Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Das preußische Wehrgesetz.
sich der König vor auch diesen Theil der Landwehr im Allgemeinen "zur
Verstärkung des Heeres" zu verwenden, so daß eine Verwendung im
Auslande nicht ausgeschlossen war. Der Landsturm endlich, nur für den
äußersten Fall zur Abwehr feindlicher Angriffe bestimmt, sollte alle irgend
Waffenfähigen vom siebzehnten bis zum fünfzigsten Jahre umfassen. Die
Söhne der gebildeten Stände, die sich selber ausrüsteten, blieben nur
ein Jahr bei der Fahne, traten schon nach drei Jahren in die Landwehr
ein und hatten den ersten Anspruch auf die Offiziersstellen der Landwehr.
Die abgesonderten Jägerdetachements blieben aufgehoben, indeß wagte
man noch nicht den demokratischen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht
bis in seine letzten Folgerungen hinauszuführen: die gebildeten Freiwil-
ligen wollte man vornehmlich den Elitecorps der Jäger und Schützen über-
weisen, obwohl ihnen freistand sich auch ein anderes Regiment zu wählen.
Erst die Erfahrung sollte lehren, wie heilsam die Mischung von feineren
und gröberen Elementen für die sittliche Haltung der Truppen war.
Die Kreisausschüsse, welche das Heer mit der bürgerlichen Selbstverwal-
tung verbanden, bestanden in veränderten Formen fort: eine Commission,
gebildet aus dem Landrathe, einem Offizier und mehreren städtischen
und ländlichen Gutsbesitzern, sollte das Ersatzgeschäft in jedem Kreise
besorgen.

Noch nie hatte ein moderner Staat in Friedenszeiten so harte For-
derungen an sein Volk gestellt; die Blutsteuer, welche Preußen seinen
Bürgern auferlegte, war unleugbar schwerer als alle anderen Steuern
zusammengenommen. Selbst die Anhänger der allgemeinen Wehrpflicht
wollten kaum ihren Ohren trauen, als sie erfuhren, daß alle Männer
bis zum neununddreißigsten Jahre, allerdings bei völlig freier Wahl des
Wohnsitzes wie des Berufes, sich zum Waffendienste bereit halten sollten.
Es war ein radicaler Bruch mit allen Neigungen und Vorurtheilen einer
friedlich erwerbenden Gesellschaft, ein Wagniß ohne jeden Vorgang, das
nur darum gelingen konnte, weil der Stamm der Landwehr bereits vor-
handen war und die hochherzige Erregung der Kriegszeit noch nachwirkte.
Der König verbarg sich nicht, welchem zähen passiven Widerstande die
neuen Institutionen namentlich in den neuen Provinzen begegnen würden,
und befahl daher eine schonende, schrittweis vorgehende Ausführung.

Ueberhaupt war noch Alles im Werden. Das Gesetz selber erkannte
an, daß unmöglich alle Wehrfähigen in das stehende Heer eintreten konnten
und ein Theil davon sogleich der Landwehr zugetheilt werden mußte;
doch über die Höhe der jährlichen Aushebung war noch nichts endgiltig
beschlossen. Nur so viel stand schon fest, daß die trostlose Lage des Staats-
haushalts eine sehr starke Linienarmee nicht gestattete; neben diesen über-
wältigenden finanziellen Sorgen mußten die schweren militärischen und
volkswirthschaftlichen Bedenken, welche gegen die unverhältnißmäßige Ver-
mehrung der Landwehr sprachen, vorläufig zurücktreten. Desgleichen konnte

Das preußiſche Wehrgeſetz.
ſich der König vor auch dieſen Theil der Landwehr im Allgemeinen „zur
Verſtärkung des Heeres“ zu verwenden, ſo daß eine Verwendung im
Auslande nicht ausgeſchloſſen war. Der Landſturm endlich, nur für den
äußerſten Fall zur Abwehr feindlicher Angriffe beſtimmt, ſollte alle irgend
Waffenfähigen vom ſiebzehnten bis zum fünfzigſten Jahre umfaſſen. Die
Söhne der gebildeten Stände, die ſich ſelber ausrüſteten, blieben nur
ein Jahr bei der Fahne, traten ſchon nach drei Jahren in die Landwehr
ein und hatten den erſten Anſpruch auf die Offiziersſtellen der Landwehr.
Die abgeſonderten Jägerdetachements blieben aufgehoben, indeß wagte
man noch nicht den demokratiſchen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht
bis in ſeine letzten Folgerungen hinauszuführen: die gebildeten Freiwil-
ligen wollte man vornehmlich den Elitecorps der Jäger und Schützen über-
weiſen, obwohl ihnen freiſtand ſich auch ein anderes Regiment zu wählen.
Erſt die Erfahrung ſollte lehren, wie heilſam die Miſchung von feineren
und gröberen Elementen für die ſittliche Haltung der Truppen war.
Die Kreisausſchüſſe, welche das Heer mit der bürgerlichen Selbſtverwal-
tung verbanden, beſtanden in veränderten Formen fort: eine Commiſſion,
gebildet aus dem Landrathe, einem Offizier und mehreren ſtädtiſchen
und ländlichen Gutsbeſitzern, ſollte das Erſatzgeſchäft in jedem Kreiſe
beſorgen.

Noch nie hatte ein moderner Staat in Friedenszeiten ſo harte For-
derungen an ſein Volk geſtellt; die Blutſteuer, welche Preußen ſeinen
Bürgern auferlegte, war unleugbar ſchwerer als alle anderen Steuern
zuſammengenommen. Selbſt die Anhänger der allgemeinen Wehrpflicht
wollten kaum ihren Ohren trauen, als ſie erfuhren, daß alle Männer
bis zum neununddreißigſten Jahre, allerdings bei völlig freier Wahl des
Wohnſitzes wie des Berufes, ſich zum Waffendienſte bereit halten ſollten.
Es war ein radicaler Bruch mit allen Neigungen und Vorurtheilen einer
friedlich erwerbenden Geſellſchaft, ein Wagniß ohne jeden Vorgang, das
nur darum gelingen konnte, weil der Stamm der Landwehr bereits vor-
handen war und die hochherzige Erregung der Kriegszeit noch nachwirkte.
Der König verbarg ſich nicht, welchem zähen paſſiven Widerſtande die
neuen Inſtitutionen namentlich in den neuen Provinzen begegnen würden,
und befahl daher eine ſchonende, ſchrittweis vorgehende Ausführung.

Ueberhaupt war noch Alles im Werden. Das Geſetz ſelber erkannte
an, daß unmöglich alle Wehrfähigen in das ſtehende Heer eintreten konnten
und ein Theil davon ſogleich der Landwehr zugetheilt werden mußte;
doch über die Höhe der jährlichen Aushebung war noch nichts endgiltig
beſchloſſen. Nur ſo viel ſtand ſchon feſt, daß die troſtloſe Lage des Staats-
haushalts eine ſehr ſtarke Linienarmee nicht geſtattete; neben dieſen über-
wältigenden finanziellen Sorgen mußten die ſchweren militäriſchen und
volkswirthſchaftlichen Bedenken, welche gegen die unverhältnißmäßige Ver-
mehrung der Landwehr ſprachen, vorläufig zurücktreten. Desgleichen konnte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0605" n="589"/><fw place="top" type="header">Das preußi&#x017F;che Wehrge&#x017F;etz.</fw><lb/>
&#x017F;ich der König vor auch die&#x017F;en Theil der Landwehr im Allgemeinen &#x201E;zur<lb/>
Ver&#x017F;tärkung des Heeres&#x201C; zu verwenden, &#x017F;o daß eine Verwendung im<lb/>
Auslande nicht ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en war. Der Land&#x017F;turm endlich, nur für den<lb/>
äußer&#x017F;ten Fall zur Abwehr feindlicher Angriffe be&#x017F;timmt, &#x017F;ollte alle irgend<lb/>
Waffenfähigen vom &#x017F;iebzehnten bis zum fünfzig&#x017F;ten Jahre umfa&#x017F;&#x017F;en. Die<lb/>
Söhne der gebildeten Stände, die &#x017F;ich &#x017F;elber ausrü&#x017F;teten, blieben nur<lb/>
ein Jahr bei der Fahne, traten &#x017F;chon nach drei Jahren in die Landwehr<lb/>
ein und hatten den er&#x017F;ten An&#x017F;pruch auf die Offiziers&#x017F;tellen der Landwehr.<lb/>
Die abge&#x017F;onderten Jägerdetachements blieben aufgehoben, indeß wagte<lb/>
man noch nicht den demokrati&#x017F;chen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht<lb/>
bis in &#x017F;eine letzten Folgerungen hinauszuführen: die gebildeten Freiwil-<lb/>
ligen wollte man vornehmlich den Elitecorps der Jäger und Schützen über-<lb/>
wei&#x017F;en, obwohl ihnen frei&#x017F;tand &#x017F;ich auch ein anderes Regiment zu wählen.<lb/>
Er&#x017F;t die Erfahrung &#x017F;ollte lehren, wie heil&#x017F;am die Mi&#x017F;chung von feineren<lb/>
und gröberen Elementen für die &#x017F;ittliche Haltung der Truppen war.<lb/>
Die Kreisaus&#x017F;chü&#x017F;&#x017F;e, welche das Heer mit der bürgerlichen Selb&#x017F;tverwal-<lb/>
tung verbanden, be&#x017F;tanden in veränderten Formen fort: eine Commi&#x017F;&#x017F;ion,<lb/>
gebildet aus dem Landrathe, einem Offizier und mehreren &#x017F;tädti&#x017F;chen<lb/>
und ländlichen Gutsbe&#x017F;itzern, &#x017F;ollte das Er&#x017F;atzge&#x017F;chäft in jedem Krei&#x017F;e<lb/>
be&#x017F;orgen.</p><lb/>
            <p>Noch nie hatte ein moderner Staat in Friedenszeiten &#x017F;o harte For-<lb/>
derungen an &#x017F;ein Volk ge&#x017F;tellt; die Blut&#x017F;teuer, welche Preußen &#x017F;einen<lb/>
Bürgern auferlegte, war unleugbar &#x017F;chwerer als alle anderen Steuern<lb/>
zu&#x017F;ammengenommen. Selb&#x017F;t die Anhänger der allgemeinen Wehrpflicht<lb/>
wollten kaum ihren Ohren trauen, als &#x017F;ie erfuhren, daß alle Männer<lb/>
bis zum neununddreißig&#x017F;ten Jahre, allerdings bei völlig freier Wahl des<lb/>
Wohn&#x017F;itzes wie des Berufes, &#x017F;ich zum Waffendien&#x017F;te bereit halten &#x017F;ollten.<lb/>
Es war ein radicaler Bruch mit allen Neigungen und Vorurtheilen einer<lb/>
friedlich erwerbenden Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, ein Wagniß ohne jeden Vorgang, das<lb/>
nur darum gelingen konnte, weil der Stamm der Landwehr bereits vor-<lb/>
handen war und die hochherzige Erregung der Kriegszeit noch nachwirkte.<lb/>
Der König verbarg &#x017F;ich nicht, welchem zähen pa&#x017F;&#x017F;iven Wider&#x017F;tande die<lb/>
neuen In&#x017F;titutionen namentlich in den neuen Provinzen begegnen würden,<lb/>
und befahl daher eine &#x017F;chonende, &#x017F;chrittweis vorgehende Ausführung.</p><lb/>
            <p>Ueberhaupt war noch Alles im Werden. Das Ge&#x017F;etz &#x017F;elber erkannte<lb/>
an, daß unmöglich alle Wehrfähigen in das &#x017F;tehende Heer eintreten konnten<lb/>
und ein Theil davon &#x017F;ogleich der Landwehr zugetheilt werden mußte;<lb/>
doch über die Höhe der jährlichen Aushebung war noch nichts endgiltig<lb/>
be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Nur &#x017F;o viel &#x017F;tand &#x017F;chon fe&#x017F;t, daß die tro&#x017F;tlo&#x017F;e Lage des Staats-<lb/>
haushalts eine &#x017F;ehr &#x017F;tarke Linienarmee nicht ge&#x017F;tattete; neben die&#x017F;en über-<lb/>
wältigenden finanziellen Sorgen mußten die &#x017F;chweren militäri&#x017F;chen und<lb/>
volkswirth&#x017F;chaftlichen Bedenken, welche gegen die unverhältnißmäßige Ver-<lb/>
mehrung der Landwehr &#x017F;prachen, vorläufig zurücktreten. Desgleichen konnte<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[589/0605] Das preußiſche Wehrgeſetz. ſich der König vor auch dieſen Theil der Landwehr im Allgemeinen „zur Verſtärkung des Heeres“ zu verwenden, ſo daß eine Verwendung im Auslande nicht ausgeſchloſſen war. Der Landſturm endlich, nur für den äußerſten Fall zur Abwehr feindlicher Angriffe beſtimmt, ſollte alle irgend Waffenfähigen vom ſiebzehnten bis zum fünfzigſten Jahre umfaſſen. Die Söhne der gebildeten Stände, die ſich ſelber ausrüſteten, blieben nur ein Jahr bei der Fahne, traten ſchon nach drei Jahren in die Landwehr ein und hatten den erſten Anſpruch auf die Offiziersſtellen der Landwehr. Die abgeſonderten Jägerdetachements blieben aufgehoben, indeß wagte man noch nicht den demokratiſchen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht bis in ſeine letzten Folgerungen hinauszuführen: die gebildeten Freiwil- ligen wollte man vornehmlich den Elitecorps der Jäger und Schützen über- weiſen, obwohl ihnen freiſtand ſich auch ein anderes Regiment zu wählen. Erſt die Erfahrung ſollte lehren, wie heilſam die Miſchung von feineren und gröberen Elementen für die ſittliche Haltung der Truppen war. Die Kreisausſchüſſe, welche das Heer mit der bürgerlichen Selbſtverwal- tung verbanden, beſtanden in veränderten Formen fort: eine Commiſſion, gebildet aus dem Landrathe, einem Offizier und mehreren ſtädtiſchen und ländlichen Gutsbeſitzern, ſollte das Erſatzgeſchäft in jedem Kreiſe beſorgen. Noch nie hatte ein moderner Staat in Friedenszeiten ſo harte For- derungen an ſein Volk geſtellt; die Blutſteuer, welche Preußen ſeinen Bürgern auferlegte, war unleugbar ſchwerer als alle anderen Steuern zuſammengenommen. Selbſt die Anhänger der allgemeinen Wehrpflicht wollten kaum ihren Ohren trauen, als ſie erfuhren, daß alle Männer bis zum neununddreißigſten Jahre, allerdings bei völlig freier Wahl des Wohnſitzes wie des Berufes, ſich zum Waffendienſte bereit halten ſollten. Es war ein radicaler Bruch mit allen Neigungen und Vorurtheilen einer friedlich erwerbenden Geſellſchaft, ein Wagniß ohne jeden Vorgang, das nur darum gelingen konnte, weil der Stamm der Landwehr bereits vor- handen war und die hochherzige Erregung der Kriegszeit noch nachwirkte. Der König verbarg ſich nicht, welchem zähen paſſiven Widerſtande die neuen Inſtitutionen namentlich in den neuen Provinzen begegnen würden, und befahl daher eine ſchonende, ſchrittweis vorgehende Ausführung. Ueberhaupt war noch Alles im Werden. Das Geſetz ſelber erkannte an, daß unmöglich alle Wehrfähigen in das ſtehende Heer eintreten konnten und ein Theil davon ſogleich der Landwehr zugetheilt werden mußte; doch über die Höhe der jährlichen Aushebung war noch nichts endgiltig beſchloſſen. Nur ſo viel ſtand ſchon feſt, daß die troſtloſe Lage des Staats- haushalts eine ſehr ſtarke Linienarmee nicht geſtattete; neben dieſen über- wältigenden finanziellen Sorgen mußten die ſchweren militäriſchen und volkswirthſchaftlichen Bedenken, welche gegen die unverhältnißmäßige Ver- mehrung der Landwehr ſprachen, vorläufig zurücktreten. Desgleichen konnte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/605
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/605>, abgerufen am 22.11.2024.