Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 1. Der Wiener Congreß.
europäischen Staaten aufgefordert werden den Plänen Rußlands ent-
gegenzutreten. In seinem blinden Eifer nahm er also harmlos Talley-
rands Vorschläge wieder auf und wollte, den Verträgen entgegen, alle
Kleinstaaten in die polnischen Händel hineinziehen; das hieß Frankreich
zum Schiedsrichter Europas erheben! In einer dritten Denkschrift vom
4. November gestattete er sich vollends eine Sprache, wie sie sonst nur dicht
vor Ausbruch eines Krieges gehört wird. Er erklärte, die Ansichten des
Czaren "würfen alle zwischen den Staaten hergebrachten Grundsätze von
Treu und Glauben zu Boden", und betheuerte nochmals: ein russischer
Kaiser, der bis zur Prosna herrsche, werde nach Belieben seine Heere
an die Donau und die Oder werfen, Oesterreich und Preußen völlig in
Schach halten.

Es war, als ob der Lord den Czaren zum äußersten Widerstande auf-
reizen wollte. In der That fühlte sich Alexander tief beleidigt und gab in
zwei Denkschriften (vom 30. October und 21. November) eine schroff ab-
lehnende Antwort. In hochtrabenden Worten entwickelte er die Anschau-
ungen, welche seitdem in der halbamtlichen russischen Geschichtschreibung
herrschend geblieben sind: Rußland konnte im Frühjahr 1813 leicht einen
glorreichen Frieden schließen und hat nur um Europas willen den Kampf
weiter geführt; die geforderte Vergrößerung ist für die Nachbarn nicht be-
drohlich, aber nothwendig um die Russen wie die Polen zu beruhigen.
Dazu eine wohlverdiente Abfertigung für den Lord: ein Vermittler ist nur
dann nützlich, wenn er die Geister einander näher führt! -- Ging man
auf solchem Wege weiter, so trieb die nach Frieden schmachtende Welt
einem neuen Kriege entgegen.

Währenddem ward dem preußischen Staatskanzler doch unheimlich in-
mitten seiner sonderbaren Bundesgenossen. Er sah den britischen Vermittler
Forderungen aufstellen, die mit Preußens eigner Ansicht nichts mehr ge-
mein hatten, und war noch immer nicht sicher, ob seine treuen Freunde ihn
bei seinen sächsischen Plänen unterstützen würden. Hardenberg beschloß also
sich Gewißheit zu verschaffen und sendete am 9. October einen warmen
und treuherzigen Brief an Metternich: Preußen will dem weisen Systeme
d'une Europe intermediaire (d. h. dem engeren Bunde der drei "deutschen"
Großmächte) treu bleiben, muß aber in seiner unsicheren Lage zunächst an
seine eigenen Interessen denken und fordert daher offene Antwort auf
folgende drei Fragen: stimmt Oesterreich der Einverleibung von ganz
Sachsen zu? genehmigt die kaiserliche Regierung die Versetzung Friedrich
Augusts nach den Legationen? verzichtet sie auf den Gedanken Mainz an
Baiern auszuliefern? (Ueber diese Absicht Oesterreichs, welche Humboldt
noch vor zwei Monaten nicht gekannt, war also Hardenberg endlich ins Klare
gekommen.) Wenn die kaiserliche Regierung diese drei Fragen bejaht und
zugleich verspricht, unsere Absichten auf Mainz und Sachsen fest zu un-
terstützen, dann "werde ich mit Ihnen hinsichtlich der polnischen Frage in

II. 1. Der Wiener Congreß.
europäiſchen Staaten aufgefordert werden den Plänen Rußlands ent-
gegenzutreten. In ſeinem blinden Eifer nahm er alſo harmlos Talley-
rands Vorſchläge wieder auf und wollte, den Verträgen entgegen, alle
Kleinſtaaten in die polniſchen Händel hineinziehen; das hieß Frankreich
zum Schiedsrichter Europas erheben! In einer dritten Denkſchrift vom
4. November geſtattete er ſich vollends eine Sprache, wie ſie ſonſt nur dicht
vor Ausbruch eines Krieges gehört wird. Er erklärte, die Anſichten des
Czaren „würfen alle zwiſchen den Staaten hergebrachten Grundſätze von
Treu und Glauben zu Boden“, und betheuerte nochmals: ein ruſſiſcher
Kaiſer, der bis zur Prosna herrſche, werde nach Belieben ſeine Heere
an die Donau und die Oder werfen, Oeſterreich und Preußen völlig in
Schach halten.

Es war, als ob der Lord den Czaren zum äußerſten Widerſtande auf-
reizen wollte. In der That fühlte ſich Alexander tief beleidigt und gab in
zwei Denkſchriften (vom 30. October und 21. November) eine ſchroff ab-
lehnende Antwort. In hochtrabenden Worten entwickelte er die Anſchau-
ungen, welche ſeitdem in der halbamtlichen ruſſiſchen Geſchichtſchreibung
herrſchend geblieben ſind: Rußland konnte im Frühjahr 1813 leicht einen
glorreichen Frieden ſchließen und hat nur um Europas willen den Kampf
weiter geführt; die geforderte Vergrößerung iſt für die Nachbarn nicht be-
drohlich, aber nothwendig um die Ruſſen wie die Polen zu beruhigen.
Dazu eine wohlverdiente Abfertigung für den Lord: ein Vermittler iſt nur
dann nützlich, wenn er die Geiſter einander näher führt! — Ging man
auf ſolchem Wege weiter, ſo trieb die nach Frieden ſchmachtende Welt
einem neuen Kriege entgegen.

Währenddem ward dem preußiſchen Staatskanzler doch unheimlich in-
mitten ſeiner ſonderbaren Bundesgenoſſen. Er ſah den britiſchen Vermittler
Forderungen aufſtellen, die mit Preußens eigner Anſicht nichts mehr ge-
mein hatten, und war noch immer nicht ſicher, ob ſeine treuen Freunde ihn
bei ſeinen ſächſiſchen Plänen unterſtützen würden. Hardenberg beſchloß alſo
ſich Gewißheit zu verſchaffen und ſendete am 9. October einen warmen
und treuherzigen Brief an Metternich: Preußen will dem weiſen Syſteme
d’une Europe intermédiaire (d. h. dem engeren Bunde der drei „deutſchen“
Großmächte) treu bleiben, muß aber in ſeiner unſicheren Lage zunächſt an
ſeine eigenen Intereſſen denken und fordert daher offene Antwort auf
folgende drei Fragen: ſtimmt Oeſterreich der Einverleibung von ganz
Sachſen zu? genehmigt die kaiſerliche Regierung die Verſetzung Friedrich
Auguſts nach den Legationen? verzichtet ſie auf den Gedanken Mainz an
Baiern auszuliefern? (Ueber dieſe Abſicht Oeſterreichs, welche Humboldt
noch vor zwei Monaten nicht gekannt, war alſo Hardenberg endlich ins Klare
gekommen.) Wenn die kaiſerliche Regierung dieſe drei Fragen bejaht und
zugleich verſpricht, unſere Abſichten auf Mainz und Sachſen feſt zu un-
terſtützen, dann „werde ich mit Ihnen hinſichtlich der polniſchen Frage in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0642" n="626"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 1. Der Wiener Congreß.</fw><lb/>
europäi&#x017F;chen Staaten aufgefordert werden den Plänen Rußlands ent-<lb/>
gegenzutreten. In &#x017F;einem blinden Eifer nahm er al&#x017F;o harmlos Talley-<lb/>
rands Vor&#x017F;chläge wieder auf und wollte, den Verträgen entgegen, alle<lb/>
Klein&#x017F;taaten in die polni&#x017F;chen Händel hineinziehen; das hieß Frankreich<lb/>
zum Schiedsrichter Europas erheben! In einer dritten Denk&#x017F;chrift vom<lb/>
4. November ge&#x017F;tattete er &#x017F;ich vollends eine Sprache, wie &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t nur dicht<lb/>
vor Ausbruch eines Krieges gehört wird. Er erklärte, die An&#x017F;ichten des<lb/>
Czaren &#x201E;würfen alle zwi&#x017F;chen den Staaten hergebrachten Grund&#x017F;ätze von<lb/>
Treu und Glauben zu Boden&#x201C;, und betheuerte nochmals: ein ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;cher<lb/>
Kai&#x017F;er, der bis zur Prosna herr&#x017F;che, werde nach Belieben &#x017F;eine Heere<lb/>
an die Donau und die Oder werfen, Oe&#x017F;terreich und Preußen völlig in<lb/>
Schach halten.</p><lb/>
            <p>Es war, als ob der Lord den Czaren zum äußer&#x017F;ten Wider&#x017F;tande auf-<lb/>
reizen wollte. In der That fühlte &#x017F;ich Alexander tief beleidigt und gab in<lb/>
zwei Denk&#x017F;chriften (vom 30. October und 21. November) eine &#x017F;chroff ab-<lb/>
lehnende Antwort. In hochtrabenden Worten entwickelte er die An&#x017F;chau-<lb/>
ungen, welche &#x017F;eitdem in der halbamtlichen ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreibung<lb/>
herr&#x017F;chend geblieben &#x017F;ind: Rußland konnte im Frühjahr 1813 leicht einen<lb/>
glorreichen Frieden &#x017F;chließen und hat nur um Europas willen den Kampf<lb/>
weiter geführt; die geforderte Vergrößerung i&#x017F;t für die Nachbarn nicht be-<lb/>
drohlich, aber nothwendig um die Ru&#x017F;&#x017F;en wie die Polen zu beruhigen.<lb/>
Dazu eine wohlverdiente Abfertigung für den Lord: ein Vermittler i&#x017F;t nur<lb/>
dann nützlich, wenn er die Gei&#x017F;ter einander näher führt! &#x2014; Ging man<lb/>
auf &#x017F;olchem Wege weiter, &#x017F;o trieb die nach Frieden &#x017F;chmachtende Welt<lb/>
einem neuen Kriege entgegen.</p><lb/>
            <p>Währenddem ward dem preußi&#x017F;chen Staatskanzler doch unheimlich in-<lb/>
mitten &#x017F;einer &#x017F;onderbaren Bundesgeno&#x017F;&#x017F;en. Er &#x017F;ah den briti&#x017F;chen Vermittler<lb/>
Forderungen auf&#x017F;tellen, die mit Preußens eigner An&#x017F;icht nichts mehr ge-<lb/>
mein hatten, und war noch immer nicht &#x017F;icher, ob &#x017F;eine treuen Freunde ihn<lb/>
bei &#x017F;einen &#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;chen Plänen unter&#x017F;tützen würden. Hardenberg be&#x017F;chloß al&#x017F;o<lb/>
&#x017F;ich Gewißheit zu ver&#x017F;chaffen und &#x017F;endete am 9. October einen warmen<lb/>
und treuherzigen Brief an Metternich: Preußen will dem wei&#x017F;en Sy&#x017F;teme<lb/><hi rendition="#aq">d&#x2019;une Europe intermédiaire</hi> (d. h. dem engeren Bunde der drei &#x201E;deut&#x017F;chen&#x201C;<lb/>
Großmächte) treu bleiben, muß aber in &#x017F;einer un&#x017F;icheren Lage zunäch&#x017F;t an<lb/>
&#x017F;eine eigenen Intere&#x017F;&#x017F;en denken und fordert daher offene Antwort auf<lb/>
folgende drei Fragen: &#x017F;timmt Oe&#x017F;terreich der Einverleibung von ganz<lb/>
Sach&#x017F;en zu? genehmigt die kai&#x017F;erliche Regierung die Ver&#x017F;etzung Friedrich<lb/>
Augu&#x017F;ts nach den Legationen? verzichtet &#x017F;ie auf den Gedanken Mainz an<lb/>
Baiern auszuliefern? (Ueber die&#x017F;e Ab&#x017F;icht Oe&#x017F;terreichs, welche Humboldt<lb/>
noch vor zwei Monaten nicht gekannt, war al&#x017F;o Hardenberg endlich ins Klare<lb/>
gekommen.) Wenn die kai&#x017F;erliche Regierung die&#x017F;e drei Fragen bejaht und<lb/>
zugleich ver&#x017F;pricht, un&#x017F;ere Ab&#x017F;ichten auf Mainz und Sach&#x017F;en fe&#x017F;t zu un-<lb/>
ter&#x017F;tützen, dann &#x201E;werde ich mit Ihnen hin&#x017F;ichtlich der polni&#x017F;chen Frage in<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[626/0642] II. 1. Der Wiener Congreß. europäiſchen Staaten aufgefordert werden den Plänen Rußlands ent- gegenzutreten. In ſeinem blinden Eifer nahm er alſo harmlos Talley- rands Vorſchläge wieder auf und wollte, den Verträgen entgegen, alle Kleinſtaaten in die polniſchen Händel hineinziehen; das hieß Frankreich zum Schiedsrichter Europas erheben! In einer dritten Denkſchrift vom 4. November geſtattete er ſich vollends eine Sprache, wie ſie ſonſt nur dicht vor Ausbruch eines Krieges gehört wird. Er erklärte, die Anſichten des Czaren „würfen alle zwiſchen den Staaten hergebrachten Grundſätze von Treu und Glauben zu Boden“, und betheuerte nochmals: ein ruſſiſcher Kaiſer, der bis zur Prosna herrſche, werde nach Belieben ſeine Heere an die Donau und die Oder werfen, Oeſterreich und Preußen völlig in Schach halten. Es war, als ob der Lord den Czaren zum äußerſten Widerſtande auf- reizen wollte. In der That fühlte ſich Alexander tief beleidigt und gab in zwei Denkſchriften (vom 30. October und 21. November) eine ſchroff ab- lehnende Antwort. In hochtrabenden Worten entwickelte er die Anſchau- ungen, welche ſeitdem in der halbamtlichen ruſſiſchen Geſchichtſchreibung herrſchend geblieben ſind: Rußland konnte im Frühjahr 1813 leicht einen glorreichen Frieden ſchließen und hat nur um Europas willen den Kampf weiter geführt; die geforderte Vergrößerung iſt für die Nachbarn nicht be- drohlich, aber nothwendig um die Ruſſen wie die Polen zu beruhigen. Dazu eine wohlverdiente Abfertigung für den Lord: ein Vermittler iſt nur dann nützlich, wenn er die Geiſter einander näher führt! — Ging man auf ſolchem Wege weiter, ſo trieb die nach Frieden ſchmachtende Welt einem neuen Kriege entgegen. Währenddem ward dem preußiſchen Staatskanzler doch unheimlich in- mitten ſeiner ſonderbaren Bundesgenoſſen. Er ſah den britiſchen Vermittler Forderungen aufſtellen, die mit Preußens eigner Anſicht nichts mehr ge- mein hatten, und war noch immer nicht ſicher, ob ſeine treuen Freunde ihn bei ſeinen ſächſiſchen Plänen unterſtützen würden. Hardenberg beſchloß alſo ſich Gewißheit zu verſchaffen und ſendete am 9. October einen warmen und treuherzigen Brief an Metternich: Preußen will dem weiſen Syſteme d’une Europe intermédiaire (d. h. dem engeren Bunde der drei „deutſchen“ Großmächte) treu bleiben, muß aber in ſeiner unſicheren Lage zunächſt an ſeine eigenen Intereſſen denken und fordert daher offene Antwort auf folgende drei Fragen: ſtimmt Oeſterreich der Einverleibung von ganz Sachſen zu? genehmigt die kaiſerliche Regierung die Verſetzung Friedrich Auguſts nach den Legationen? verzichtet ſie auf den Gedanken Mainz an Baiern auszuliefern? (Ueber dieſe Abſicht Oeſterreichs, welche Humboldt noch vor zwei Monaten nicht gekannt, war alſo Hardenberg endlich ins Klare gekommen.) Wenn die kaiſerliche Regierung dieſe drei Fragen bejaht und zugleich verſpricht, unſere Abſichten auf Mainz und Sachſen feſt zu un- terſtützen, dann „werde ich mit Ihnen hinſichtlich der polniſchen Frage in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/642
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 626. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/642>, abgerufen am 22.11.2024.