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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
geben und von jeder Berührung mit den Großmächten absperren sollten;
Rußland im Zaume gehalten durch das gesammte Europa, das die Türken
unter seinen Schutz nahm; die Revolution zerschmettert durch den vereinten
Widerstand der Höfe, wo und wie sie sich auch zeigte: in solchen Formen
etwa stellte sich Metternich das neue von Oesterreich geleitete Europa vor.
Es war ein System der Seelenangst, die Ausgeburt eines ideenlosen
Kopfes, der von den treibenden Kräften der Geschichte nicht das Mindeste
ahnte; aber diese Politik entsprach dem augenblicklichen Bedürfniß der
österreichischen Monarchie, sie entsprach der allgemeinen Schlummersucht
der ermatteten Welt und sie ging ans Werk mit gewiegter Schlauheit,
mit gründlicher Kenntniß aller gemeinen Triebe der menschlichen Natur,
sie verstand sich meisterhaft auf jene kleinen Künste gemüthlich lächelnder
Verlogenheit, worin von Alters her die Stärke der habsburgischen Staats-
kunst lag.

Unter den fremden Gästen erregten die Engländer das größte Auf-
sehen. Eine solche Toilette, wie sie die colossale Lady Castlereagh trug,
so altmodisch, grell und abgeschmackt, war den glatten Continentalen lange
nicht vorgekommen. Die seit Jahren von dem Festlande abgesperrten
Insulaner erschienen wie Gestalten aus einer anderen Welt; überall
reizten sie den Spott durch die wunderlichen Schrullen ihres Spleens, den
Widerwillen durch ihren protzenhaften Uebermuth. Die gesammte vornehme
Welt lachte schadenfroh, als die Wiener Fiakerkutscher einmal das allge-
meine Urtheil über die britische Bescheidenheit auf dem Rücken des Ge-
nerals Charles Stewart urkundlich beglaubigten. Erst gegen das Ende
des Congresses traf Wellington ein, endlich ein würdiger Vertreter der
großen Seemacht, aber auch er verstand von den deutschen Dingen nicht
mehr als seine armseligen Genossen Castlereagh und Cathcart, hielt sich
wie diese an die Rathschläge der Oesterreicher und der Hannoveraner.

Wie anders wußte der Czar sich zur Geltung zu bringen. Er
spielte noch gern den schönen jungen Mann, man sah ihn zuweilen Arm
in Arm mit den durchlauchtigen jungen Cavalieren von der böhmischen
oder der ungarischen Nobelgarde. Dabei bewahrte er doch die salbungs-
volle Weihe des Weltheilands und Weltbefreiers; noch nie hatte er so
beredt und sanft über die Beglückung des Menschengeschlechts gesprochen.
In einer Instruction, die er von Wien aus an alle seine Gesandten
schickte, schlug er einen Ton an, der an die Sprache des Rheinischen
Mercurs erinnerte: der Sturz Napoleons, sagte er geradezu, sei bewirkt
durch den Sieg der öffentlichen Meinung über die Ansichten der meisten
Cabinette; für die Zukunft müsse jedes Volk in den Stand gesetzt werden
selber seine Unabhängigkeit zu vertheidigen; darum keine Zerstückelung
der Länder mehr und Einführung des Repräsentativsystems in allen
Staaten! Und abermals war Alexander in der glücklichen Lage daß seine
weltbefreienden Gedanken mit seinem persönlichen Interesse genau zusam-

II. 1. Der Wiener Congreß.
geben und von jeder Berührung mit den Großmächten abſperren ſollten;
Rußland im Zaume gehalten durch das geſammte Europa, das die Türken
unter ſeinen Schutz nahm; die Revolution zerſchmettert durch den vereinten
Widerſtand der Höfe, wo und wie ſie ſich auch zeigte: in ſolchen Formen
etwa ſtellte ſich Metternich das neue von Oeſterreich geleitete Europa vor.
Es war ein Syſtem der Seelenangſt, die Ausgeburt eines ideenloſen
Kopfes, der von den treibenden Kräften der Geſchichte nicht das Mindeſte
ahnte; aber dieſe Politik entſprach dem augenblicklichen Bedürfniß der
öſterreichiſchen Monarchie, ſie entſprach der allgemeinen Schlummerſucht
der ermatteten Welt und ſie ging ans Werk mit gewiegter Schlauheit,
mit gründlicher Kenntniß aller gemeinen Triebe der menſchlichen Natur,
ſie verſtand ſich meiſterhaft auf jene kleinen Künſte gemüthlich lächelnder
Verlogenheit, worin von Alters her die Stärke der habsburgiſchen Staats-
kunſt lag.

Unter den fremden Gäſten erregten die Engländer das größte Auf-
ſehen. Eine ſolche Toilette, wie ſie die coloſſale Lady Caſtlereagh trug,
ſo altmodiſch, grell und abgeſchmackt, war den glatten Continentalen lange
nicht vorgekommen. Die ſeit Jahren von dem Feſtlande abgeſperrten
Inſulaner erſchienen wie Geſtalten aus einer anderen Welt; überall
reizten ſie den Spott durch die wunderlichen Schrullen ihres Spleens, den
Widerwillen durch ihren protzenhaften Uebermuth. Die geſammte vornehme
Welt lachte ſchadenfroh, als die Wiener Fiakerkutſcher einmal das allge-
meine Urtheil über die britiſche Beſcheidenheit auf dem Rücken des Ge-
nerals Charles Stewart urkundlich beglaubigten. Erſt gegen das Ende
des Congreſſes traf Wellington ein, endlich ein würdiger Vertreter der
großen Seemacht, aber auch er verſtand von den deutſchen Dingen nicht
mehr als ſeine armſeligen Genoſſen Caſtlereagh und Cathcart, hielt ſich
wie dieſe an die Rathſchläge der Oeſterreicher und der Hannoveraner.

Wie anders wußte der Czar ſich zur Geltung zu bringen. Er
ſpielte noch gern den ſchönen jungen Mann, man ſah ihn zuweilen Arm
in Arm mit den durchlauchtigen jungen Cavalieren von der böhmiſchen
oder der ungariſchen Nobelgarde. Dabei bewahrte er doch die ſalbungs-
volle Weihe des Weltheilands und Weltbefreiers; noch nie hatte er ſo
beredt und ſanft über die Beglückung des Menſchengeſchlechts geſprochen.
In einer Inſtruction, die er von Wien aus an alle ſeine Geſandten
ſchickte, ſchlug er einen Ton an, der an die Sprache des Rheiniſchen
Mercurs erinnerte: der Sturz Napoleons, ſagte er geradezu, ſei bewirkt
durch den Sieg der öffentlichen Meinung über die Anſichten der meiſten
Cabinette; für die Zukunft müſſe jedes Volk in den Stand geſetzt werden
ſelber ſeine Unabhängigkeit zu vertheidigen; darum keine Zerſtückelung
der Länder mehr und Einführung des Repräſentativſyſtems in allen
Staaten! Und abermals war Alexander in der glücklichen Lage daß ſeine
weltbefreienden Gedanken mit ſeinem perſönlichen Intereſſe genau zuſam-

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[604/0620] II. 1. Der Wiener Congreß. geben und von jeder Berührung mit den Großmächten abſperren ſollten; Rußland im Zaume gehalten durch das geſammte Europa, das die Türken unter ſeinen Schutz nahm; die Revolution zerſchmettert durch den vereinten Widerſtand der Höfe, wo und wie ſie ſich auch zeigte: in ſolchen Formen etwa ſtellte ſich Metternich das neue von Oeſterreich geleitete Europa vor. Es war ein Syſtem der Seelenangſt, die Ausgeburt eines ideenloſen Kopfes, der von den treibenden Kräften der Geſchichte nicht das Mindeſte ahnte; aber dieſe Politik entſprach dem augenblicklichen Bedürfniß der öſterreichiſchen Monarchie, ſie entſprach der allgemeinen Schlummerſucht der ermatteten Welt und ſie ging ans Werk mit gewiegter Schlauheit, mit gründlicher Kenntniß aller gemeinen Triebe der menſchlichen Natur, ſie verſtand ſich meiſterhaft auf jene kleinen Künſte gemüthlich lächelnder Verlogenheit, worin von Alters her die Stärke der habsburgiſchen Staats- kunſt lag. Unter den fremden Gäſten erregten die Engländer das größte Auf- ſehen. Eine ſolche Toilette, wie ſie die coloſſale Lady Caſtlereagh trug, ſo altmodiſch, grell und abgeſchmackt, war den glatten Continentalen lange nicht vorgekommen. Die ſeit Jahren von dem Feſtlande abgeſperrten Inſulaner erſchienen wie Geſtalten aus einer anderen Welt; überall reizten ſie den Spott durch die wunderlichen Schrullen ihres Spleens, den Widerwillen durch ihren protzenhaften Uebermuth. Die geſammte vornehme Welt lachte ſchadenfroh, als die Wiener Fiakerkutſcher einmal das allge- meine Urtheil über die britiſche Beſcheidenheit auf dem Rücken des Ge- nerals Charles Stewart urkundlich beglaubigten. Erſt gegen das Ende des Congreſſes traf Wellington ein, endlich ein würdiger Vertreter der großen Seemacht, aber auch er verſtand von den deutſchen Dingen nicht mehr als ſeine armſeligen Genoſſen Caſtlereagh und Cathcart, hielt ſich wie dieſe an die Rathſchläge der Oeſterreicher und der Hannoveraner. Wie anders wußte der Czar ſich zur Geltung zu bringen. Er ſpielte noch gern den ſchönen jungen Mann, man ſah ihn zuweilen Arm in Arm mit den durchlauchtigen jungen Cavalieren von der böhmiſchen oder der ungariſchen Nobelgarde. Dabei bewahrte er doch die ſalbungs- volle Weihe des Weltheilands und Weltbefreiers; noch nie hatte er ſo beredt und ſanft über die Beglückung des Menſchengeſchlechts geſprochen. In einer Inſtruction, die er von Wien aus an alle ſeine Geſandten ſchickte, ſchlug er einen Ton an, der an die Sprache des Rheiniſchen Mercurs erinnerte: der Sturz Napoleons, ſagte er geradezu, ſei bewirkt durch den Sieg der öffentlichen Meinung über die Anſichten der meiſten Cabinette; für die Zukunft müſſe jedes Volk in den Stand geſetzt werden ſelber ſeine Unabhängigkeit zu vertheidigen; darum keine Zerſtückelung der Länder mehr und Einführung des Repräſentativſyſtems in allen Staaten! Und abermals war Alexander in der glücklichen Lage daß ſeine weltbefreienden Gedanken mit ſeinem perſönlichen Intereſſe genau zuſam-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/620>, abgerufen am 22.11.2024.