Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.Die Verhandlungen über Polen. zu einem Vergleiche -- und dieser Ausgang war der wahrscheinlichere,da weder Oesterreich noch England in jenem Augenblicke einen Krieg wünschte: dann war mit Sicherheit vorauszusehen, daß Alexander, erbittert über Preußens Widerstand, die sächsischen Ansprüche des preußischen Hofes nicht mehr unterstützte; von allen Seiten preisgegeben, hätte unser Staat, wenn er nicht einen Kampf gegen ganz Europa wagen wollte, sich mit einem Landstrich an der Warthe und etwa mit einigen Stücken der Lausitz begnügen müssen. So einfach stand die Rechnung. Für Metternich ergab sich zunächst die Aufgabe, den Staatskanzler über den untrennbaren Zu- sammenhang der polnischen und der sächsischen Sache zu täuschen, die Lösung der sächsischen Frage hinauszuschieben und vorderhand mit Preußen und England vereint den Plänen Alexanders zu widersprechen; dann war das Bündniß zwischen Rußland und Preußen gesprengt und die De- müthigung der norddeutschen Großmacht sicher. Die Falle war erstaun- lich plump. Schon im September schrieb Gentz hoffnungsvoll an Ka- radja: wenn es nur gelinge, die Vergrößerung Rußlands im vormals preußischen Polen zu ermäßigen, so falle der einzige Grund für die Ein- verleibung Sachsens hinweg! In der That wurde die Aufmerksamkeit der preußischen Staats- Der Czar war in Petersburg über den einmüthigen Widerspruch seines Die Verhandlungen über Polen. zu einem Vergleiche — und dieſer Ausgang war der wahrſcheinlichere,da weder Oeſterreich noch England in jenem Augenblicke einen Krieg wünſchte: dann war mit Sicherheit vorauszuſehen, daß Alexander, erbittert über Preußens Widerſtand, die ſächſiſchen Anſprüche des preußiſchen Hofes nicht mehr unterſtützte; von allen Seiten preisgegeben, hätte unſer Staat, wenn er nicht einen Kampf gegen ganz Europa wagen wollte, ſich mit einem Landſtrich an der Warthe und etwa mit einigen Stücken der Lauſitz begnügen müſſen. So einfach ſtand die Rechnung. Für Metternich ergab ſich zunächſt die Aufgabe, den Staatskanzler über den untrennbaren Zu- ſammenhang der polniſchen und der ſächſiſchen Sache zu täuſchen, die Löſung der ſächſiſchen Frage hinauszuſchieben und vorderhand mit Preußen und England vereint den Plänen Alexanders zu widerſprechen; dann war das Bündniß zwiſchen Rußland und Preußen geſprengt und die De- müthigung der norddeutſchen Großmacht ſicher. Die Falle war erſtaun- lich plump. Schon im September ſchrieb Gentz hoffnungsvoll an Ka- radja: wenn es nur gelinge, die Vergrößerung Rußlands im vormals preußiſchen Polen zu ermäßigen, ſo falle der einzige Grund für die Ein- verleibung Sachſens hinweg! In der That wurde die Aufmerkſamkeit der preußiſchen Staats- Der Czar war in Petersburg über den einmüthigen Widerſpruch ſeines <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0639" n="623"/><fw place="top" type="header">Die Verhandlungen über Polen.</fw><lb/> zu einem Vergleiche — und dieſer Ausgang war der wahrſcheinlichere,<lb/> da weder Oeſterreich noch England in jenem Augenblicke einen Krieg<lb/> wünſchte: dann war mit Sicherheit vorauszuſehen, daß Alexander, erbittert<lb/> über Preußens Widerſtand, die ſächſiſchen Anſprüche des preußiſchen Hofes<lb/> nicht mehr unterſtützte; von allen Seiten preisgegeben, hätte unſer Staat,<lb/> wenn er nicht einen Kampf gegen ganz Europa wagen wollte, ſich mit<lb/> einem Landſtrich an der Warthe und etwa mit einigen Stücken der Lauſitz<lb/> begnügen müſſen. So einfach ſtand die Rechnung. 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Die Verhandlungen über Polen.
zu einem Vergleiche — und dieſer Ausgang war der wahrſcheinlichere,
da weder Oeſterreich noch England in jenem Augenblicke einen Krieg
wünſchte: dann war mit Sicherheit vorauszuſehen, daß Alexander, erbittert
über Preußens Widerſtand, die ſächſiſchen Anſprüche des preußiſchen Hofes
nicht mehr unterſtützte; von allen Seiten preisgegeben, hätte unſer Staat,
wenn er nicht einen Kampf gegen ganz Europa wagen wollte, ſich mit
einem Landſtrich an der Warthe und etwa mit einigen Stücken der Lauſitz
begnügen müſſen. So einfach ſtand die Rechnung. Für Metternich ergab
ſich zunächſt die Aufgabe, den Staatskanzler über den untrennbaren Zu-
ſammenhang der polniſchen und der ſächſiſchen Sache zu täuſchen, die
Löſung der ſächſiſchen Frage hinauszuſchieben und vorderhand mit Preußen
und England vereint den Plänen Alexanders zu widerſprechen; dann war
das Bündniß zwiſchen Rußland und Preußen geſprengt und die De-
müthigung der norddeutſchen Großmacht ſicher. Die Falle war erſtaun-
lich plump. Schon im September ſchrieb Gentz hoffnungsvoll an Ka-
radja: wenn es nur gelinge, die Vergrößerung Rußlands im vormals
preußiſchen Polen zu ermäßigen, ſo falle der einzige Grund für die Ein-
verleibung Sachſens hinweg!
In der That wurde die Aufmerkſamkeit der preußiſchen Staats-
männer faſt gänzlich durch die polniſchen Angelegenheiten in Anſpruch
genommen. Die Generale verlangten einmüthig eine militäriſch haltbare
Oſtgrenze. Humboldt forderte, daß Preußen für das bedrohte Gleichgewicht
Europas eintrete. Stein ſagte dem Czaren mit genialer Sicherheit voraus,
daß die Errichtung eines polniſchen Königreichs unter ruſſiſchem Scepter
entweder zur Losreißung von Rußland oder zur gänzlichen Unterwerfung
der Polen führen werde. In Hardenbergs Umgebung ließen ſich auch be-
redte Freunde der Polen vernehmen: ſo der liebenswürdige Fürſt Anton
Radziwill und der Geheimrath Zerboni, ein geiſtreicher Liberaler und
ſchwärmeriſcher Bewunderer der ſarmatiſchen Freiheit. Dem Staatskanzler
ſelber ſchien das Vorrücken Rußlands gegen Weſten weniger gefährlich als
die Wiederherſtellung des Königreichs Polen und die drohende polniſche
Propaganda. Alle dieſe Beſtrebungen, grundverſchieden unter ſich, trafen
doch zuſammen in dem Gedanken, daß man Alexanders Pläne bekämpfen
müſſe; die Frage, wie dann Preußens eigene Anſprüche zu ſichern ſeien,
ward noch kaum ernſtlich aufgeworfen.
Der Czar war in Petersburg über den einmüthigen Widerſpruch ſeines
geſammten Hofes doch etwas erſchrocken und begann zu zweifeln, ob er die
Vereinigung Litthauens mit Polen ſeinen Ruſſen zumuthen dürfe; indeß
an der Wiederaufrichtung des polniſchen Königthums hielt er hartnäckig
feſt. In Wien trat er ſogleich offen heraus mit dem Vorſchlage, daß
ganz Warſchau bis zur Prosna, mit Einſchluß von Thorn und Krakau,
als ein ſelbſtändiges Königreich dem Czarenhauſe überlaſſen werden ſollte.
Zugleich unterſtützte er auf das Wärmſte die Anſprüche Preußens auf
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