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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
dem die Diplomaten nachrühmten, er habe ganz politische Eingeweide.
Aber wozu ein wagnißvoller Krieg, wenn man im Frieden die Ueberlegen-
heit Frankreichs ein wenig einschränken und eine glänzende Stellung an
der Seite des mächtigen Schwiegersohns erlangen konnte? Auch seine
Staatsmänner waren von kriegerischen Entschlüssen noch weit entfernt.
Gentz schrieb noch am 24. Juni vertraulich an Karadja: die Hofburg
hege die Ueberzeugung, daß die Mittel zur Niederwerfung der französischen
Uebermacht noch nicht reif seien; er fand es sonderbar, daß die Alliirten,
während sie Oesterreich zur Friedensvermittlung aufforderten, gleichzeitig
mit England ein Kriegsbündniß schlössen.

Noch deutlicher sprachen die Friedensvorschläge selbst, welche der
Mediator den Verbündeten vorlegte; sie zeigten unzweideutig, daß die
Hofburg nichts dringender wünschte als den Frieden, daß ihre bisherigen
Verhandlungen mit Napoleon keineswegs eine Komödie gewesen waren.
Oesterreichs Wünsche beschränkten sich auf vier Punkte: Aufhebung des
Herzogthums Warschau, das unter die Ostmächte vertheilt werden sollte;
Verstärkung des preußischen Staates durch diese Theilung, durch die Rück-
gabe von Danzig und durch die Räumung der Festungen; Rückfall der
illyrischen Provinzen an Oesterreich; dazu die Wiederherstellung von Ham-
burg und Lübeck und für den unwahrscheinlichen Fall, daß England sich
zu einem allgemeinen Frieden bereit fände, auch noch die Herausgabe der
deutschen Nordseeküste. Alle Herzenswünsche der Hofburg kamen in diesem
Programme an den Tag. Mit Illyrien erhielt Oesterreich seine adriatische
Machtstellung wieder; durch die Auflösung von Warschau verschwand jener
Herd polnischer Verschwörungen, welchen Metternich immer als hochge-
fährlich für die drei Ostmächte angesehen hatte; Preußen aber empfing durch
die neue Theilung Polens grade jene Provinzen zurück, an denen dem
Könige wenig lag, wurde kaum wieder eine Macht zweiten Ranges; der
Rheinbund endlich blieb erhalten, nach Metternichs altem Grundsatze, daß
man die kleinen Höfe durch nachgiebige Güte gewinnen müsse.

Welche Zumuthung für die Verbündeten! Sie schwankten lange, ver-
handelten seit dem 10. Juni mit Stadion im Hauptquartier zu Reichenbach
und gleichzeitig in wiederholten persönlichen Zusammenkünften mit dem
kaiserlichen Hofe, der seine Residenz in die Schlösser an der böhmisch-schlesi-
schen Grenze verlegt hatte. Trotz aller Bedenken blieb Hardenberg des zu-
versichtlichen Glaubens, daß Napoleon niemals in diese bescheidenen Bedin-
gungen willigen werde; forderten sie doch von ihm was er noch in starker
Hand festhielt! Am 27. Juni unterzeichneten endlich Stadion, Nesselrode
und Hardenberg den Reichenbacher Vertrag, welcher die österreichischen
Vorschläge guthieß, aber zugleich der Hofburg zum ersten male eine halb-
wegs sichere Verpflichtung auferlegte. Oesterreich mußte versprechen, falls
Napoleon die Friedensbedingungen bis zum 20. Juli nicht annähme, so-
fort die Waffen zu ergreifen, mit mindestens 150,000 Mann an dem

I. 4. Der Befreiungskrieg.
dem die Diplomaten nachrühmten, er habe ganz politiſche Eingeweide.
Aber wozu ein wagnißvoller Krieg, wenn man im Frieden die Ueberlegen-
heit Frankreichs ein wenig einſchränken und eine glänzende Stellung an
der Seite des mächtigen Schwiegerſohns erlangen konnte? Auch ſeine
Staatsmänner waren von kriegeriſchen Entſchlüſſen noch weit entfernt.
Gentz ſchrieb noch am 24. Juni vertraulich an Karadja: die Hofburg
hege die Ueberzeugung, daß die Mittel zur Niederwerfung der franzöſiſchen
Uebermacht noch nicht reif ſeien; er fand es ſonderbar, daß die Alliirten,
während ſie Oeſterreich zur Friedensvermittlung aufforderten, gleichzeitig
mit England ein Kriegsbündniß ſchlöſſen.

Noch deutlicher ſprachen die Friedensvorſchläge ſelbſt, welche der
Mediator den Verbündeten vorlegte; ſie zeigten unzweideutig, daß die
Hofburg nichts dringender wünſchte als den Frieden, daß ihre bisherigen
Verhandlungen mit Napoleon keineswegs eine Komödie geweſen waren.
Oeſterreichs Wünſche beſchränkten ſich auf vier Punkte: Aufhebung des
Herzogthums Warſchau, das unter die Oſtmächte vertheilt werden ſollte;
Verſtärkung des preußiſchen Staates durch dieſe Theilung, durch die Rück-
gabe von Danzig und durch die Räumung der Feſtungen; Rückfall der
illyriſchen Provinzen an Oeſterreich; dazu die Wiederherſtellung von Ham-
burg und Lübeck und für den unwahrſcheinlichen Fall, daß England ſich
zu einem allgemeinen Frieden bereit fände, auch noch die Herausgabe der
deutſchen Nordſeeküſte. Alle Herzenswünſche der Hofburg kamen in dieſem
Programme an den Tag. Mit Illyrien erhielt Oeſterreich ſeine adriatiſche
Machtſtellung wieder; durch die Auflöſung von Warſchau verſchwand jener
Herd polniſcher Verſchwörungen, welchen Metternich immer als hochge-
fährlich für die drei Oſtmächte angeſehen hatte; Preußen aber empfing durch
die neue Theilung Polens grade jene Provinzen zurück, an denen dem
Könige wenig lag, wurde kaum wieder eine Macht zweiten Ranges; der
Rheinbund endlich blieb erhalten, nach Metternichs altem Grundſatze, daß
man die kleinen Höfe durch nachgiebige Güte gewinnen müſſe.

Welche Zumuthung für die Verbündeten! Sie ſchwankten lange, ver-
handelten ſeit dem 10. Juni mit Stadion im Hauptquartier zu Reichenbach
und gleichzeitig in wiederholten perſönlichen Zuſammenkünften mit dem
kaiſerlichen Hofe, der ſeine Reſidenz in die Schlöſſer an der böhmiſch-ſchleſi-
ſchen Grenze verlegt hatte. Trotz aller Bedenken blieb Hardenberg des zu-
verſichtlichen Glaubens, daß Napoleon niemals in dieſe beſcheidenen Bedin-
gungen willigen werde; forderten ſie doch von ihm was er noch in ſtarker
Hand feſthielt! Am 27. Juni unterzeichneten endlich Stadion, Neſſelrode
und Hardenberg den Reichenbacher Vertrag, welcher die öſterreichiſchen
Vorſchläge guthieß, aber zugleich der Hofburg zum erſten male eine halb-
wegs ſichere Verpflichtung auferlegte. Oeſterreich mußte verſprechen, falls
Napoleon die Friedensbedingungen bis zum 20. Juli nicht annähme, ſo-
fort die Waffen zu ergreifen, mit mindeſtens 150,000 Mann an dem

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[464/0480] I. 4. Der Befreiungskrieg. dem die Diplomaten nachrühmten, er habe ganz politiſche Eingeweide. Aber wozu ein wagnißvoller Krieg, wenn man im Frieden die Ueberlegen- heit Frankreichs ein wenig einſchränken und eine glänzende Stellung an der Seite des mächtigen Schwiegerſohns erlangen konnte? Auch ſeine Staatsmänner waren von kriegeriſchen Entſchlüſſen noch weit entfernt. Gentz ſchrieb noch am 24. Juni vertraulich an Karadja: die Hofburg hege die Ueberzeugung, daß die Mittel zur Niederwerfung der franzöſiſchen Uebermacht noch nicht reif ſeien; er fand es ſonderbar, daß die Alliirten, während ſie Oeſterreich zur Friedensvermittlung aufforderten, gleichzeitig mit England ein Kriegsbündniß ſchlöſſen. Noch deutlicher ſprachen die Friedensvorſchläge ſelbſt, welche der Mediator den Verbündeten vorlegte; ſie zeigten unzweideutig, daß die Hofburg nichts dringender wünſchte als den Frieden, daß ihre bisherigen Verhandlungen mit Napoleon keineswegs eine Komödie geweſen waren. Oeſterreichs Wünſche beſchränkten ſich auf vier Punkte: Aufhebung des Herzogthums Warſchau, das unter die Oſtmächte vertheilt werden ſollte; Verſtärkung des preußiſchen Staates durch dieſe Theilung, durch die Rück- gabe von Danzig und durch die Räumung der Feſtungen; Rückfall der illyriſchen Provinzen an Oeſterreich; dazu die Wiederherſtellung von Ham- burg und Lübeck und für den unwahrſcheinlichen Fall, daß England ſich zu einem allgemeinen Frieden bereit fände, auch noch die Herausgabe der deutſchen Nordſeeküſte. Alle Herzenswünſche der Hofburg kamen in dieſem Programme an den Tag. Mit Illyrien erhielt Oeſterreich ſeine adriatiſche Machtſtellung wieder; durch die Auflöſung von Warſchau verſchwand jener Herd polniſcher Verſchwörungen, welchen Metternich immer als hochge- fährlich für die drei Oſtmächte angeſehen hatte; Preußen aber empfing durch die neue Theilung Polens grade jene Provinzen zurück, an denen dem Könige wenig lag, wurde kaum wieder eine Macht zweiten Ranges; der Rheinbund endlich blieb erhalten, nach Metternichs altem Grundſatze, daß man die kleinen Höfe durch nachgiebige Güte gewinnen müſſe. Welche Zumuthung für die Verbündeten! Sie ſchwankten lange, ver- handelten ſeit dem 10. Juni mit Stadion im Hauptquartier zu Reichenbach und gleichzeitig in wiederholten perſönlichen Zuſammenkünften mit dem kaiſerlichen Hofe, der ſeine Reſidenz in die Schlöſſer an der böhmiſch-ſchleſi- ſchen Grenze verlegt hatte. Trotz aller Bedenken blieb Hardenberg des zu- verſichtlichen Glaubens, daß Napoleon niemals in dieſe beſcheidenen Bedin- gungen willigen werde; forderten ſie doch von ihm was er noch in ſtarker Hand feſthielt! Am 27. Juni unterzeichneten endlich Stadion, Neſſelrode und Hardenberg den Reichenbacher Vertrag, welcher die öſterreichiſchen Vorſchläge guthieß, aber zugleich der Hofburg zum erſten male eine halb- wegs ſichere Verpflichtung auferlegte. Oeſterreich mußte verſprechen, falls Napoleon die Friedensbedingungen bis zum 20. Juli nicht annähme, ſo- fort die Waffen zu ergreifen, mit mindeſtens 150,000 Mann an dem

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/480>, abgerufen am 22.11.2024.