Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.Kriegsminister von Boyen. stören. Während der zwei letzten Jahrzehnte war eine für Preußen sehrungünstige Verschiebung der militärischen Machtverhältnisse eingetreten. Das fridericianische Heer war das stärkste Europas gewesen, Dank der Cantonpflicht Friedrich Wilhelms I. Seitdem aber hatten alle Nach- barstaaten, jeder in seiner Weise, das preußische System der Zwangs- aushebung nachgeahmt. Die natürliche Ueberlegenheit der Kopfzahl trat in Kraft; die kleinste der Großmächte konnte nur noch hoffen nicht allzu weit hinter den stärkeren Nachbarn zurückzubleiben, sie mußte versuchen, durch die höchste Anspannung der sittlichen Kräfte des Heeres die Un- gunst der Zahlen einigermaßen auszugleichen. Boyen wußte wohl, mit wie unverhältnißmäßigen Verlusten die Landwehr alle ihre Siege erkauft, und wie mangelhaft ihre Mannszucht, namentlich in den furchtbaren Prüfungen des Winterfeldzugs, sich gezeigt hatte. Auf eine so massenhafte Verwendung der Landwehren im freien Felde war Scharnhorst selber An- fangs schwerlich gefaßt gewesen. Erst die Noth, erst das Mißlingen des Frühjahrsfeldzuges und wahrscheinlich Gneisenaus Rath hatten den König während des Waffenstillstandes bewogen, diese Truppe mit ihrem buntge- mischten Offizierscorps kurzweg in die Feldarmee einzureihen. Nur durch ganz außerordentliche Ereignisse, durch den langjährigen harten Druck der Fremdherrschaft war jene wilde Gluth des Nationalhasses und der patrioti- schen Leidenschaft möglich geworden, welche die ungeschulten Schaaren der Landwehr zu so wunderbaren Erfolgen befähigt hatte. Der Kriegsminister kannte die Welt zu gut um die Wiederkehr der gleichen Opferfreudigkeit auch in der Zukunft zu erwarten, wenn etwa ein den Massen der Nation unverständlicher Krieg dem Könige aufgezwungen würde. Und doch war Preußen durch seine centrale Lage wie durch die stolzen fridericianischen Traditionen seines Heeres in jedem Kriege immer zur Offensive genö- thigt: der Staat brauchte eine starke Feldarmee, er mußte seine Land- wehr zum Dienste außerhalb der Landesgrenzen verpflichten um das feindliche Gebiet sogleich mit gewaltigen Massen überfluthen zu können. Aus Alledem ergab sich die Nothwendigkeit, die Landwehr eng an das Kriegsminiſter von Boyen. ſtören. Während der zwei letzten Jahrzehnte war eine für Preußen ſehrungünſtige Verſchiebung der militäriſchen Machtverhältniſſe eingetreten. Das fridericianiſche Heer war das ſtärkſte Europas geweſen, Dank der Cantonpflicht Friedrich Wilhelms I. Seitdem aber hatten alle Nach- barſtaaten, jeder in ſeiner Weiſe, das preußiſche Syſtem der Zwangs- aushebung nachgeahmt. Die natürliche Ueberlegenheit der Kopfzahl trat in Kraft; die kleinſte der Großmächte konnte nur noch hoffen nicht allzu weit hinter den ſtärkeren Nachbarn zurückzubleiben, ſie mußte verſuchen, durch die höchſte Anſpannung der ſittlichen Kräfte des Heeres die Un- gunſt der Zahlen einigermaßen auszugleichen. Boyen wußte wohl, mit wie unverhältnißmäßigen Verluſten die Landwehr alle ihre Siege erkauft, und wie mangelhaft ihre Mannszucht, namentlich in den furchtbaren Prüfungen des Winterfeldzugs, ſich gezeigt hatte. Auf eine ſo maſſenhafte Verwendung der Landwehren im freien Felde war Scharnhorſt ſelber An- fangs ſchwerlich gefaßt geweſen. Erſt die Noth, erſt das Mißlingen des Frühjahrsfeldzuges und wahrſcheinlich Gneiſenaus Rath hatten den König während des Waffenſtillſtandes bewogen, dieſe Truppe mit ihrem buntge- miſchten Offizierscorps kurzweg in die Feldarmee einzureihen. Nur durch ganz außerordentliche Ereigniſſe, durch den langjährigen harten Druck der Fremdherrſchaft war jene wilde Gluth des Nationalhaſſes und der patrioti- ſchen Leidenſchaft möglich geworden, welche die ungeſchulten Schaaren der Landwehr zu ſo wunderbaren Erfolgen befähigt hatte. Der Kriegsminiſter kannte die Welt zu gut um die Wiederkehr der gleichen Opferfreudigkeit auch in der Zukunft zu erwarten, wenn etwa ein den Maſſen der Nation unverſtändlicher Krieg dem Könige aufgezwungen würde. Und doch war Preußen durch ſeine centrale Lage wie durch die ſtolzen fridericianiſchen Traditionen ſeines Heeres in jedem Kriege immer zur Offenſive genö- thigt: der Staat brauchte eine ſtarke Feldarmee, er mußte ſeine Land- wehr zum Dienſte außerhalb der Landesgrenzen verpflichten um das feindliche Gebiet ſogleich mit gewaltigen Maſſen überfluthen zu können. Aus Alledem ergab ſich die Nothwendigkeit, die Landwehr eng an das <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0603" n="587"/><fw place="top" type="header">Kriegsminiſter von Boyen.</fw><lb/> ſtören. 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Die Natur der Dinge führte die Reorgani-<lb/> ſatoren der Armee zurück zu jenen einfach großen Gedanken, von denen<lb/> einſt Scharnhorſt ausgegangen und nur durch die Noth des Tages wieder<lb/> abgedrängt worden war; ſie erkannten, daß die ſtehende Armee die mili-<lb/> täriſche Schule für die geſammte Nation bilden, die Landwehr weſentlich<lb/> aus ausgedienten Mannſchaften beſtehen müſſe. Wie oft hatten Boyen,<lb/> Gneiſenau und Grolmann einſt mit Scharnhorſt jede mögliche Form der<lb/> Volksbewaffnung beſprochen. Alle hier einſchlagenden Fragen waren ihnen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [587/0603]
Kriegsminiſter von Boyen.
ſtören. Während der zwei letzten Jahrzehnte war eine für Preußen ſehr
ungünſtige Verſchiebung der militäriſchen Machtverhältniſſe eingetreten.
Das fridericianiſche Heer war das ſtärkſte Europas geweſen, Dank der
Cantonpflicht Friedrich Wilhelms I. Seitdem aber hatten alle Nach-
barſtaaten, jeder in ſeiner Weiſe, das preußiſche Syſtem der Zwangs-
aushebung nachgeahmt. Die natürliche Ueberlegenheit der Kopfzahl trat
in Kraft; die kleinſte der Großmächte konnte nur noch hoffen nicht allzu
weit hinter den ſtärkeren Nachbarn zurückzubleiben, ſie mußte verſuchen,
durch die höchſte Anſpannung der ſittlichen Kräfte des Heeres die Un-
gunſt der Zahlen einigermaßen auszugleichen. Boyen wußte wohl, mit
wie unverhältnißmäßigen Verluſten die Landwehr alle ihre Siege erkauft,
und wie mangelhaft ihre Mannszucht, namentlich in den furchtbaren
Prüfungen des Winterfeldzugs, ſich gezeigt hatte. Auf eine ſo maſſenhafte
Verwendung der Landwehren im freien Felde war Scharnhorſt ſelber An-
fangs ſchwerlich gefaßt geweſen. Erſt die Noth, erſt das Mißlingen des
Frühjahrsfeldzuges und wahrſcheinlich Gneiſenaus Rath hatten den König
während des Waffenſtillſtandes bewogen, dieſe Truppe mit ihrem buntge-
miſchten Offizierscorps kurzweg in die Feldarmee einzureihen. Nur durch
ganz außerordentliche Ereigniſſe, durch den langjährigen harten Druck der
Fremdherrſchaft war jene wilde Gluth des Nationalhaſſes und der patrioti-
ſchen Leidenſchaft möglich geworden, welche die ungeſchulten Schaaren der
Landwehr zu ſo wunderbaren Erfolgen befähigt hatte. Der Kriegsminiſter
kannte die Welt zu gut um die Wiederkehr der gleichen Opferfreudigkeit
auch in der Zukunft zu erwarten, wenn etwa ein den Maſſen der Nation
unverſtändlicher Krieg dem Könige aufgezwungen würde. Und doch war
Preußen durch ſeine centrale Lage wie durch die ſtolzen fridericianiſchen
Traditionen ſeines Heeres in jedem Kriege immer zur Offenſive genö-
thigt: der Staat brauchte eine ſtarke Feldarmee, er mußte ſeine Land-
wehr zum Dienſte außerhalb der Landesgrenzen verpflichten um das
feindliche Gebiet ſogleich mit gewaltigen Maſſen überfluthen zu können.
Aus Alledem ergab ſich die Nothwendigkeit, die Landwehr eng an das
ſtehende Heer anzuſchließen. Nun gebot die Monarchie augenblicklich über
viele tauſende ausgedienter, kampfgewohnter Soldaten, desgleichen über
eine Menge erprobter Offiziere, die wieder in das bürgerliche Leben
zurücktraten; es war die denkbar günſtigſte Stunde zur Bildung einer
kriegstüchtigen Landwehr. Die Natur der Dinge führte die Reorgani-
ſatoren der Armee zurück zu jenen einfach großen Gedanken, von denen
einſt Scharnhorſt ausgegangen und nur durch die Noth des Tages wieder
abgedrängt worden war; ſie erkannten, daß die ſtehende Armee die mili-
täriſche Schule für die geſammte Nation bilden, die Landwehr weſentlich
aus ausgedienten Mannſchaften beſtehen müſſe. Wie oft hatten Boyen,
Gneiſenau und Grolmann einſt mit Scharnhorſt jede mögliche Form der
Volksbewaffnung beſprochen. Alle hier einſchlagenden Fragen waren ihnen
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