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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Reichenbacher Vertrag v. 27. Juni.
Feldzuge theilzunehmen und einen gemeinsamen Kriegsplan mit den Ver-
bündeten zu vereinbaren; trat der Kriegsfall ein, so sollte der von den
Alliirten ursprünglich vorgeschlagene Plan einer gründlichen Neugestaltung
Europas als das Ziel des gemeinsamen Kampfes gelten, und man ver-
pflichtete sich diesen Plan im weitesten Sinne auszulegen. Also eröffnete
sich doch eine Aussicht, die schwankende Hofburg in einen Krieg großen
Stiles hineinzureißen.

Aber auch nur eine Aussicht. Denn unterdessen war Metternich
nach Dresden gegangen, in der festen Absicht Napoleon für den Frieden
zu gewinnen. Dort ging es hoch her, im Palaste Marcolini: der ge-
sammte kaiserliche Hofstaat war versammelt, Talma und die Mars spielten
vor dem Imperator. Die französische Nation sollte glauben, daß ihr Be-
herrscher den Frieden ernstlich wolle und sich auf die langen Verhand-
lungen eines großen europäischen Congresses einrichte. In Wahrheit war
all sein Sinnen nur noch auf die Wiederaufnahme des Krieges gerichtet;
die Anwandlungen friedlicher Gedanken verflogen seit er den guten Fort-
gang seiner gewaltigen Rüstungen sah und die unbeirrte Festigkeit des
Czaren erkannte. Als er mit dem Abgesandten des vermittelnden Hofes
in einer langen Unterredung unter vier Augen sich besprach, da brach
sein beleidigter Stolz und der verhaltene Zorn über alle die getäuschten
Hoffnungen, die er einst an die österreichische Familienverbindung geknüpft,
in so leidenschaftlichen und gehässigen Worten durch, daß Metternich jetzt
zum ersten male ernstlich zu bezweifeln begann, ob eine Verständigung
mit diesem Manne möglich sei. Die Ueberhebung des Imperators, der
sich längst gewöhnt hatte die Habsburg-Lothringer als "störrische Vasallen
der Krone Frankreich" zu behandeln, erschien dem weltkundigen öster-
reichischen Diplomaten wie Raserei; und dabei sagte sich der vollendete
Weltmann mit stillbefriedigtem Lächeln, dieser unbändig polternde Allge-
waltige sei doch nur ein Plebejer. Trotzdem trennte man sich zuletzt
in leidlichem Einvernehmen -- so stark waren noch immer Oesterreichs
Friedenswünsche -- und verabredete zugleich, daß ein förmlicher Frie-
denscongreß in Prag zusammentreten, der Ablauf des Waffenstillstandes
aber vom 20. Juli auf den 10. August hinausgeschoben werden solle.
Napoleon hatte seine Rüstungen noch nicht beendet, und auch die Hofburg
hieß jede Vertagung willkommen, da ihr Heer sich noch in unfertigem Zu-
stande befand.

Darauf neue peinliche Erwägungen im Hauptquartiere der Alliirten,
denen weder der Congreß noch die Verlängerung der Waffenruhe gelegen
kam. Am 4. Juli traf Hardenberg mit Nesselrode, Metternich und Sta-
dion im Schlosse Ratiborziz zusammen. Es entspann sich eine lange
stürmische Verhandlung; Nesselrode gesteht, daß er im ganzen Verlaufe
seiner langen diplomatischen Laufbahn kaum je einer bewegteren Sitzung
beigewohnt habe. Die Alliirten legten schließlich die Leitung der Prager

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 30

Reichenbacher Vertrag v. 27. Juni.
Feldzuge theilzunehmen und einen gemeinſamen Kriegsplan mit den Ver-
bündeten zu vereinbaren; trat der Kriegsfall ein, ſo ſollte der von den
Alliirten urſprünglich vorgeſchlagene Plan einer gründlichen Neugeſtaltung
Europas als das Ziel des gemeinſamen Kampfes gelten, und man ver-
pflichtete ſich dieſen Plan im weiteſten Sinne auszulegen. Alſo eröffnete
ſich doch eine Ausſicht, die ſchwankende Hofburg in einen Krieg großen
Stiles hineinzureißen.

Aber auch nur eine Ausſicht. Denn unterdeſſen war Metternich
nach Dresden gegangen, in der feſten Abſicht Napoleon für den Frieden
zu gewinnen. Dort ging es hoch her, im Palaſte Marcolini: der ge-
ſammte kaiſerliche Hofſtaat war verſammelt, Talma und die Mars ſpielten
vor dem Imperator. Die franzöſiſche Nation ſollte glauben, daß ihr Be-
herrſcher den Frieden ernſtlich wolle und ſich auf die langen Verhand-
lungen eines großen europäiſchen Congreſſes einrichte. In Wahrheit war
all ſein Sinnen nur noch auf die Wiederaufnahme des Krieges gerichtet;
die Anwandlungen friedlicher Gedanken verflogen ſeit er den guten Fort-
gang ſeiner gewaltigen Rüſtungen ſah und die unbeirrte Feſtigkeit des
Czaren erkannte. Als er mit dem Abgeſandten des vermittelnden Hofes
in einer langen Unterredung unter vier Augen ſich beſprach, da brach
ſein beleidigter Stolz und der verhaltene Zorn über alle die getäuſchten
Hoffnungen, die er einſt an die öſterreichiſche Familienverbindung geknüpft,
in ſo leidenſchaftlichen und gehäſſigen Worten durch, daß Metternich jetzt
zum erſten male ernſtlich zu bezweifeln begann, ob eine Verſtändigung
mit dieſem Manne möglich ſei. Die Ueberhebung des Imperators, der
ſich längſt gewöhnt hatte die Habsburg-Lothringer als „ſtörriſche Vaſallen
der Krone Frankreich“ zu behandeln, erſchien dem weltkundigen öſter-
reichiſchen Diplomaten wie Raſerei; und dabei ſagte ſich der vollendete
Weltmann mit ſtillbefriedigtem Lächeln, dieſer unbändig polternde Allge-
waltige ſei doch nur ein Plebejer. Trotzdem trennte man ſich zuletzt
in leidlichem Einvernehmen — ſo ſtark waren noch immer Oeſterreichs
Friedenswünſche — und verabredete zugleich, daß ein förmlicher Frie-
denscongreß in Prag zuſammentreten, der Ablauf des Waffenſtillſtandes
aber vom 20. Juli auf den 10. Auguſt hinausgeſchoben werden ſolle.
Napoleon hatte ſeine Rüſtungen noch nicht beendet, und auch die Hofburg
hieß jede Vertagung willkommen, da ihr Heer ſich noch in unfertigem Zu-
ſtande befand.

Darauf neue peinliche Erwägungen im Hauptquartiere der Alliirten,
denen weder der Congreß noch die Verlängerung der Waffenruhe gelegen
kam. Am 4. Juli traf Hardenberg mit Neſſelrode, Metternich und Sta-
dion im Schloſſe Ratiborziz zuſammen. Es entſpann ſich eine lange
ſtürmiſche Verhandlung; Neſſelrode geſteht, daß er im ganzen Verlaufe
ſeiner langen diplomatiſchen Laufbahn kaum je einer bewegteren Sitzung
beigewohnt habe. Die Alliirten legten ſchließlich die Leitung der Prager

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 30
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[465/0481] Reichenbacher Vertrag v. 27. Juni. Feldzuge theilzunehmen und einen gemeinſamen Kriegsplan mit den Ver- bündeten zu vereinbaren; trat der Kriegsfall ein, ſo ſollte der von den Alliirten urſprünglich vorgeſchlagene Plan einer gründlichen Neugeſtaltung Europas als das Ziel des gemeinſamen Kampfes gelten, und man ver- pflichtete ſich dieſen Plan im weiteſten Sinne auszulegen. Alſo eröffnete ſich doch eine Ausſicht, die ſchwankende Hofburg in einen Krieg großen Stiles hineinzureißen. Aber auch nur eine Ausſicht. Denn unterdeſſen war Metternich nach Dresden gegangen, in der feſten Abſicht Napoleon für den Frieden zu gewinnen. Dort ging es hoch her, im Palaſte Marcolini: der ge- ſammte kaiſerliche Hofſtaat war verſammelt, Talma und die Mars ſpielten vor dem Imperator. Die franzöſiſche Nation ſollte glauben, daß ihr Be- herrſcher den Frieden ernſtlich wolle und ſich auf die langen Verhand- lungen eines großen europäiſchen Congreſſes einrichte. In Wahrheit war all ſein Sinnen nur noch auf die Wiederaufnahme des Krieges gerichtet; die Anwandlungen friedlicher Gedanken verflogen ſeit er den guten Fort- gang ſeiner gewaltigen Rüſtungen ſah und die unbeirrte Feſtigkeit des Czaren erkannte. Als er mit dem Abgeſandten des vermittelnden Hofes in einer langen Unterredung unter vier Augen ſich beſprach, da brach ſein beleidigter Stolz und der verhaltene Zorn über alle die getäuſchten Hoffnungen, die er einſt an die öſterreichiſche Familienverbindung geknüpft, in ſo leidenſchaftlichen und gehäſſigen Worten durch, daß Metternich jetzt zum erſten male ernſtlich zu bezweifeln begann, ob eine Verſtändigung mit dieſem Manne möglich ſei. Die Ueberhebung des Imperators, der ſich längſt gewöhnt hatte die Habsburg-Lothringer als „ſtörriſche Vaſallen der Krone Frankreich“ zu behandeln, erſchien dem weltkundigen öſter- reichiſchen Diplomaten wie Raſerei; und dabei ſagte ſich der vollendete Weltmann mit ſtillbefriedigtem Lächeln, dieſer unbändig polternde Allge- waltige ſei doch nur ein Plebejer. Trotzdem trennte man ſich zuletzt in leidlichem Einvernehmen — ſo ſtark waren noch immer Oeſterreichs Friedenswünſche — und verabredete zugleich, daß ein förmlicher Frie- denscongreß in Prag zuſammentreten, der Ablauf des Waffenſtillſtandes aber vom 20. Juli auf den 10. Auguſt hinausgeſchoben werden ſolle. Napoleon hatte ſeine Rüſtungen noch nicht beendet, und auch die Hofburg hieß jede Vertagung willkommen, da ihr Heer ſich noch in unfertigem Zu- ſtande befand. Darauf neue peinliche Erwägungen im Hauptquartiere der Alliirten, denen weder der Congreß noch die Verlängerung der Waffenruhe gelegen kam. Am 4. Juli traf Hardenberg mit Neſſelrode, Metternich und Sta- dion im Schloſſe Ratiborziz zuſammen. Es entſpann ſich eine lange ſtürmiſche Verhandlung; Neſſelrode geſteht, daß er im ganzen Verlaufe ſeiner langen diplomatiſchen Laufbahn kaum je einer bewegteren Sitzung beigewohnt habe. Die Alliirten legten ſchließlich die Leitung der Prager Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 30

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/481>, abgerufen am 22.11.2024.