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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
und nach dermaßen einzuschüchtern, daß sich bald die große Mehrheit des
Volks in dem Rufe vereinigte: "wir wollen unseren König wieder." Man
begann die trefflichen Männer an der Spitze der provisorischen Verwal-
tung als Ueberläufer zu verleumden. Noch vor wenigen Jahren lebte
im Armenhause zu Wahren ein alter Mann, der im Volksmunde der
Verräther hieß; er hatte während des blutigen Kampfes um Möckern
einem preußischen Bataillon einen versteckten Fußweg gewiesen.

Das Bild der jüngsten Ereignisse verschob sich allmählich in dem
Gedächtniß des Volks; die Sünden des Königs waren vergessen, der
Uebergang der Truppen während der Leipziger Schlacht erschien bald
schlechtweg als eine schimpfliche Fahnenflucht. Eine Theilung des Landes
wünschte man freilich noch weniger als die Einverleibung in den preußischen
Staat; man berief sich auf den Czaren, der den klagenden Deputationen
aus Sachsen wiederholt "die Integrität ihres Landes" zugesichert hatte.
Die politische Urtheilslosigkeit der Masse erkannte nicht, daß diese In-
tegrität nur möglich war, wenn der alte König nicht wiederkehrte. Die
günstigen Nachrichten aus Wien verstärkten jene maßlose Selbstüberschätzung,
die zum Wesen der Kleinstaaterei gehört; man erwartete gemüthlich, ganz
Europa werde die Waffen ergreifen um dem gefangenen Albertiner auch
das letzte seiner Dörfer zurückzugeben. Bei den Führern der particularisti-
schen Partei reichte allerdings die Einsicht weiter, doch sie wollten lieber
in einem verkleinerten Sachsen die alte Adelsherrlichkeit fortführen als dem
gemeinen Rechte des preußischen Staates sich unterwerfen. Der General-
gouverneur Fürst Repnin schrieb nach der Katastrophe an seinen Gehilfen,
den geistreichen Staatsrath Merian, scharf und treffend: "Ich klage die
hohen Beamten an, die ganz ebenso wie ich überzeugt waren, daß die
Rückkehr des Königs nicht ohne die Zerreißung ihres Vaterlandes statt-
finden konnte. Diese selbstsüchtigen Menschen haben lieber das Unglück
ihres Vaterlandes bewirken als ihre persönlichen Vortheile verlieren wollen.
Die Sachsen wollten ihren Fürsten wieder haben und gaben durch ihr
Betragen eine moralische Unterstützung den Absichten jener Mächte, welche
die Theilung Sachsens für vortheilhaft hielten."*)

So lagen die Dinge, als die vier Mächte ihre formlosen Verhand-
lungen über Polen begannen. Hardenberg wollte noch immer nicht sehen,
daß seine sächsischen Hoffnungen rettungslos zu Schanden werden mußten,
wenn er in den polnischen Händeln mit Oesterreich und England Hand
in Hand ging. Entweder wich der Czar vor dem vereinten Widerstande
der drei Höfe zurück: dann wurde die preußische Krone durch ihre ge-
treuen Verbündeten wieder mit jenem polnischen Besitze beladen, den sie
selber als eine verderbliche Last ansah, und verlor damit jeden Anspruch
auf eine Entschädigung in Sachsen. Oder beide Theile bequemten sich

*) Repnin an Merian, Wien 15/25. Febr. 1815.

II. 1. Der Wiener Congreß.
und nach dermaßen einzuſchüchtern, daß ſich bald die große Mehrheit des
Volks in dem Rufe vereinigte: „wir wollen unſeren König wieder.“ Man
begann die trefflichen Männer an der Spitze der proviſoriſchen Verwal-
tung als Ueberläufer zu verleumden. Noch vor wenigen Jahren lebte
im Armenhauſe zu Wahren ein alter Mann, der im Volksmunde der
Verräther hieß; er hatte während des blutigen Kampfes um Möckern
einem preußiſchen Bataillon einen verſteckten Fußweg gewieſen.

Das Bild der jüngſten Ereigniſſe verſchob ſich allmählich in dem
Gedächtniß des Volks; die Sünden des Königs waren vergeſſen, der
Uebergang der Truppen während der Leipziger Schlacht erſchien bald
ſchlechtweg als eine ſchimpfliche Fahnenflucht. Eine Theilung des Landes
wünſchte man freilich noch weniger als die Einverleibung in den preußiſchen
Staat; man berief ſich auf den Czaren, der den klagenden Deputationen
aus Sachſen wiederholt „die Integrität ihres Landes“ zugeſichert hatte.
Die politiſche Urtheilsloſigkeit der Maſſe erkannte nicht, daß dieſe In-
tegrität nur möglich war, wenn der alte König nicht wiederkehrte. Die
günſtigen Nachrichten aus Wien verſtärkten jene maßloſe Selbſtüberſchätzung,
die zum Weſen der Kleinſtaaterei gehört; man erwartete gemüthlich, ganz
Europa werde die Waffen ergreifen um dem gefangenen Albertiner auch
das letzte ſeiner Dörfer zurückzugeben. Bei den Führern der particulariſti-
ſchen Partei reichte allerdings die Einſicht weiter, doch ſie wollten lieber
in einem verkleinerten Sachſen die alte Adelsherrlichkeit fortführen als dem
gemeinen Rechte des preußiſchen Staates ſich unterwerfen. Der General-
gouverneur Fürſt Repnin ſchrieb nach der Kataſtrophe an ſeinen Gehilfen,
den geiſtreichen Staatsrath Merian, ſcharf und treffend: „Ich klage die
hohen Beamten an, die ganz ebenſo wie ich überzeugt waren, daß die
Rückkehr des Königs nicht ohne die Zerreißung ihres Vaterlandes ſtatt-
finden konnte. Dieſe ſelbſtſüchtigen Menſchen haben lieber das Unglück
ihres Vaterlandes bewirken als ihre perſönlichen Vortheile verlieren wollen.
Die Sachſen wollten ihren Fürſten wieder haben und gaben durch ihr
Betragen eine moraliſche Unterſtützung den Abſichten jener Mächte, welche
die Theilung Sachſens für vortheilhaft hielten.“*)

So lagen die Dinge, als die vier Mächte ihre formloſen Verhand-
lungen über Polen begannen. Hardenberg wollte noch immer nicht ſehen,
daß ſeine ſächſiſchen Hoffnungen rettungslos zu Schanden werden mußten,
wenn er in den polniſchen Händeln mit Oeſterreich und England Hand
in Hand ging. Entweder wich der Czar vor dem vereinten Widerſtande
der drei Höfe zurück: dann wurde die preußiſche Krone durch ihre ge-
treuen Verbündeten wieder mit jenem polniſchen Beſitze beladen, den ſie
ſelber als eine verderbliche Laſt anſah, und verlor damit jeden Anſpruch
auf eine Entſchädigung in Sachſen. Oder beide Theile bequemten ſich

*) Repnin an Merian, Wien 15/25. Febr. 1815.
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[622/0638] II. 1. Der Wiener Congreß. und nach dermaßen einzuſchüchtern, daß ſich bald die große Mehrheit des Volks in dem Rufe vereinigte: „wir wollen unſeren König wieder.“ Man begann die trefflichen Männer an der Spitze der proviſoriſchen Verwal- tung als Ueberläufer zu verleumden. Noch vor wenigen Jahren lebte im Armenhauſe zu Wahren ein alter Mann, der im Volksmunde der Verräther hieß; er hatte während des blutigen Kampfes um Möckern einem preußiſchen Bataillon einen verſteckten Fußweg gewieſen. Das Bild der jüngſten Ereigniſſe verſchob ſich allmählich in dem Gedächtniß des Volks; die Sünden des Königs waren vergeſſen, der Uebergang der Truppen während der Leipziger Schlacht erſchien bald ſchlechtweg als eine ſchimpfliche Fahnenflucht. Eine Theilung des Landes wünſchte man freilich noch weniger als die Einverleibung in den preußiſchen Staat; man berief ſich auf den Czaren, der den klagenden Deputationen aus Sachſen wiederholt „die Integrität ihres Landes“ zugeſichert hatte. Die politiſche Urtheilsloſigkeit der Maſſe erkannte nicht, daß dieſe In- tegrität nur möglich war, wenn der alte König nicht wiederkehrte. Die günſtigen Nachrichten aus Wien verſtärkten jene maßloſe Selbſtüberſchätzung, die zum Weſen der Kleinſtaaterei gehört; man erwartete gemüthlich, ganz Europa werde die Waffen ergreifen um dem gefangenen Albertiner auch das letzte ſeiner Dörfer zurückzugeben. Bei den Führern der particulariſti- ſchen Partei reichte allerdings die Einſicht weiter, doch ſie wollten lieber in einem verkleinerten Sachſen die alte Adelsherrlichkeit fortführen als dem gemeinen Rechte des preußiſchen Staates ſich unterwerfen. Der General- gouverneur Fürſt Repnin ſchrieb nach der Kataſtrophe an ſeinen Gehilfen, den geiſtreichen Staatsrath Merian, ſcharf und treffend: „Ich klage die hohen Beamten an, die ganz ebenſo wie ich überzeugt waren, daß die Rückkehr des Königs nicht ohne die Zerreißung ihres Vaterlandes ſtatt- finden konnte. Dieſe ſelbſtſüchtigen Menſchen haben lieber das Unglück ihres Vaterlandes bewirken als ihre perſönlichen Vortheile verlieren wollen. Die Sachſen wollten ihren Fürſten wieder haben und gaben durch ihr Betragen eine moraliſche Unterſtützung den Abſichten jener Mächte, welche die Theilung Sachſens für vortheilhaft hielten.“ *) So lagen die Dinge, als die vier Mächte ihre formloſen Verhand- lungen über Polen begannen. Hardenberg wollte noch immer nicht ſehen, daß ſeine ſächſiſchen Hoffnungen rettungslos zu Schanden werden mußten, wenn er in den polniſchen Händeln mit Oeſterreich und England Hand in Hand ging. Entweder wich der Czar vor dem vereinten Widerſtande der drei Höfe zurück: dann wurde die preußiſche Krone durch ihre ge- treuen Verbündeten wieder mit jenem polniſchen Beſitze beladen, den ſie ſelber als eine verderbliche Laſt anſah, und verlor damit jeden Anſpruch auf eine Entſchädigung in Sachſen. Oder beide Theile bequemten ſich *) Repnin an Merian, Wien 15/25. Febr. 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 622. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/638>, abgerufen am 22.11.2024.