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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.

Bald genug zeigte sich die prophetische Wahrheit, die in den harten
Worten Fichtes lag: "Auch im Kriege wird ein Volk zum Volke; wer
diesen Krieg nicht mitführt, kann durch kein Decret dem deutschen
Volke einverleibt werden." Das neue Preußen, sein Staat und sein
Heer, hatte sich gebildet im bewußten Gegensatze zu allem ausländischen
Wesen; die Staaten des Südens verdankten der Herrschaft Frankreichs
ihr Dasein, ihre Institutionen, ihre militärischen Erinnerungen; darum
war im Norden die Liebe zum Vaterlande ein starkes, sicheres nationales
Gefühl, während im Süden die französischen Ideen noch lange vorherrsch-
ten und der Name Deutschland nur ein leeres Wort blieb. Wohl schlug
sich der kurmärkische Bauer und der schlesische Weber nur für Weib und
Kind und für seinen angestammten König; aber die Blücher, York und
Bülow, die er als seine Preußenhelden ehrte, waren doch wirklich die Helden
des neuen Deutschlands. Der süddeutsche Landmann wußte nichts von ihnen.
Und etwas von den deutsch-patriotischen Gedanken, welche die bewaffnete
Jugend der gebildeten Stände erfüllten, drang doch allmählich bis in die
niederen Schichten des preußischen Volkes herab. Jener demokratische
Zug, der seit der Befestigung der absoluten Monarchie im preußischen
Staate lebendig war, verstärkte sich mächtig während dieses Krieges. Wie
vormals die gemeinsame Freude an den Werken der deutschen Dichtung
die Unterschiede der Stände etwas ausgeglichen hatte, so fanden sich jetzt
alle Klassen zusammen in der ungleich wirksameren Gemeinschaft poli-
tischer Pflichterfüllung. Die Geschäfte der Landwehr-Ausschüsse, die Uebun-
gen des Landsturms, die öffentlichen Sammlungen und die Liebesarbeit
in den Hospitälern brachten auch die Daheimgebliebenen einander näher;
der schroffe Junker lernte mit den Bürgersleuten der Kreisstadt freund-
nachbarlich zu verkehren; wer in dieser Zeit sich hervorgethan, blieb sein
Leben lang ein geachteter Mann.

Vollends das Heer verwuchs zu einer großen Gemeinde, und nach
dem Frieden lebte die alte treue Waffenbrüderschaft in den Vereinen und
Festen der Kameraden fort. Das eigenthümliche scharfe und schneidige
Wesen der fridericianischen Armee blieb erhalten, desgleichen das stolze
Gefühl aristokratischer Standesehre unter den Offizieren. Aber die alten
Berufssoldaten mußten sich gewöhnen mit den gebildeten jungen Mann-
schaften ruhig und freundlich umzugehen. Grade die Besten unter ihnen
erkannten willig an, wie viel gesunde Kraft dem Offizierscorps aus den
Reihen der freiwilligen Jäger zuströmte; mit herzlicher Freude lobte Gnei-
senau die jungen Freiwilligen: "es wird mir schwer mich der Thränen
zu enthalten, wenn ich diesen Edelmuth, diesen hohen deutschen Sinn ge-
wahr werde." Da die Hauptmasse der Freiwilligen aus Studenten und
studirten Leuten bestand, so behauptete der jugendliche Ton akademischer
Fröhlichkeit auch im Feldlager sein Recht, nur daß er sich der strengen
Mannszucht fügen mußte. Wie oft haben die Lützower Jäger den Landes-

I. 4. Der Befreiungskrieg.

Bald genug zeigte ſich die prophetiſche Wahrheit, die in den harten
Worten Fichtes lag: „Auch im Kriege wird ein Volk zum Volke; wer
dieſen Krieg nicht mitführt, kann durch kein Decret dem deutſchen
Volke einverleibt werden.“ Das neue Preußen, ſein Staat und ſein
Heer, hatte ſich gebildet im bewußten Gegenſatze zu allem ausländiſchen
Weſen; die Staaten des Südens verdankten der Herrſchaft Frankreichs
ihr Daſein, ihre Inſtitutionen, ihre militäriſchen Erinnerungen; darum
war im Norden die Liebe zum Vaterlande ein ſtarkes, ſicheres nationales
Gefühl, während im Süden die franzöſiſchen Ideen noch lange vorherrſch-
ten und der Name Deutſchland nur ein leeres Wort blieb. Wohl ſchlug
ſich der kurmärkiſche Bauer und der ſchleſiſche Weber nur für Weib und
Kind und für ſeinen angeſtammten König; aber die Blücher, York und
Bülow, die er als ſeine Preußenhelden ehrte, waren doch wirklich die Helden
des neuen Deutſchlands. Der ſüddeutſche Landmann wußte nichts von ihnen.
Und etwas von den deutſch-patriotiſchen Gedanken, welche die bewaffnete
Jugend der gebildeten Stände erfüllten, drang doch allmählich bis in die
niederen Schichten des preußiſchen Volkes herab. Jener demokratiſche
Zug, der ſeit der Befeſtigung der abſoluten Monarchie im preußiſchen
Staate lebendig war, verſtärkte ſich mächtig während dieſes Krieges. Wie
vormals die gemeinſame Freude an den Werken der deutſchen Dichtung
die Unterſchiede der Stände etwas ausgeglichen hatte, ſo fanden ſich jetzt
alle Klaſſen zuſammen in der ungleich wirkſameren Gemeinſchaft poli-
tiſcher Pflichterfüllung. Die Geſchäfte der Landwehr-Ausſchüſſe, die Uebun-
gen des Landſturms, die öffentlichen Sammlungen und die Liebesarbeit
in den Hoſpitälern brachten auch die Daheimgebliebenen einander näher;
der ſchroffe Junker lernte mit den Bürgersleuten der Kreisſtadt freund-
nachbarlich zu verkehren; wer in dieſer Zeit ſich hervorgethan, blieb ſein
Leben lang ein geachteter Mann.

Vollends das Heer verwuchs zu einer großen Gemeinde, und nach
dem Frieden lebte die alte treue Waffenbrüderſchaft in den Vereinen und
Feſten der Kameraden fort. Das eigenthümliche ſcharfe und ſchneidige
Weſen der fridericianiſchen Armee blieb erhalten, desgleichen das ſtolze
Gefühl ariſtokratiſcher Standesehre unter den Offizieren. Aber die alten
Berufsſoldaten mußten ſich gewöhnen mit den gebildeten jungen Mann-
ſchaften ruhig und freundlich umzugehen. Grade die Beſten unter ihnen
erkannten willig an, wie viel geſunde Kraft dem Offizierscorps aus den
Reihen der freiwilligen Jäger zuſtrömte; mit herzlicher Freude lobte Gnei-
ſenau die jungen Freiwilligen: „es wird mir ſchwer mich der Thränen
zu enthalten, wenn ich dieſen Edelmuth, dieſen hohen deutſchen Sinn ge-
wahr werde.“ Da die Hauptmaſſe der Freiwilligen aus Studenten und
ſtudirten Leuten beſtand, ſo behauptete der jugendliche Ton akademiſcher
Fröhlichkeit auch im Feldlager ſein Recht, nur daß er ſich der ſtrengen
Mannszucht fügen mußte. Wie oft haben die Lützower Jäger den Landes-

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[434/0450] I. 4. Der Befreiungskrieg. Bald genug zeigte ſich die prophetiſche Wahrheit, die in den harten Worten Fichtes lag: „Auch im Kriege wird ein Volk zum Volke; wer dieſen Krieg nicht mitführt, kann durch kein Decret dem deutſchen Volke einverleibt werden.“ Das neue Preußen, ſein Staat und ſein Heer, hatte ſich gebildet im bewußten Gegenſatze zu allem ausländiſchen Weſen; die Staaten des Südens verdankten der Herrſchaft Frankreichs ihr Daſein, ihre Inſtitutionen, ihre militäriſchen Erinnerungen; darum war im Norden die Liebe zum Vaterlande ein ſtarkes, ſicheres nationales Gefühl, während im Süden die franzöſiſchen Ideen noch lange vorherrſch- ten und der Name Deutſchland nur ein leeres Wort blieb. Wohl ſchlug ſich der kurmärkiſche Bauer und der ſchleſiſche Weber nur für Weib und Kind und für ſeinen angeſtammten König; aber die Blücher, York und Bülow, die er als ſeine Preußenhelden ehrte, waren doch wirklich die Helden des neuen Deutſchlands. Der ſüddeutſche Landmann wußte nichts von ihnen. Und etwas von den deutſch-patriotiſchen Gedanken, welche die bewaffnete Jugend der gebildeten Stände erfüllten, drang doch allmählich bis in die niederen Schichten des preußiſchen Volkes herab. Jener demokratiſche Zug, der ſeit der Befeſtigung der abſoluten Monarchie im preußiſchen Staate lebendig war, verſtärkte ſich mächtig während dieſes Krieges. Wie vormals die gemeinſame Freude an den Werken der deutſchen Dichtung die Unterſchiede der Stände etwas ausgeglichen hatte, ſo fanden ſich jetzt alle Klaſſen zuſammen in der ungleich wirkſameren Gemeinſchaft poli- tiſcher Pflichterfüllung. Die Geſchäfte der Landwehr-Ausſchüſſe, die Uebun- gen des Landſturms, die öffentlichen Sammlungen und die Liebesarbeit in den Hoſpitälern brachten auch die Daheimgebliebenen einander näher; der ſchroffe Junker lernte mit den Bürgersleuten der Kreisſtadt freund- nachbarlich zu verkehren; wer in dieſer Zeit ſich hervorgethan, blieb ſein Leben lang ein geachteter Mann. Vollends das Heer verwuchs zu einer großen Gemeinde, und nach dem Frieden lebte die alte treue Waffenbrüderſchaft in den Vereinen und Feſten der Kameraden fort. Das eigenthümliche ſcharfe und ſchneidige Weſen der fridericianiſchen Armee blieb erhalten, desgleichen das ſtolze Gefühl ariſtokratiſcher Standesehre unter den Offizieren. Aber die alten Berufsſoldaten mußten ſich gewöhnen mit den gebildeten jungen Mann- ſchaften ruhig und freundlich umzugehen. Grade die Beſten unter ihnen erkannten willig an, wie viel geſunde Kraft dem Offizierscorps aus den Reihen der freiwilligen Jäger zuſtrömte; mit herzlicher Freude lobte Gnei- ſenau die jungen Freiwilligen: „es wird mir ſchwer mich der Thränen zu enthalten, wenn ich dieſen Edelmuth, dieſen hohen deutſchen Sinn ge- wahr werde.“ Da die Hauptmaſſe der Freiwilligen aus Studenten und ſtudirten Leuten beſtand, ſo behauptete der jugendliche Ton akademiſcher Fröhlichkeit auch im Feldlager ſein Recht, nur daß er ſich der ſtrengen Mannszucht fügen mußte. Wie oft haben die Lützower Jäger den Landes-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/450>, abgerufen am 22.11.2024.