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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Lage in Sachsen.
land vorenthalten wollten; er würde fürchten die hohen Mächte zu be-
leidigen, wenn er solcher Verleumdung irgend Glauben schenkte. Darauf
wird das Verhalten des sächsischen Hofes gerechtfertigt, alle Schuld auf
die force preponderante geschoben -- so hieß der Große Alliirte jetzt --
und mit der ganzen stillvergnügten Naivität des deutschen Kleinfürsten-
thums die treffende Wahrheit ausgesprochen: "nur große Staaten können
ihren Ansichten treu bleiben." Friedrich August erklärte sodann allen
Höfen, daß er niemals in eine Abtretung willigen werde. Sein Gesandter
in Wien, Graf Schulenburg fand zwar keinen Zulaß zu den amtlichen
Verhandlungen des Congresses, und in den Berathungen des deutschen
Verfassungsausschusses wurde das Königreich Sachsen als nicht mehr vor-
handen angesehen. Doch Wrede trug dem Sachsen dienstbereit alles
Wissenswerthe zu. Zugleich verhandelte Prinz Anton insgeheim mit seinem
Schwager, dem Kaiser Franz; der Sachse Langenau war der nächste Ver-
traute von Gentz. Die Sache der Albertiner gewann täglich an Boden.

Auch im sächsischen Volke stand es anders als der Staatskanzler
wähnte. Mehrere einsichtige Männer vom Adel schlossen sich dem Gene-
ralgouvernement des Fürsten Repnin an, so Carlowitz, Miltitz, Oppell,
Vieth, auch einige höhere Beamte wie der Freund Schillers, der Vater
von Theodor Körner; mit ihrer Hilfe hat die russische Verwaltung sehr
segensreich gewirkt, binnen Kurzem eine Menge verrotteter Mißbräuche aus
dem kleinen Staate hinausgefegt. Im gebildeten Bürgerthum bestand eine
kleine preußische Partei, die Leipziger Kaufleute waren längst verstimmt
wider das Adelsregiment. Aus diesen befreundeten Kreisen entnahmen
Stein und Hardenberg ihre hoffnungsvolle Ansicht von der Stimmung
des Landes. In Wahrheit verharrte die Masse des Volkes in tiefer Ab-
spannung. Sie war erschöpft von den Drangsalen des Krieges, durch die
Alleinherrschaft des Adels von allem politischen Denken entwöhnt; man
betrachtete, wie alle Deutschen jener Zeit, das angestammte Fürstenhaus
als ein unentbehrliches Kleinod des engeren Vaterlandes, doch man blieb
vorerst still und gleichmüthig. An dem regen Federkriege, der den diplo-
matischen Kampf um Sachsens Zukunft begleitete, haben blos zwei nam-
hafte Sachsen theilgenommen: Karl Müller schrieb für die preußische
Ansicht, Kohlschütter als Vertreter des unterthänigen Beamtenthums. Nur
eine Partei entfaltete eine rührige Thätigkeit: die Oligarchen vom Hof-
adel. Sie beherrschten das Land seit Jahrhunderten, die starke Hand
des preußischen Königthums drohte sie in die Reihen der gemeinen Unter-
thanen hinabzudrücken. Der Hofadel und die hohen Beamten hielten, so
lange der Krieg währte, mit den zahlreichen französischen Gefangenen, die
sich in Dresden umhertrieben, vertraute Freundschaft; sie ließen die sächsi-
schen Truppen in den Rheinlanden durch ihre Sendboten bearbeiten,
standen mit den befreundeten Diplomaten zu Wien in lebhaftem Verkehr
und wußten, des Herrschens gewohnt, das zahme Völkchen daheim nach

Die Lage in Sachſen.
land vorenthalten wollten; er würde fürchten die hohen Mächte zu be-
leidigen, wenn er ſolcher Verleumdung irgend Glauben ſchenkte. Darauf
wird das Verhalten des ſächſiſchen Hofes gerechtfertigt, alle Schuld auf
die force prépondérante geſchoben — ſo hieß der Große Alliirte jetzt —
und mit der ganzen ſtillvergnügten Naivität des deutſchen Kleinfürſten-
thums die treffende Wahrheit ausgeſprochen: „nur große Staaten können
ihren Anſichten treu bleiben.“ Friedrich Auguſt erklärte ſodann allen
Höfen, daß er niemals in eine Abtretung willigen werde. Sein Geſandter
in Wien, Graf Schulenburg fand zwar keinen Zulaß zu den amtlichen
Verhandlungen des Congreſſes, und in den Berathungen des deutſchen
Verfaſſungsausſchuſſes wurde das Königreich Sachſen als nicht mehr vor-
handen angeſehen. Doch Wrede trug dem Sachſen dienſtbereit alles
Wiſſenswerthe zu. Zugleich verhandelte Prinz Anton insgeheim mit ſeinem
Schwager, dem Kaiſer Franz; der Sachſe Langenau war der nächſte Ver-
traute von Gentz. Die Sache der Albertiner gewann täglich an Boden.

Auch im ſächſiſchen Volke ſtand es anders als der Staatskanzler
wähnte. Mehrere einſichtige Männer vom Adel ſchloſſen ſich dem Gene-
ralgouvernement des Fürſten Repnin an, ſo Carlowitz, Miltitz, Oppell,
Vieth, auch einige höhere Beamte wie der Freund Schillers, der Vater
von Theodor Körner; mit ihrer Hilfe hat die ruſſiſche Verwaltung ſehr
ſegensreich gewirkt, binnen Kurzem eine Menge verrotteter Mißbräuche aus
dem kleinen Staate hinausgefegt. Im gebildeten Bürgerthum beſtand eine
kleine preußiſche Partei, die Leipziger Kaufleute waren längſt verſtimmt
wider das Adelsregiment. Aus dieſen befreundeten Kreiſen entnahmen
Stein und Hardenberg ihre hoffnungsvolle Anſicht von der Stimmung
des Landes. In Wahrheit verharrte die Maſſe des Volkes in tiefer Ab-
ſpannung. Sie war erſchöpft von den Drangſalen des Krieges, durch die
Alleinherrſchaft des Adels von allem politiſchen Denken entwöhnt; man
betrachtete, wie alle Deutſchen jener Zeit, das angeſtammte Fürſtenhaus
als ein unentbehrliches Kleinod des engeren Vaterlandes, doch man blieb
vorerſt ſtill und gleichmüthig. An dem regen Federkriege, der den diplo-
matiſchen Kampf um Sachſens Zukunft begleitete, haben blos zwei nam-
hafte Sachſen theilgenommen: Karl Müller ſchrieb für die preußiſche
Anſicht, Kohlſchütter als Vertreter des unterthänigen Beamtenthums. Nur
eine Partei entfaltete eine rührige Thätigkeit: die Oligarchen vom Hof-
adel. Sie beherrſchten das Land ſeit Jahrhunderten, die ſtarke Hand
des preußiſchen Königthums drohte ſie in die Reihen der gemeinen Unter-
thanen hinabzudrücken. Der Hofadel und die hohen Beamten hielten, ſo
lange der Krieg währte, mit den zahlreichen franzöſiſchen Gefangenen, die
ſich in Dresden umhertrieben, vertraute Freundſchaft; ſie ließen die ſächſi-
ſchen Truppen in den Rheinlanden durch ihre Sendboten bearbeiten,
ſtanden mit den befreundeten Diplomaten zu Wien in lebhaftem Verkehr
und wußten, des Herrſchens gewohnt, das zahme Völkchen daheim nach

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[621/0637] Die Lage in Sachſen. land vorenthalten wollten; er würde fürchten die hohen Mächte zu be- leidigen, wenn er ſolcher Verleumdung irgend Glauben ſchenkte. Darauf wird das Verhalten des ſächſiſchen Hofes gerechtfertigt, alle Schuld auf die force prépondérante geſchoben — ſo hieß der Große Alliirte jetzt — und mit der ganzen ſtillvergnügten Naivität des deutſchen Kleinfürſten- thums die treffende Wahrheit ausgeſprochen: „nur große Staaten können ihren Anſichten treu bleiben.“ Friedrich Auguſt erklärte ſodann allen Höfen, daß er niemals in eine Abtretung willigen werde. Sein Geſandter in Wien, Graf Schulenburg fand zwar keinen Zulaß zu den amtlichen Verhandlungen des Congreſſes, und in den Berathungen des deutſchen Verfaſſungsausſchuſſes wurde das Königreich Sachſen als nicht mehr vor- handen angeſehen. Doch Wrede trug dem Sachſen dienſtbereit alles Wiſſenswerthe zu. Zugleich verhandelte Prinz Anton insgeheim mit ſeinem Schwager, dem Kaiſer Franz; der Sachſe Langenau war der nächſte Ver- traute von Gentz. Die Sache der Albertiner gewann täglich an Boden. Auch im ſächſiſchen Volke ſtand es anders als der Staatskanzler wähnte. Mehrere einſichtige Männer vom Adel ſchloſſen ſich dem Gene- ralgouvernement des Fürſten Repnin an, ſo Carlowitz, Miltitz, Oppell, Vieth, auch einige höhere Beamte wie der Freund Schillers, der Vater von Theodor Körner; mit ihrer Hilfe hat die ruſſiſche Verwaltung ſehr ſegensreich gewirkt, binnen Kurzem eine Menge verrotteter Mißbräuche aus dem kleinen Staate hinausgefegt. Im gebildeten Bürgerthum beſtand eine kleine preußiſche Partei, die Leipziger Kaufleute waren längſt verſtimmt wider das Adelsregiment. Aus dieſen befreundeten Kreiſen entnahmen Stein und Hardenberg ihre hoffnungsvolle Anſicht von der Stimmung des Landes. In Wahrheit verharrte die Maſſe des Volkes in tiefer Ab- ſpannung. Sie war erſchöpft von den Drangſalen des Krieges, durch die Alleinherrſchaft des Adels von allem politiſchen Denken entwöhnt; man betrachtete, wie alle Deutſchen jener Zeit, das angeſtammte Fürſtenhaus als ein unentbehrliches Kleinod des engeren Vaterlandes, doch man blieb vorerſt ſtill und gleichmüthig. An dem regen Federkriege, der den diplo- matiſchen Kampf um Sachſens Zukunft begleitete, haben blos zwei nam- hafte Sachſen theilgenommen: Karl Müller ſchrieb für die preußiſche Anſicht, Kohlſchütter als Vertreter des unterthänigen Beamtenthums. Nur eine Partei entfaltete eine rührige Thätigkeit: die Oligarchen vom Hof- adel. Sie beherrſchten das Land ſeit Jahrhunderten, die ſtarke Hand des preußiſchen Königthums drohte ſie in die Reihen der gemeinen Unter- thanen hinabzudrücken. Der Hofadel und die hohen Beamten hielten, ſo lange der Krieg währte, mit den zahlreichen franzöſiſchen Gefangenen, die ſich in Dresden umhertrieben, vertraute Freundſchaft; ſie ließen die ſächſi- ſchen Truppen in den Rheinlanden durch ihre Sendboten bearbeiten, ſtanden mit den befreundeten Diplomaten zu Wien in lebhaftem Verkehr und wußten, des Herrſchens gewohnt, das zahme Völkchen daheim nach

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 621. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/637>, abgerufen am 22.11.2024.