Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. Jurist Wolfgang Goethe sich aus Datt's Folianten gewissenhaft über Land-frieden und Reichskammergericht unterrichtete, so sah er die biderbe Gestalt des Ritters Götz von Berlichingen leibhaftig auf dem Armensünderbänkchen sitzen. Die Reichsverfassung blieb immerhin das einzige Band politischer Einheit für dies zerrissene Volk. Noch im Jahre ihres Unterganges schrieb der Hamburger Publicist Gaspari: "Nur durch den Kaiser sind wir frei, ohne ihn sind wir gar keine Deutsche mehr." Aus ihren schwerfälligen Formen sprach noch immer jener altgermanische Staats- gedanke, der schon in den Anfängen unserer Geschichte den sittlichen Ernst und den Freiheitsmuth der Deutschen bekundet hatte: die Reichsgewalt war die Schirmerin des gemeinen Friedens und darum ehrwürdig selbst im Verfalle. Das Bewußtsein seiner Einheit konnte dem Volke niemals gänzlich verloren gehen, so lange noch das gemeine Recht bestand und der rechtsbildende Gemeingeist der Nation in der Arbeit der Rechtswissen- schaft wie der Gerichte sich bekundete; auch als das gemeine Recht nach und nach von partikularistischen Rechtsbildungen überwuchert wurde, blieb die nationale Form der Rechtssprechung aufrecht, das Reich sicherte der Nation die Unabhängigkeit und Ständigkeit der Richterämter. Auf dem Rechte des Kaisers ruhte zuletzt jedes Recht im Reiche; wer der kaiserlichen Majestät widerstand, verlor den Boden unter den Füßen. "Halte ich zum Kaiser, so bleibe ich und mein Sohn immer noch Kurfürst!" -- mit solchen Worten hatte einst der zaudernde Georg Wilhelm von Branden- burg die Anträge Gustav Adolfs zurückgewiesen. Dieselbe Erwägung hemmte noch im folgenden Jahrhundert jeden tapferen Entschluß, sobald ein revolutionärer Wille sich anschickte neue Wege zu bahnen durch die wuchernde Wildniß dieses naturwüchsigen und doch so unnatürlichen Reichsrechts. Die Politik des Auslandes und des Hauses Oesterreich, die Selbstsucht der kleinen Höfe und die Eifersucht Jedes gegen Jeden, das Gleichgewicht der politischen Kräfte wie die Interessen einer dem Untergange zueilenden Gesellschaftsordnung, das Weltbürgerthum und die Träume von deutscher Freiheit, Rechtsgefühl und uralte Gewöhnung, die Macht der Trägheit und die deutsche Treue, Alles vereinigte sich die bestehende Unordnung aufrecht zu erhalten. Um die Mitte des acht- zehnten Jahrhunderts schien das heilige Reich, nach der Meinung aller Welt, noch einer unabsehbaren Zukunft sicher. -- Auf dem Boden dieses Reichsrechts und seiner territorialen Staats- I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. Juriſt Wolfgang Goethe ſich aus Datt’s Folianten gewiſſenhaft über Land-frieden und Reichskammergericht unterrichtete, ſo ſah er die biderbe Geſtalt des Ritters Götz von Berlichingen leibhaftig auf dem Armenſünderbänkchen ſitzen. Die Reichsverfaſſung blieb immerhin das einzige Band politiſcher Einheit für dies zerriſſene Volk. Noch im Jahre ihres Unterganges ſchrieb der Hamburger Publiciſt Gaspari: „Nur durch den Kaiſer ſind wir frei, ohne ihn ſind wir gar keine Deutſche mehr.“ Aus ihren ſchwerfälligen Formen ſprach noch immer jener altgermaniſche Staats- gedanke, der ſchon in den Anfängen unſerer Geſchichte den ſittlichen Ernſt und den Freiheitsmuth der Deutſchen bekundet hatte: die Reichsgewalt war die Schirmerin des gemeinen Friedens und darum ehrwürdig ſelbſt im Verfalle. Das Bewußtſein ſeiner Einheit konnte dem Volke niemals gänzlich verloren gehen, ſo lange noch das gemeine Recht beſtand und der rechtsbildende Gemeingeiſt der Nation in der Arbeit der Rechtswiſſen- ſchaft wie der Gerichte ſich bekundete; auch als das gemeine Recht nach und nach von partikulariſtiſchen Rechtsbildungen überwuchert wurde, blieb die nationale Form der Rechtsſprechung aufrecht, das Reich ſicherte der Nation die Unabhängigkeit und Ständigkeit der Richterämter. Auf dem Rechte des Kaiſers ruhte zuletzt jedes Recht im Reiche; wer der kaiſerlichen Majeſtät widerſtand, verlor den Boden unter den Füßen. „Halte ich zum Kaiſer, ſo bleibe ich und mein Sohn immer noch Kurfürſt!“ — mit ſolchen Worten hatte einſt der zaudernde Georg Wilhelm von Branden- burg die Anträge Guſtav Adolfs zurückgewieſen. Dieſelbe Erwägung hemmte noch im folgenden Jahrhundert jeden tapferen Entſchluß, ſobald ein revolutionärer Wille ſich anſchickte neue Wege zu bahnen durch die wuchernde Wildniß dieſes naturwüchſigen und doch ſo unnatürlichen Reichsrechts. Die Politik des Auslandes und des Hauſes Oeſterreich, die Selbſtſucht der kleinen Höfe und die Eiferſucht Jedes gegen Jeden, das Gleichgewicht der politiſchen Kräfte wie die Intereſſen einer dem Untergange zueilenden Geſellſchaftsordnung, das Weltbürgerthum und die Träume von deutſcher Freiheit, Rechtsgefühl und uralte Gewöhnung, die Macht der Trägheit und die deutſche Treue, Alles vereinigte ſich die beſtehende Unordnung aufrecht zu erhalten. Um die Mitte des acht- zehnten Jahrhunderts ſchien das heilige Reich, nach der Meinung aller Welt, noch einer unabſehbaren Zukunft ſicher. — Auf dem Boden dieſes Reichsrechts und ſeiner territorialen Staats- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0040" n="24"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.</fw><lb/> Juriſt Wolfgang Goethe ſich aus Datt’s Folianten gewiſſenhaft über Land-<lb/> frieden und Reichskammergericht unterrichtete, ſo ſah er die biderbe Geſtalt<lb/> des Ritters Götz von Berlichingen leibhaftig auf dem Armenſünderbänkchen<lb/> ſitzen. Die Reichsverfaſſung blieb immerhin das einzige Band politiſcher<lb/> Einheit für dies zerriſſene Volk. 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I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Juriſt Wolfgang Goethe ſich aus Datt’s Folianten gewiſſenhaft über Land-
frieden und Reichskammergericht unterrichtete, ſo ſah er die biderbe Geſtalt
des Ritters Götz von Berlichingen leibhaftig auf dem Armenſünderbänkchen
ſitzen. Die Reichsverfaſſung blieb immerhin das einzige Band politiſcher
Einheit für dies zerriſſene Volk. Noch im Jahre ihres Unterganges
ſchrieb der Hamburger Publiciſt Gaspari: „Nur durch den Kaiſer ſind
wir frei, ohne ihn ſind wir gar keine Deutſche mehr.“ Aus ihren
ſchwerfälligen Formen ſprach noch immer jener altgermaniſche Staats-
gedanke, der ſchon in den Anfängen unſerer Geſchichte den ſittlichen Ernſt
und den Freiheitsmuth der Deutſchen bekundet hatte: die Reichsgewalt
war die Schirmerin des gemeinen Friedens und darum ehrwürdig ſelbſt
im Verfalle. Das Bewußtſein ſeiner Einheit konnte dem Volke niemals
gänzlich verloren gehen, ſo lange noch das gemeine Recht beſtand und
der rechtsbildende Gemeingeiſt der Nation in der Arbeit der Rechtswiſſen-
ſchaft wie der Gerichte ſich bekundete; auch als das gemeine Recht nach
und nach von partikulariſtiſchen Rechtsbildungen überwuchert wurde, blieb
die nationale Form der Rechtsſprechung aufrecht, das Reich ſicherte der
Nation die Unabhängigkeit und Ständigkeit der Richterämter. Auf dem
Rechte des Kaiſers ruhte zuletzt jedes Recht im Reiche; wer der kaiſerlichen
Majeſtät widerſtand, verlor den Boden unter den Füßen. „Halte ich
zum Kaiſer, ſo bleibe ich und mein Sohn immer noch Kurfürſt!“ — mit
ſolchen Worten hatte einſt der zaudernde Georg Wilhelm von Branden-
burg die Anträge Guſtav Adolfs zurückgewieſen. Dieſelbe Erwägung
hemmte noch im folgenden Jahrhundert jeden tapferen Entſchluß, ſobald
ein revolutionärer Wille ſich anſchickte neue Wege zu bahnen durch die
wuchernde Wildniß dieſes naturwüchſigen und doch ſo unnatürlichen
Reichsrechts. Die Politik des Auslandes und des Hauſes Oeſterreich,
die Selbſtſucht der kleinen Höfe und die Eiferſucht Jedes gegen Jeden,
das Gleichgewicht der politiſchen Kräfte wie die Intereſſen einer dem
Untergange zueilenden Geſellſchaftsordnung, das Weltbürgerthum und
die Träume von deutſcher Freiheit, Rechtsgefühl und uralte Gewöhnung,
die Macht der Trägheit und die deutſche Treue, Alles vereinigte ſich die
beſtehende Unordnung aufrecht zu erhalten. Um die Mitte des acht-
zehnten Jahrhunderts ſchien das heilige Reich, nach der Meinung aller
Welt, noch einer unabſehbaren Zukunft ſicher. —
Auf dem Boden dieſes Reichsrechts und ſeiner territorialen Staats-
gebilde, und doch in ſcharfem Gegenſatze zu Beiden iſt der preußiſche
Staat entſtanden. Die zähe Willenskraft der norddeutſchen Stämme
war dem weicheren und reicheren oberdeutſchen Volksthum in der Kraft
der Staatenbildung von Altersher überlegen. Nur ſo lange der Sach-
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