich streckte seine Polypenarme, den
preußischen Staat umklammernd, bis zur Ostsee, immer näher an Ruß-
land heran, und der Imperator erklärte ausdrücklich, diese Reunionen
seien nur die ersten! Dadurch wurde zugleich der Verbündete Frankreichs,
der Herzog von Oldenburg, Alexanders naher Verwandter seines Erb-
landes beraubt, ohne daß man den russischen Alliirten auch nur zum
Voraus von der Gewaltthat unterrichtete. Dann stellte Napoleon dem
Czaren die Zumuthung, daß er alle neutralen Schiffe mit Beschlag be-
legen solle; das hieß den Russen jede Verzehrung von Colonialwaaren ver-

Auflöſung des Tilſiter Bündniſſes.
nach Alexanders Meinung die ſchwerſte aller Gefahren, rückte näher und
näher. Um ihr zu begegnen legte der Czar dem franzöſiſchen Geſandten
einen Vertrag vor, wornach die beiden Alliirten ſich verpflichteten den
polniſchen Staat niemals wieder aufzurichten, auch den Namen Polen
nie zu dulden. Der Imperator wich aus; ſein frommes Gemüth ſcheute
ſich „die Sprache der Gottheit zu reden“, ein Verſprechen für alle Zu-
kunft zu geben. Nicht als ob er den Gedanken der Wiederherſtellung des
polniſchen Reichs ſchon im vollen Ernſt ergriffen hätte. Die Bildung
nationaler Staaten widerſprach dem Weſen ſeines Weltreichs. Auch die
revolutionären Ideen, die in dem zweiſeitigen Weſen des Bonapartismus
lagen, traten mit den Jahren ganz zurück. Wie die unterjochten Völker
jetzt in Napoleon nur noch den Despoten ſahen, ſo fühlte er ſelber ſich
wieder ganz als der Bändiger der Revolution und prahlte wieder, wie
einſt nach dem achtzehnten Brumaire, auf ſeinen Schultern ruhe die
Ordnung der bürgerlichen Geſellſchaft. Der Radicalismus der Sarmaten
war ihm unheimlich; ihn beunruhigte der Gedanke, von einem halbre-
publikaniſchen Polen könne „eine teufliſche Propaganda“ ausgehen, die
ſich mit dem Huſſitenthum im nahen Böhmen verbände. Gleichwohl wollte
er ſich nicht die Hände binden, da die nationalen Hoffnungen der Polen
ihm vielleicht noch als eine willkommene Waffe gegen Rußland dienen
konnten; auch durfte der Uſurpator die Schwärmerei der Franzoſen für
die Wiederaufrichtung des altverbündeten Polenreichs nicht offen verletzen.
Genug, die Verhandlungen zwiſchen Paris und Petersburg zerſchlugen
ſich, und der erbitterte Czar erklärte dem franzöſiſchen Geſandten: ich
weiß jetzt, daß Ihr Polen wiederherſtellen wollt! Der Imperator aber
gab auf den Vorwurf hinterhaltiger Ränkeſucht die unzweideutige Ant-
wort: ich intrigire nicht, ſondern führe Krieg mit 400,000 Mann!

Nun drängten ſich Schlag auf Schlag die Beweiſe der Feindſeligkeit
Napoleons. Kurz bevor er die Erzherzogin heimführte, ließ er um die
Hand der Schweſter Alexanders anhalten; er rechnete, Kaiſer Franz
werde lieber ſein eigen Fleiſch und Blut dem gekrönten Plebejer opfern,
als eine Familienverbindung zwiſchen den Bonapartes und dem Hauſe
Gottorp dulden. Der Plan gelang vollſtändig, der Czar aber ſagte ver-
ſtimmt: Ihr habt ein doppeltes Spiel geſpielt! Es folgte die Einverleibung
der deutſchen Küſten. Das Weltreich ſtreckte ſeine Polypenarme, den
preußiſchen Staat umklammernd, bis zur Oſtſee, immer näher an Ruß-
land heran, und der Imperator erklärte ausdrücklich, dieſe Reunionen
ſeien nur die erſten! Dadurch wurde zugleich der Verbündete Frankreichs,
der Herzog von Oldenburg, Alexanders naher Verwandter ſeines Erb-
landes beraubt, ohne daß man den ruſſiſchen Alliirten auch nur zum
Voraus von der Gewaltthat unterrichtete. Dann ſtellte Napoleon dem
Czaren die Zumuthung, daß er alle neutralen Schiffe mit Beſchlag be-
legen ſolle; das hieß den Ruſſen jede Verzehrung von Colonialwaaren ver-

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[383/0399] Auflöſung des Tilſiter Bündniſſes. nach Alexanders Meinung die ſchwerſte aller Gefahren, rückte näher und näher. Um ihr zu begegnen legte der Czar dem franzöſiſchen Geſandten einen Vertrag vor, wornach die beiden Alliirten ſich verpflichteten den polniſchen Staat niemals wieder aufzurichten, auch den Namen Polen nie zu dulden. Der Imperator wich aus; ſein frommes Gemüth ſcheute ſich „die Sprache der Gottheit zu reden“, ein Verſprechen für alle Zu- kunft zu geben. Nicht als ob er den Gedanken der Wiederherſtellung des polniſchen Reichs ſchon im vollen Ernſt ergriffen hätte. Die Bildung nationaler Staaten widerſprach dem Weſen ſeines Weltreichs. Auch die revolutionären Ideen, die in dem zweiſeitigen Weſen des Bonapartismus lagen, traten mit den Jahren ganz zurück. Wie die unterjochten Völker jetzt in Napoleon nur noch den Despoten ſahen, ſo fühlte er ſelber ſich wieder ganz als der Bändiger der Revolution und prahlte wieder, wie einſt nach dem achtzehnten Brumaire, auf ſeinen Schultern ruhe die Ordnung der bürgerlichen Geſellſchaft. Der Radicalismus der Sarmaten war ihm unheimlich; ihn beunruhigte der Gedanke, von einem halbre- publikaniſchen Polen könne „eine teufliſche Propaganda“ ausgehen, die ſich mit dem Huſſitenthum im nahen Böhmen verbände. Gleichwohl wollte er ſich nicht die Hände binden, da die nationalen Hoffnungen der Polen ihm vielleicht noch als eine willkommene Waffe gegen Rußland dienen konnten; auch durfte der Uſurpator die Schwärmerei der Franzoſen für die Wiederaufrichtung des altverbündeten Polenreichs nicht offen verletzen. Genug, die Verhandlungen zwiſchen Paris und Petersburg zerſchlugen ſich, und der erbitterte Czar erklärte dem franzöſiſchen Geſandten: ich weiß jetzt, daß Ihr Polen wiederherſtellen wollt! Der Imperator aber gab auf den Vorwurf hinterhaltiger Ränkeſucht die unzweideutige Ant- wort: ich intrigire nicht, ſondern führe Krieg mit 400,000 Mann! Nun drängten ſich Schlag auf Schlag die Beweiſe der Feindſeligkeit Napoleons. Kurz bevor er die Erzherzogin heimführte, ließ er um die Hand der Schweſter Alexanders anhalten; er rechnete, Kaiſer Franz werde lieber ſein eigen Fleiſch und Blut dem gekrönten Plebejer opfern, als eine Familienverbindung zwiſchen den Bonapartes und dem Hauſe Gottorp dulden. Der Plan gelang vollſtändig, der Czar aber ſagte ver- ſtimmt: Ihr habt ein doppeltes Spiel geſpielt! Es folgte die Einverleibung der deutſchen Küſten. Das Weltreich ſtreckte ſeine Polypenarme, den preußiſchen Staat umklammernd, bis zur Oſtſee, immer näher an Ruß- land heran, und der Imperator erklärte ausdrücklich, dieſe Reunionen ſeien nur die erſten! Dadurch wurde zugleich der Verbündete Frankreichs, der Herzog von Oldenburg, Alexanders naher Verwandter ſeines Erb- landes beraubt, ohne daß man den ruſſiſchen Alliirten auch nur zum Voraus von der Gewaltthat unterrichtete. Dann ſtellte Napoleon dem Czaren die Zumuthung, daß er alle neutralen Schiffe mit Beſchlag be- legen ſolle; das hieß den Ruſſen jede Verzehrung von Colonialwaaren ver-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/399>, abgerufen am 22.11.2024.