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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
ist Einer, der das Einhauen versteht" -- überträgt ihm den Befehl über
die Reiterei, und einmal bei der Arbeit, bleibt der Wildfang fröhlich da-
bei, ein unersättlicher Streiter, bis zum Einzuge in Paris.

Neben den alten Soldaten empfand die gebildete Jugend den Ernst
der Zeit am Lebhaftesten; in ihr glühte die schwärmerische Sehnsucht
nach dem freien und einigen deutschen Vaterlande. Kein Student, der
irgend die Waffen schwingen konnte, blieb daheim; vom Katheder hinweg
führte Professor Steffens nach herzlicher Ansprache seine gesammte Hörer-
schaft zum Werbeplatze der freiwilligen Jäger. Der König rief auch seine
verlorenen alten Provinzen zu den Fahnen: "Auch Ihr seid von dem
Augenblicke, wo mein treues Volk die Waffen ergriff, nicht mehr an den
erzwungenen Eid gebunden." Da aber eine Massenerhebung in den un-
glücklichen Landen vorerst noch ganz unmöglich war, so eilten mindestens
die Ostfriesen und Markaner von der Göttinger Universität zu den preu-
ßischen Regimentern, desgleichen die gesammte Studentenschaft aus dem
treuen Halle, das unter westphälischer Herrschaft die Erinnerungen an den
alten Dessauer und die gute preußische Zeit nicht vergessen hatte. Derselbe
Geist lebte in den Schulen. Aus Berlin allein stellten sich 370 Gymna-
siasten. Mancher schwächliche Junge irrte betrübt, immer wieder abgewiesen,
von einem Regimente zum andern, und glücklich wer, wie der junge Vogel
von Falkenstein, zuletzt doch noch von einem nachsichtigen Commandeur
angenommen wurde. Die Beamten meldeten sich so zahlreich zum Waffen-
dienste, daß der König durch ein Verbot den Gerichten und Regierungen
die unentbehrlichen Arbeitskräfte sichern mußte; in Pommern waren die
königlichen Behörden während des Sommers nahezu verschwunden, jeder
Kreis und jedes Dorf regierte sich selber, wohl oder übel.

Aber auch der geringe Mann hatte in Noth und Plagen die Liebe
zum Vaterlande wiedergefunden: stürmisch, wie nie mehr seit den Zeiten
der Religionskriege, war die Seele des Volkes bewegt von den großen
Leidenschaften des öffentlichen Lebens. Der Bauer verließ den Hof, der
Handwerker die Werkstatt, rasch entschlossen, als verstünde sichs von selber:
die Zeit war erfüllet, es mußte sein. War doch auch der König mit allen
seinen Prinzen ins Feldlager gegangen. In tausend rührenden Zügen
bekundete sich die Treue der kleinen Leute. Arme Bergknappen in
Schlesien arbeiteten wochenlang unentgeltlich, um mit dem Lohne einige
Kameraden für das Heer auszurüsten; ein pommerscher Schäfer verkaufte
die kleine Heerde, seine einzige Habe, und ging dann wohlbewaffnet zu
seinem Regimente. Mit Verwunderung sah das alte Geschlecht alle jene
herzerschütternden Auftritte, woran der Ernst der allgemeinen Wehrpflicht
uns Nachlebende längst gewöhnt hat: Hunderte von Brautpaaren traten
vor den Altar und schlossen den Bund für das Leben, einen Augenblick
bevor der junge Gatte in Kampf und Tod hinauszog. Nur die Polen
in Westpreußen und Oberschlesien theilten die Hingebung der Deutschen

I. 4. Der Befreiungskrieg.
iſt Einer, der das Einhauen verſteht“ — überträgt ihm den Befehl über
die Reiterei, und einmal bei der Arbeit, bleibt der Wildfang fröhlich da-
bei, ein unerſättlicher Streiter, bis zum Einzuge in Paris.

Neben den alten Soldaten empfand die gebildete Jugend den Ernſt
der Zeit am Lebhafteſten; in ihr glühte die ſchwärmeriſche Sehnſucht
nach dem freien und einigen deutſchen Vaterlande. Kein Student, der
irgend die Waffen ſchwingen konnte, blieb daheim; vom Katheder hinweg
führte Profeſſor Steffens nach herzlicher Anſprache ſeine geſammte Hörer-
ſchaft zum Werbeplatze der freiwilligen Jäger. Der König rief auch ſeine
verlorenen alten Provinzen zu den Fahnen: „Auch Ihr ſeid von dem
Augenblicke, wo mein treues Volk die Waffen ergriff, nicht mehr an den
erzwungenen Eid gebunden.“ Da aber eine Maſſenerhebung in den un-
glücklichen Landen vorerſt noch ganz unmöglich war, ſo eilten mindeſtens
die Oſtfrieſen und Markaner von der Göttinger Univerſität zu den preu-
ßiſchen Regimentern, desgleichen die geſammte Studentenſchaft aus dem
treuen Halle, das unter weſtphäliſcher Herrſchaft die Erinnerungen an den
alten Deſſauer und die gute preußiſche Zeit nicht vergeſſen hatte. Derſelbe
Geiſt lebte in den Schulen. Aus Berlin allein ſtellten ſich 370 Gymna-
ſiaſten. Mancher ſchwächliche Junge irrte betrübt, immer wieder abgewieſen,
von einem Regimente zum andern, und glücklich wer, wie der junge Vogel
von Falkenſtein, zuletzt doch noch von einem nachſichtigen Commandeur
angenommen wurde. Die Beamten meldeten ſich ſo zahlreich zum Waffen-
dienſte, daß der König durch ein Verbot den Gerichten und Regierungen
die unentbehrlichen Arbeitskräfte ſichern mußte; in Pommern waren die
königlichen Behörden während des Sommers nahezu verſchwunden, jeder
Kreis und jedes Dorf regierte ſich ſelber, wohl oder übel.

Aber auch der geringe Mann hatte in Noth und Plagen die Liebe
zum Vaterlande wiedergefunden: ſtürmiſch, wie nie mehr ſeit den Zeiten
der Religionskriege, war die Seele des Volkes bewegt von den großen
Leidenſchaften des öffentlichen Lebens. Der Bauer verließ den Hof, der
Handwerker die Werkſtatt, raſch entſchloſſen, als verſtünde ſichs von ſelber:
die Zeit war erfüllet, es mußte ſein. War doch auch der König mit allen
ſeinen Prinzen ins Feldlager gegangen. In tauſend rührenden Zügen
bekundete ſich die Treue der kleinen Leute. Arme Bergknappen in
Schleſien arbeiteten wochenlang unentgeltlich, um mit dem Lohne einige
Kameraden für das Heer auszurüſten; ein pommerſcher Schäfer verkaufte
die kleine Heerde, ſeine einzige Habe, und ging dann wohlbewaffnet zu
ſeinem Regimente. Mit Verwunderung ſah das alte Geſchlecht alle jene
herzerſchütternden Auftritte, woran der Ernſt der allgemeinen Wehrpflicht
uns Nachlebende längſt gewöhnt hat: Hunderte von Brautpaaren traten
vor den Altar und ſchloſſen den Bund für das Leben, einen Augenblick
bevor der junge Gatte in Kampf und Tod hinauszog. Nur die Polen
in Weſtpreußen und Oberſchleſien theilten die Hingebung der Deutſchen

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[430/0446] I. 4. Der Befreiungskrieg. iſt Einer, der das Einhauen verſteht“ — überträgt ihm den Befehl über die Reiterei, und einmal bei der Arbeit, bleibt der Wildfang fröhlich da- bei, ein unerſättlicher Streiter, bis zum Einzuge in Paris. Neben den alten Soldaten empfand die gebildete Jugend den Ernſt der Zeit am Lebhafteſten; in ihr glühte die ſchwärmeriſche Sehnſucht nach dem freien und einigen deutſchen Vaterlande. Kein Student, der irgend die Waffen ſchwingen konnte, blieb daheim; vom Katheder hinweg führte Profeſſor Steffens nach herzlicher Anſprache ſeine geſammte Hörer- ſchaft zum Werbeplatze der freiwilligen Jäger. Der König rief auch ſeine verlorenen alten Provinzen zu den Fahnen: „Auch Ihr ſeid von dem Augenblicke, wo mein treues Volk die Waffen ergriff, nicht mehr an den erzwungenen Eid gebunden.“ Da aber eine Maſſenerhebung in den un- glücklichen Landen vorerſt noch ganz unmöglich war, ſo eilten mindeſtens die Oſtfrieſen und Markaner von der Göttinger Univerſität zu den preu- ßiſchen Regimentern, desgleichen die geſammte Studentenſchaft aus dem treuen Halle, das unter weſtphäliſcher Herrſchaft die Erinnerungen an den alten Deſſauer und die gute preußiſche Zeit nicht vergeſſen hatte. Derſelbe Geiſt lebte in den Schulen. Aus Berlin allein ſtellten ſich 370 Gymna- ſiaſten. Mancher ſchwächliche Junge irrte betrübt, immer wieder abgewieſen, von einem Regimente zum andern, und glücklich wer, wie der junge Vogel von Falkenſtein, zuletzt doch noch von einem nachſichtigen Commandeur angenommen wurde. Die Beamten meldeten ſich ſo zahlreich zum Waffen- dienſte, daß der König durch ein Verbot den Gerichten und Regierungen die unentbehrlichen Arbeitskräfte ſichern mußte; in Pommern waren die königlichen Behörden während des Sommers nahezu verſchwunden, jeder Kreis und jedes Dorf regierte ſich ſelber, wohl oder übel. Aber auch der geringe Mann hatte in Noth und Plagen die Liebe zum Vaterlande wiedergefunden: ſtürmiſch, wie nie mehr ſeit den Zeiten der Religionskriege, war die Seele des Volkes bewegt von den großen Leidenſchaften des öffentlichen Lebens. Der Bauer verließ den Hof, der Handwerker die Werkſtatt, raſch entſchloſſen, als verſtünde ſichs von ſelber: die Zeit war erfüllet, es mußte ſein. War doch auch der König mit allen ſeinen Prinzen ins Feldlager gegangen. In tauſend rührenden Zügen bekundete ſich die Treue der kleinen Leute. Arme Bergknappen in Schleſien arbeiteten wochenlang unentgeltlich, um mit dem Lohne einige Kameraden für das Heer auszurüſten; ein pommerſcher Schäfer verkaufte die kleine Heerde, ſeine einzige Habe, und ging dann wohlbewaffnet zu ſeinem Regimente. Mit Verwunderung ſah das alte Geſchlecht alle jene herzerſchütternden Auftritte, woran der Ernſt der allgemeinen Wehrpflicht uns Nachlebende längſt gewöhnt hat: Hunderte von Brautpaaren traten vor den Altar und ſchloſſen den Bund für das Leben, einen Augenblick bevor der junge Gatte in Kampf und Tod hinauszog. Nur die Polen in Weſtpreußen und Oberſchleſien theilten die Hingebung der Deutſchen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/446>, abgerufen am 22.11.2024.