Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.Castlereagh als Vermittler. England die Vermittlung; und schwerlich ist jemals in der gesammtenGeschichte der neueren Diplomatie ein Unterhändler so thöricht und un- geschlacht aufgetreten wie der edle Lord, dem seine Parteigenossen nach- rühmten: "für alles Gute müssen wir Gott und Castlereagh danken." Er sollte vermitteln und gebärdete sich als ein Parteimann, stellte sogleich Forderungen, welche weit über Oesterreichs und Preußens Wünsche hinaus- gingen. Die einfachsten Rücksichten des Anstandes geboten ihm eine ge- mäßigte Sprache, da England nach den Verträgen gar nicht berechtigt war sich in die polnischen Händel zu mischen; und gleichwohl schlug er sofort einen zankenden Ton an, den kein gekröntes Haupt und am Aller- wenigsten das überspannte Selbstgefühl Alexanders sich bieten lassen konnte. Schon in seiner ersten Denkschrift vom 4. October warf er dem Czaren die Beschuldigung ins Gesicht, Rußlands Verfahren verstoße wider Wort- laut und Geist der Verträge -- eine offenbar unwahre Behauptung, da Alexander sich weislich gehütet hatte irgend eine bindende Verpflichtung einzugehen. Er erdreistete sich sogar die Absichten seiner Auftraggeber zu verfälschen und erklärte, Oesterreich und Preußen würden die Herstellung eines völlig unabhängigen Polenreichs mit Freuden begrüßen -- was der Meinung des Wiener wie des Berliner Hofes gradeswegs zuwiderlief. Die einzige Entschuldigung für ein so unerhörtes Verfahren lag in *) Goltz's Bericht, Paris 21. Oct. 1814. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 40
Caſtlereagh als Vermittler. England die Vermittlung; und ſchwerlich iſt jemals in der geſammtenGeſchichte der neueren Diplomatie ein Unterhändler ſo thöricht und un- geſchlacht aufgetreten wie der edle Lord, dem ſeine Parteigenoſſen nach- rühmten: „für alles Gute müſſen wir Gott und Caſtlereagh danken.“ Er ſollte vermitteln und gebärdete ſich als ein Parteimann, ſtellte ſogleich Forderungen, welche weit über Oeſterreichs und Preußens Wünſche hinaus- gingen. Die einfachſten Rückſichten des Anſtandes geboten ihm eine ge- mäßigte Sprache, da England nach den Verträgen gar nicht berechtigt war ſich in die polniſchen Händel zu miſchen; und gleichwohl ſchlug er ſofort einen zankenden Ton an, den kein gekröntes Haupt und am Aller- wenigſten das überſpannte Selbſtgefühl Alexanders ſich bieten laſſen konnte. Schon in ſeiner erſten Denkſchrift vom 4. October warf er dem Czaren die Beſchuldigung ins Geſicht, Rußlands Verfahren verſtoße wider Wort- laut und Geiſt der Verträge — eine offenbar unwahre Behauptung, da Alexander ſich weislich gehütet hatte irgend eine bindende Verpflichtung einzugehen. Er erdreiſtete ſich ſogar die Abſichten ſeiner Auftraggeber zu verfälſchen und erklärte, Oeſterreich und Preußen würden die Herſtellung eines völlig unabhängigen Polenreichs mit Freuden begrüßen — was der Meinung des Wiener wie des Berliner Hofes gradeswegs zuwiderlief. Die einzige Entſchuldigung für ein ſo unerhörtes Verfahren lag in *) Goltz’s Bericht, Paris 21. Oct. 1814. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 40
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Caſtlereagh als Vermittler.
England die Vermittlung; und ſchwerlich iſt jemals in der geſammten
Geſchichte der neueren Diplomatie ein Unterhändler ſo thöricht und un-
geſchlacht aufgetreten wie der edle Lord, dem ſeine Parteigenoſſen nach-
rühmten: „für alles Gute müſſen wir Gott und Caſtlereagh danken.“
Er ſollte vermitteln und gebärdete ſich als ein Parteimann, ſtellte ſogleich
Forderungen, welche weit über Oeſterreichs und Preußens Wünſche hinaus-
gingen. Die einfachſten Rückſichten des Anſtandes geboten ihm eine ge-
mäßigte Sprache, da England nach den Verträgen gar nicht berechtigt
war ſich in die polniſchen Händel zu miſchen; und gleichwohl ſchlug er
ſofort einen zankenden Ton an, den kein gekröntes Haupt und am Aller-
wenigſten das überſpannte Selbſtgefühl Alexanders ſich bieten laſſen konnte.
Schon in ſeiner erſten Denkſchrift vom 4. October warf er dem Czaren
die Beſchuldigung ins Geſicht, Rußlands Verfahren verſtoße wider Wort-
laut und Geiſt der Verträge — eine offenbar unwahre Behauptung, da
Alexander ſich weislich gehütet hatte irgend eine bindende Verpflichtung
einzugehen. Er erdreiſtete ſich ſogar die Abſichten ſeiner Auftraggeber zu
verfälſchen und erklärte, Oeſterreich und Preußen würden die Herſtellung
eines völlig unabhängigen Polenreichs mit Freuden begrüßen — was der
Meinung des Wiener wie des Berliner Hofes gradeswegs zuwiderlief.
Die einzige Entſchuldigung für ein ſo unerhörtes Verfahren lag in
der tiefen Unwiſſenheit des Lords; offenbar ahnte er gar nicht, was unter
der Unabhängigkeit Polens zu verſtehen ſei. Mit naiver Selbſtgefällig-
keit ſchrieb er an Wellington nach Paris, die kräftige Sprache ſeines
Memoires könne und werde ihres Eindrucks auf den Czaren nicht ver-
fehlen *). Noch anſchaulicher zeigte ſich die Unfähigkeit dieſes wunder-
lichen Vermittlers in ſeiner zweiten Denkſchrift vom 14. October. Hier
verlangt er, Oeſterreich ſolle, wo möglich mit Preußen vereinigt, dem
Czaren folgende Vorſchläge unterbreiten: entweder Herſtellung des freien
Polenreichs unter einem unabhängigen Fürſten, wie es vor 1772 be-
ſtanden; oder, falls dies unerreichbar, Wiederherſtellung des Zuſtandes
von 1791; oder endlich, im ſchlimmſten Falle, eine Theilung des Groß-
herzogthums Warſchau dergeſtalt, daß Preußen alles Land bis zur Weichſel,
Rußland nur den ſchmalen Landſtrich weiter öſtlich erhielte. Während
Hardenberg niemals mehr als die Warthelinie für Preußen gefordert
hatte, wollte der Brite, der in Preußens Namen zu ſprechen behauptete,
unſerem Staate faſt ſeinen geſammten alten polniſchen Beſitz wieder auf-
laden, ja er verſicherte, Preußen ſei bereit für die Wiederherſtellung des
Polens von 1771 „alle nöthigen Opfer zu bringen“, alſo die Marienburg
und die Weichſellande des Deutſchen Ordens wieder den Sarmaten aus-
zuliefern! Noch mehr. Der Lord forderte, ſämmtliche in der polniſchen
Sache gewechſelten Schriftſtücke ſollten dem Congreſſe vorgelegt, alle
*) Goltz’s Bericht, Paris 21. Oct. 1814.
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