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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Knesebeck in Kalisch.
die Besiegten fortan größerer Freiheit genießen sollten als die Sieger.
Jeder Widerstand pflegt aber den politischen Schwärmer nur in seinen
Träumen zu bestärken. Nach der Gesinnung seiner Russen hatte der Czar
niemals viel gefragt; geistreiche Ausländer blieben ihm der liebste Umgang.
Auch das Mißtrauen der Polen beirrte ihn nicht; das überschwängliche
Glück, das er ihnen zudachte, mußte ihren Starrsinn brechen, wollte er
doch sogar die längst mit Rußland vereinigten litthauischen Provinzen von
dem Czarenreiche abtrennen und der constitutionellen Krone des weißen
Adlers unterwerfen. Grenzenlos erschien ihm jetzt die Macht seines Reiches;
"ich weiß es wohl, sagte er später zu seiner Rechtfertigung, Rußlands Ueber-
macht beginnt für Europa gefährlich zu werden; um diese Gefahr zu be-
seitigen will ich Polen zu einem selbständigen Staate erheben." Für jetzt
aber mußten die glänzenden Entwürfe vor aller Welt geheim gehalten
werden. Der polnische Freund durfte nicht im kaiserlichen Hauptquartier
erscheinen; denn "die Kunde von unseren Plänen", schrieb der Czar, "würde
Oesterreich und Preußen sofort in Frankreichs Arme treiben."

Noch mehrere Monate später, als die beiden Monarchen schon viele
Wochen lang zusammen im Feldlager gewesen, klagte König Friedrich Wil-
helm, er habe trotz wiederholter Fragen von Alexander niemals etwas Be-
stimmtes über seine polnischen Absichten erfahren können; und der Hanno-
veraner Ompteda, ein scharfer Beobachter und gründlicher Kenner der
Höfe, schrieb noch zu Ende Juni völlig unbesorgt: Fürst Anton Radziwill
und die anderen polnischen Patrioten, die den Czaren umlagerten, wür-
den sicherlich eine schlechte Aufnahme finden. Das Geheimniß blieb ge-
wahrt. Der preußische Hof ahnte vorderhand noch gar nichts von der
drohenden Wiederherstellung Polens; er konnte aus den Nachrichten über
den Gang der Kalischer Verhandlungen nur den Schluß ziehen, der Czar
wünsche einen Theil des Großherzogthums Warschau dem russischen Reiche
einzuverleiben. Er stand mithin vor der Frage: ob man den Krieg gegen
Napoleon wagen dürfe auf die Gefahr hin, beim Friedensschlusse das Vor-
rücken Rußlands gen Westen und eine schlecht gesicherte deutsche Ostgrenze
hinnehmen zu müssen?

Für den schlichten Verstand des Königs war diese Frage längst keine
Frage mehr. Er kannte die polnische Treue. Danke schön; schon genug
haben von dieser Sorte -- pflegte er ärgerlich zu sagen. In dem Augen-
blicke, da man die Deutschen zur Befreiung des Vaterlandes aufrufen
wollte, durfte eine verständige preußische Staatskunst wahrhaftig nicht jenen
unheilvollen slavischen Besitz vollständig zurück fordern. Jeder Strich nord-
deutschen Landes, den man gegen Warschau, Pultusk und Plock eintauschte,
war ein offenbarer Gewinn für die nationale Politik, die man endlich
wieder aufgenommen. Nur die Landstriche um Posen und Gnesen, das
natürliche Verbindungsglied zwischen Schlesien und Westpreußen, blieben
für Preußen unentbehrlich. Verzichtete man aber auf die Position von

Kneſebeck in Kaliſch.
die Beſiegten fortan größerer Freiheit genießen ſollten als die Sieger.
Jeder Widerſtand pflegt aber den politiſchen Schwärmer nur in ſeinen
Träumen zu beſtärken. Nach der Geſinnung ſeiner Ruſſen hatte der Czar
niemals viel gefragt; geiſtreiche Ausländer blieben ihm der liebſte Umgang.
Auch das Mißtrauen der Polen beirrte ihn nicht; das überſchwängliche
Glück, das er ihnen zudachte, mußte ihren Starrſinn brechen, wollte er
doch ſogar die längſt mit Rußland vereinigten litthauiſchen Provinzen von
dem Czarenreiche abtrennen und der conſtitutionellen Krone des weißen
Adlers unterwerfen. Grenzenlos erſchien ihm jetzt die Macht ſeines Reiches;
„ich weiß es wohl, ſagte er ſpäter zu ſeiner Rechtfertigung, Rußlands Ueber-
macht beginnt für Europa gefährlich zu werden; um dieſe Gefahr zu be-
ſeitigen will ich Polen zu einem ſelbſtändigen Staate erheben.“ Für jetzt
aber mußten die glänzenden Entwürfe vor aller Welt geheim gehalten
werden. Der polniſche Freund durfte nicht im kaiſerlichen Hauptquartier
erſcheinen; denn „die Kunde von unſeren Plänen“, ſchrieb der Czar, „würde
Oeſterreich und Preußen ſofort in Frankreichs Arme treiben.“

Noch mehrere Monate ſpäter, als die beiden Monarchen ſchon viele
Wochen lang zuſammen im Feldlager geweſen, klagte König Friedrich Wil-
helm, er habe trotz wiederholter Fragen von Alexander niemals etwas Be-
ſtimmtes über ſeine polniſchen Abſichten erfahren können; und der Hanno-
veraner Ompteda, ein ſcharfer Beobachter und gründlicher Kenner der
Höfe, ſchrieb noch zu Ende Juni völlig unbeſorgt: Fürſt Anton Radziwill
und die anderen polniſchen Patrioten, die den Czaren umlagerten, wür-
den ſicherlich eine ſchlechte Aufnahme finden. Das Geheimniß blieb ge-
wahrt. Der preußiſche Hof ahnte vorderhand noch gar nichts von der
drohenden Wiederherſtellung Polens; er konnte aus den Nachrichten über
den Gang der Kaliſcher Verhandlungen nur den Schluß ziehen, der Czar
wünſche einen Theil des Großherzogthums Warſchau dem ruſſiſchen Reiche
einzuverleiben. Er ſtand mithin vor der Frage: ob man den Krieg gegen
Napoleon wagen dürfe auf die Gefahr hin, beim Friedensſchluſſe das Vor-
rücken Rußlands gen Weſten und eine ſchlecht geſicherte deutſche Oſtgrenze
hinnehmen zu müſſen?

Für den ſchlichten Verſtand des Königs war dieſe Frage längſt keine
Frage mehr. Er kannte die polniſche Treue. Danke ſchön; ſchon genug
haben von dieſer Sorte — pflegte er ärgerlich zu ſagen. In dem Augen-
blicke, da man die Deutſchen zur Befreiung des Vaterlandes aufrufen
wollte, durfte eine verſtändige preußiſche Staatskunſt wahrhaftig nicht jenen
unheilvollen ſlaviſchen Beſitz vollſtändig zurück fordern. Jeder Strich nord-
deutſchen Landes, den man gegen Warſchau, Pultusk und Plock eintauſchte,
war ein offenbarer Gewinn für die nationale Politik, die man endlich
wieder aufgenommen. Nur die Landſtriche um Poſen und Gneſen, das
natürliche Verbindungsglied zwiſchen Schleſien und Weſtpreußen, blieben
für Preußen unentbehrlich. Verzichtete man aber auf die Poſition von

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[421/0437] Kneſebeck in Kaliſch. die Beſiegten fortan größerer Freiheit genießen ſollten als die Sieger. Jeder Widerſtand pflegt aber den politiſchen Schwärmer nur in ſeinen Träumen zu beſtärken. Nach der Geſinnung ſeiner Ruſſen hatte der Czar niemals viel gefragt; geiſtreiche Ausländer blieben ihm der liebſte Umgang. Auch das Mißtrauen der Polen beirrte ihn nicht; das überſchwängliche Glück, das er ihnen zudachte, mußte ihren Starrſinn brechen, wollte er doch ſogar die längſt mit Rußland vereinigten litthauiſchen Provinzen von dem Czarenreiche abtrennen und der conſtitutionellen Krone des weißen Adlers unterwerfen. Grenzenlos erſchien ihm jetzt die Macht ſeines Reiches; „ich weiß es wohl, ſagte er ſpäter zu ſeiner Rechtfertigung, Rußlands Ueber- macht beginnt für Europa gefährlich zu werden; um dieſe Gefahr zu be- ſeitigen will ich Polen zu einem ſelbſtändigen Staate erheben.“ Für jetzt aber mußten die glänzenden Entwürfe vor aller Welt geheim gehalten werden. Der polniſche Freund durfte nicht im kaiſerlichen Hauptquartier erſcheinen; denn „die Kunde von unſeren Plänen“, ſchrieb der Czar, „würde Oeſterreich und Preußen ſofort in Frankreichs Arme treiben.“ Noch mehrere Monate ſpäter, als die beiden Monarchen ſchon viele Wochen lang zuſammen im Feldlager geweſen, klagte König Friedrich Wil- helm, er habe trotz wiederholter Fragen von Alexander niemals etwas Be- ſtimmtes über ſeine polniſchen Abſichten erfahren können; und der Hanno- veraner Ompteda, ein ſcharfer Beobachter und gründlicher Kenner der Höfe, ſchrieb noch zu Ende Juni völlig unbeſorgt: Fürſt Anton Radziwill und die anderen polniſchen Patrioten, die den Czaren umlagerten, wür- den ſicherlich eine ſchlechte Aufnahme finden. Das Geheimniß blieb ge- wahrt. Der preußiſche Hof ahnte vorderhand noch gar nichts von der drohenden Wiederherſtellung Polens; er konnte aus den Nachrichten über den Gang der Kaliſcher Verhandlungen nur den Schluß ziehen, der Czar wünſche einen Theil des Großherzogthums Warſchau dem ruſſiſchen Reiche einzuverleiben. Er ſtand mithin vor der Frage: ob man den Krieg gegen Napoleon wagen dürfe auf die Gefahr hin, beim Friedensſchluſſe das Vor- rücken Rußlands gen Weſten und eine ſchlecht geſicherte deutſche Oſtgrenze hinnehmen zu müſſen? Für den ſchlichten Verſtand des Königs war dieſe Frage längſt keine Frage mehr. Er kannte die polniſche Treue. Danke ſchön; ſchon genug haben von dieſer Sorte — pflegte er ärgerlich zu ſagen. In dem Augen- blicke, da man die Deutſchen zur Befreiung des Vaterlandes aufrufen wollte, durfte eine verſtändige preußiſche Staatskunſt wahrhaftig nicht jenen unheilvollen ſlaviſchen Beſitz vollſtändig zurück fordern. Jeder Strich nord- deutſchen Landes, den man gegen Warſchau, Pultusk und Plock eintauſchte, war ein offenbarer Gewinn für die nationale Politik, die man endlich wieder aufgenommen. Nur die Landſtriche um Poſen und Gneſen, das natürliche Verbindungsglied zwiſchen Schleſien und Weſtpreußen, blieben für Preußen unentbehrlich. Verzichtete man aber auf die Poſition von

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/437>, abgerufen am 22.11.2024.