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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Preußens diplomatische Lage.
und Finnland, dieses in den französich-holländischen Colonien; auch Oester-
reich war trotz schwerer Verluste doch noch im Besitze seiner Großmacht-
stellung. Mißlang das Werk der Befreiung, so stand für England gar
nichts, für Rußland und Oesterreich nur ein Gebietsverlust zu befürchten.
Für den Fall des Sieges aber mußte England durch transatlantische Ge-
biete, Rußland durch polnische Landstriche, Oesterreich durch die Wieder-
herstellung und Vergrößerung seiner adriatischen Machtstellung entschädigt
werden. Das lag in der Natur der Dinge, die gesammte diplomatische
Welt war darüber einverstanden, und alle drei Mächte durften, Dank ihrer
geographischen Stellung, darauf zählen, daß ihnen Niemand diesen Sieges-
preis entriß falls das Weltreich unterging. Für Preußen dagegen war
dieser Krieg ein Kampf um Sein oder Nichtsein. Siegte Napoleon, so
wurden die in Tilsit nur vertagten Vernichtungspläne unfehlbar durch-
geführt. Siegte der preußische Staat, so war er gezwungen einen unver-
hältnißmäßig größeren Lohn zu fordern als seine Verbündeten; er mußte
die verlorene Hälfte seines Gebietes und den Wiedereintritt in die Reihe
der großen Mächte verlangen. Der Kampf um die Befreiung der Welt
blieb doch in erster Linie ein Kampf um die Wiederaufrichtung Preußens.
Seine entscheidenden Schlachten, das ließ sich voraussehen, mußten auf
preußischem Boden geschlagen werden oder in jenen norddeutschen Landen,
die zu Preußens Entschädigung dienen sollten; jede Scholle deutschen
Landes, die der König für sich forderte, war erst durch gemeinsame An-
strengung zu erwerben, unterlag von Rechtswegen der Verfügung der Coa-
lition. Der preußische Staat stand mithin in der denkbar ungünstigsten
diplomatischen Stellung, in einer Lage, deren Nachtheile weder der Muth
des Heeres noch die Gewandtheit der Staatsmänner ganz ausgleichen
konnte; er hatte den Preis seiner Anstrengungen großentheils zu erwarten
von dem guten Willen jener Höfe, die nach ihren Interessen und Ueber-
lieferungen die Befestigung einer starken mitteleuropäischen Macht nicht
wünschen konnten.

Doch was wogen solche Bedenken in diesem Augenblicke, da Deutsch-
lands Zukunft auf dem Spiele stand? Schritt für Schritt, mit bewun-
derungswürdiger Umsicht näherte sich Hardenberg seinem zweifachen Ziele:
der Verstärkung des Heeres und dem Abschluß der großen Allianz. Schon
am 20. December war die Bildung von 52 Reservebataillonen, das will
sagen: die Verdoppelung der Infanterie, angeordnet worden. Auf allen
Landstraßen sah man die Schaaren der Krümper zu ihren Regimentern
ziehen; die treuen Männer ahnten dunkel wem die Rüstung gelte. Den
französischen Truppen ward beklommen zu Muthe wenn sie diesen sonder-
baren Bundesgenossen auf dem Marsche begegneten; sie bemerkten wohl
die grimmigen Blicke der Preußen und vernahmen die herausfordernden
Klänge der deutschen Kriegslieder. Die Aufregung stieg von Tag zu
Tage. Im Schloßhofe zu Königsberg wurde ein anmaßender französischer

Preußens diplomatiſche Lage.
und Finnland, dieſes in den franzöſich-holländiſchen Colonien; auch Oeſter-
reich war trotz ſchwerer Verluſte doch noch im Beſitze ſeiner Großmacht-
ſtellung. Mißlang das Werk der Befreiung, ſo ſtand für England gar
nichts, für Rußland und Oeſterreich nur ein Gebietsverluſt zu befürchten.
Für den Fall des Sieges aber mußte England durch transatlantiſche Ge-
biete, Rußland durch polniſche Landſtriche, Oeſterreich durch die Wieder-
herſtellung und Vergrößerung ſeiner adriatiſchen Machtſtellung entſchädigt
werden. Das lag in der Natur der Dinge, die geſammte diplomatiſche
Welt war darüber einverſtanden, und alle drei Mächte durften, Dank ihrer
geographiſchen Stellung, darauf zählen, daß ihnen Niemand dieſen Sieges-
preis entriß falls das Weltreich unterging. Für Preußen dagegen war
dieſer Krieg ein Kampf um Sein oder Nichtſein. Siegte Napoleon, ſo
wurden die in Tilſit nur vertagten Vernichtungspläne unfehlbar durch-
geführt. Siegte der preußiſche Staat, ſo war er gezwungen einen unver-
hältnißmäßig größeren Lohn zu fordern als ſeine Verbündeten; er mußte
die verlorene Hälfte ſeines Gebietes und den Wiedereintritt in die Reihe
der großen Mächte verlangen. Der Kampf um die Befreiung der Welt
blieb doch in erſter Linie ein Kampf um die Wiederaufrichtung Preußens.
Seine entſcheidenden Schlachten, das ließ ſich vorausſehen, mußten auf
preußiſchem Boden geſchlagen werden oder in jenen norddeutſchen Landen,
die zu Preußens Entſchädigung dienen ſollten; jede Scholle deutſchen
Landes, die der König für ſich forderte, war erſt durch gemeinſame An-
ſtrengung zu erwerben, unterlag von Rechtswegen der Verfügung der Coa-
lition. Der preußiſche Staat ſtand mithin in der denkbar ungünſtigſten
diplomatiſchen Stellung, in einer Lage, deren Nachtheile weder der Muth
des Heeres noch die Gewandtheit der Staatsmänner ganz ausgleichen
konnte; er hatte den Preis ſeiner Anſtrengungen großentheils zu erwarten
von dem guten Willen jener Höfe, die nach ihren Intereſſen und Ueber-
lieferungen die Befeſtigung einer ſtarken mitteleuropäiſchen Macht nicht
wünſchen konnten.

Doch was wogen ſolche Bedenken in dieſem Augenblicke, da Deutſch-
lands Zukunft auf dem Spiele ſtand? Schritt für Schritt, mit bewun-
derungswürdiger Umſicht näherte ſich Hardenberg ſeinem zweifachen Ziele:
der Verſtärkung des Heeres und dem Abſchluß der großen Allianz. Schon
am 20. December war die Bildung von 52 Reſervebataillonen, das will
ſagen: die Verdoppelung der Infanterie, angeordnet worden. Auf allen
Landſtraßen ſah man die Schaaren der Krümper zu ihren Regimentern
ziehen; die treuen Männer ahnten dunkel wem die Rüſtung gelte. Den
franzöſiſchen Truppen ward beklommen zu Muthe wenn ſie dieſen ſonder-
baren Bundesgenoſſen auf dem Marſche begegneten; ſie bemerkten wohl
die grimmigen Blicke der Preußen und vernahmen die herausfordernden
Klänge der deutſchen Kriegslieder. Die Aufregung ſtieg von Tag zu
Tage. Im Schloßhofe zu Königsberg wurde ein anmaßender franzöſiſcher

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[407/0423] Preußens diplomatiſche Lage. und Finnland, dieſes in den franzöſich-holländiſchen Colonien; auch Oeſter- reich war trotz ſchwerer Verluſte doch noch im Beſitze ſeiner Großmacht- ſtellung. Mißlang das Werk der Befreiung, ſo ſtand für England gar nichts, für Rußland und Oeſterreich nur ein Gebietsverluſt zu befürchten. Für den Fall des Sieges aber mußte England durch transatlantiſche Ge- biete, Rußland durch polniſche Landſtriche, Oeſterreich durch die Wieder- herſtellung und Vergrößerung ſeiner adriatiſchen Machtſtellung entſchädigt werden. Das lag in der Natur der Dinge, die geſammte diplomatiſche Welt war darüber einverſtanden, und alle drei Mächte durften, Dank ihrer geographiſchen Stellung, darauf zählen, daß ihnen Niemand dieſen Sieges- preis entriß falls das Weltreich unterging. Für Preußen dagegen war dieſer Krieg ein Kampf um Sein oder Nichtſein. Siegte Napoleon, ſo wurden die in Tilſit nur vertagten Vernichtungspläne unfehlbar durch- geführt. Siegte der preußiſche Staat, ſo war er gezwungen einen unver- hältnißmäßig größeren Lohn zu fordern als ſeine Verbündeten; er mußte die verlorene Hälfte ſeines Gebietes und den Wiedereintritt in die Reihe der großen Mächte verlangen. Der Kampf um die Befreiung der Welt blieb doch in erſter Linie ein Kampf um die Wiederaufrichtung Preußens. Seine entſcheidenden Schlachten, das ließ ſich vorausſehen, mußten auf preußiſchem Boden geſchlagen werden oder in jenen norddeutſchen Landen, die zu Preußens Entſchädigung dienen ſollten; jede Scholle deutſchen Landes, die der König für ſich forderte, war erſt durch gemeinſame An- ſtrengung zu erwerben, unterlag von Rechtswegen der Verfügung der Coa- lition. Der preußiſche Staat ſtand mithin in der denkbar ungünſtigſten diplomatiſchen Stellung, in einer Lage, deren Nachtheile weder der Muth des Heeres noch die Gewandtheit der Staatsmänner ganz ausgleichen konnte; er hatte den Preis ſeiner Anſtrengungen großentheils zu erwarten von dem guten Willen jener Höfe, die nach ihren Intereſſen und Ueber- lieferungen die Befeſtigung einer ſtarken mitteleuropäiſchen Macht nicht wünſchen konnten. Doch was wogen ſolche Bedenken in dieſem Augenblicke, da Deutſch- lands Zukunft auf dem Spiele ſtand? Schritt für Schritt, mit bewun- derungswürdiger Umſicht näherte ſich Hardenberg ſeinem zweifachen Ziele: der Verſtärkung des Heeres und dem Abſchluß der großen Allianz. Schon am 20. December war die Bildung von 52 Reſervebataillonen, das will ſagen: die Verdoppelung der Infanterie, angeordnet worden. Auf allen Landſtraßen ſah man die Schaaren der Krümper zu ihren Regimentern ziehen; die treuen Männer ahnten dunkel wem die Rüſtung gelte. Den franzöſiſchen Truppen ward beklommen zu Muthe wenn ſie dieſen ſonder- baren Bundesgenoſſen auf dem Marſche begegneten; ſie bemerkten wohl die grimmigen Blicke der Preußen und vernahmen die herausfordernden Klänge der deutſchen Kriegslieder. Die Aufregung ſtieg von Tag zu Tage. Im Schloßhofe zu Königsberg wurde ein anmaßender franzöſiſcher

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/423>, abgerufen am 22.11.2024.