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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Humboldts Denkschriften vom 23. und 25. October.
theidigung Deutschlands gegen Frankreich, so haben wir nur zu verlangen,
daß Baiern gar keinen Einfluß auf Mainz gewinne, "wenn dieser Staat
nicht offen und ehrlich dem Deutschen Bunde beitritt und auf das Recht
selbständiger Kriegführung nicht verzichtet." Dies unveräußerliche Recht
der europäischen Macht Baiern hatte Wrede während der letzten Tage in
dem deutschen Verfassungsausschusse prahlend verfochten. Humboldt aber
fährt mit unverwüstlicher Mäßigung fort: sollte Baiern bessere Gesin-
nungen gegen den Deutschen Bund zeigen, dann müssen wir suchen "diesen
Hof zu gewinnen, statt ihn zu beargwöhnen". Die Frage der Moselgrenze
endlich ist eine rein statistische Frage; sie läßt sich leicht beseitigen, wenn
Oesterreich uns den Erfolg unserer Gebietsverhandlungen mit den kleinen
deutschen Staaten verbürgt.

Humboldt sah also in der Hofburg noch immer den treuen, leider
etwas schwachen Freund, der durch Vernunftgründe in seinen löblichen
Entschlüssen bestärkt werden mußte; er hoffte selbst die Baiern zu be-
kehren, die bereits unverhohlen den Krieg gegen Preußen predigten; er
wollte endlich, um nur Oesterreich bei guter Stimmung zu halten, Mainz
aufgeben und auf das rechte Moselufer verzichten. Die Stadt Koblenz
selber war allerdings in diesem Zugeständniß nicht inbegriffen.

Nach zwei Tagen war die Stimmung des preußischen Cabinets schon
weniger gemüthlich. Man hatte offenbar die englischen und österreichischen
Schriftstücke unterdessen schärfer geprüft und wohl auch Einiges erfahren
von dem vertrauten Verkehre zwischen Gentz und Talleyrand. Vielleicht
mag der König selbst seinen Diplomaten bemerkt haben, die Zustimmung
der Hofburg zu der Einverleibung Sachsens sei doch sehr unbestimmt ge-
halten, und Lord Castlereaghs polnische Pläne gingen weit über Preußens
eigene Wünsche hinaus. Genug, eine zweite Denkschrift Humboldts an
Hardenberg*) verräth bereits lebhafte Besorgnisse; sie giebt ein sehr an-
schauliches Bild von dem reichen Geiste ihres Verfassers, bringt in breiter
Ausführung eine Ueberfülle feiner Gedanken, die einander gegenseitig das
Licht vertreten, und gelangt schließlich doch nicht zu einem runden, klaren,
unzweifelhaften Ergebniß. Humboldt prüft zuerst Castlereaghs Vorschläge
und stellt nunmehr endlich den so nahe liegenden Gedanken auf, daß
man die Grenzfrage und die Verfassungsfrage aus einander halten müsse.
Den polnischen Verfassungsplänen des Czaren entgegenzutreten sei nicht
räthlich; denn "Kaiser Alexander befindet sich gewiß in großer Verlegen-
heit, wenn er ausführen will was er den Polen versprochen zu haben
scheint, und die Mächte vermehren diese Verlegenheit, wenn sie seinen
Absichten nicht allzu entschieden widersprechen. Unter diesem Gesichts-
punkte betrachtet ist die geplante polnische Verfassung vielleicht sogar ein
Gegengift gegen die Nachtheile, welche aus der übermäßigen Vergrößerung

*) Humboldts Denkschrift sur le memoire de Lord Castlereagh, 25. Oct. 1814.

Humboldts Denkſchriften vom 23. und 25. October.
theidigung Deutſchlands gegen Frankreich, ſo haben wir nur zu verlangen,
daß Baiern gar keinen Einfluß auf Mainz gewinne, „wenn dieſer Staat
nicht offen und ehrlich dem Deutſchen Bunde beitritt und auf das Recht
ſelbſtändiger Kriegführung nicht verzichtet.“ Dies unveräußerliche Recht
der europäiſchen Macht Baiern hatte Wrede während der letzten Tage in
dem deutſchen Verfaſſungsausſchuſſe prahlend verfochten. Humboldt aber
fährt mit unverwüſtlicher Mäßigung fort: ſollte Baiern beſſere Geſin-
nungen gegen den Deutſchen Bund zeigen, dann müſſen wir ſuchen „dieſen
Hof zu gewinnen, ſtatt ihn zu beargwöhnen“. Die Frage der Moſelgrenze
endlich iſt eine rein ſtatiſtiſche Frage; ſie läßt ſich leicht beſeitigen, wenn
Oeſterreich uns den Erfolg unſerer Gebietsverhandlungen mit den kleinen
deutſchen Staaten verbürgt.

Humboldt ſah alſo in der Hofburg noch immer den treuen, leider
etwas ſchwachen Freund, der durch Vernunftgründe in ſeinen löblichen
Entſchlüſſen beſtärkt werden mußte; er hoffte ſelbſt die Baiern zu be-
kehren, die bereits unverhohlen den Krieg gegen Preußen predigten; er
wollte endlich, um nur Oeſterreich bei guter Stimmung zu halten, Mainz
aufgeben und auf das rechte Moſelufer verzichten. Die Stadt Koblenz
ſelber war allerdings in dieſem Zugeſtändniß nicht inbegriffen.

Nach zwei Tagen war die Stimmung des preußiſchen Cabinets ſchon
weniger gemüthlich. Man hatte offenbar die engliſchen und öſterreichiſchen
Schriftſtücke unterdeſſen ſchärfer geprüft und wohl auch Einiges erfahren
von dem vertrauten Verkehre zwiſchen Gentz und Talleyrand. Vielleicht
mag der König ſelbſt ſeinen Diplomaten bemerkt haben, die Zuſtimmung
der Hofburg zu der Einverleibung Sachſens ſei doch ſehr unbeſtimmt ge-
halten, und Lord Caſtlereaghs polniſche Pläne gingen weit über Preußens
eigene Wünſche hinaus. Genug, eine zweite Denkſchrift Humboldts an
Hardenberg*) verräth bereits lebhafte Beſorgniſſe; ſie giebt ein ſehr an-
ſchauliches Bild von dem reichen Geiſte ihres Verfaſſers, bringt in breiter
Ausführung eine Ueberfülle feiner Gedanken, die einander gegenſeitig das
Licht vertreten, und gelangt ſchließlich doch nicht zu einem runden, klaren,
unzweifelhaften Ergebniß. Humboldt prüft zuerſt Caſtlereaghs Vorſchläge
und ſtellt nunmehr endlich den ſo nahe liegenden Gedanken auf, daß
man die Grenzfrage und die Verfaſſungsfrage aus einander halten müſſe.
Den polniſchen Verfaſſungsplänen des Czaren entgegenzutreten ſei nicht
räthlich; denn „Kaiſer Alexander befindet ſich gewiß in großer Verlegen-
heit, wenn er ausführen will was er den Polen verſprochen zu haben
ſcheint, und die Mächte vermehren dieſe Verlegenheit, wenn ſie ſeinen
Abſichten nicht allzu entſchieden widerſprechen. Unter dieſem Geſichts-
punkte betrachtet iſt die geplante polniſche Verfaſſung vielleicht ſogar ein
Gegengift gegen die Nachtheile, welche aus der übermäßigen Vergrößerung

*) Humboldts Denkſchrift sur le mémoire de Lord Castlereagh, 25. Oct. 1814.
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[631/0647] Humboldts Denkſchriften vom 23. und 25. October. theidigung Deutſchlands gegen Frankreich, ſo haben wir nur zu verlangen, daß Baiern gar keinen Einfluß auf Mainz gewinne, „wenn dieſer Staat nicht offen und ehrlich dem Deutſchen Bunde beitritt und auf das Recht ſelbſtändiger Kriegführung nicht verzichtet.“ Dies unveräußerliche Recht der europäiſchen Macht Baiern hatte Wrede während der letzten Tage in dem deutſchen Verfaſſungsausſchuſſe prahlend verfochten. Humboldt aber fährt mit unverwüſtlicher Mäßigung fort: ſollte Baiern beſſere Geſin- nungen gegen den Deutſchen Bund zeigen, dann müſſen wir ſuchen „dieſen Hof zu gewinnen, ſtatt ihn zu beargwöhnen“. Die Frage der Moſelgrenze endlich iſt eine rein ſtatiſtiſche Frage; ſie läßt ſich leicht beſeitigen, wenn Oeſterreich uns den Erfolg unſerer Gebietsverhandlungen mit den kleinen deutſchen Staaten verbürgt. Humboldt ſah alſo in der Hofburg noch immer den treuen, leider etwas ſchwachen Freund, der durch Vernunftgründe in ſeinen löblichen Entſchlüſſen beſtärkt werden mußte; er hoffte ſelbſt die Baiern zu be- kehren, die bereits unverhohlen den Krieg gegen Preußen predigten; er wollte endlich, um nur Oeſterreich bei guter Stimmung zu halten, Mainz aufgeben und auf das rechte Moſelufer verzichten. Die Stadt Koblenz ſelber war allerdings in dieſem Zugeſtändniß nicht inbegriffen. Nach zwei Tagen war die Stimmung des preußiſchen Cabinets ſchon weniger gemüthlich. Man hatte offenbar die engliſchen und öſterreichiſchen Schriftſtücke unterdeſſen ſchärfer geprüft und wohl auch Einiges erfahren von dem vertrauten Verkehre zwiſchen Gentz und Talleyrand. Vielleicht mag der König ſelbſt ſeinen Diplomaten bemerkt haben, die Zuſtimmung der Hofburg zu der Einverleibung Sachſens ſei doch ſehr unbeſtimmt ge- halten, und Lord Caſtlereaghs polniſche Pläne gingen weit über Preußens eigene Wünſche hinaus. Genug, eine zweite Denkſchrift Humboldts an Hardenberg *) verräth bereits lebhafte Beſorgniſſe; ſie giebt ein ſehr an- ſchauliches Bild von dem reichen Geiſte ihres Verfaſſers, bringt in breiter Ausführung eine Ueberfülle feiner Gedanken, die einander gegenſeitig das Licht vertreten, und gelangt ſchließlich doch nicht zu einem runden, klaren, unzweifelhaften Ergebniß. Humboldt prüft zuerſt Caſtlereaghs Vorſchläge und ſtellt nunmehr endlich den ſo nahe liegenden Gedanken auf, daß man die Grenzfrage und die Verfaſſungsfrage aus einander halten müſſe. Den polniſchen Verfaſſungsplänen des Czaren entgegenzutreten ſei nicht räthlich; denn „Kaiſer Alexander befindet ſich gewiß in großer Verlegen- heit, wenn er ausführen will was er den Polen verſprochen zu haben ſcheint, und die Mächte vermehren dieſe Verlegenheit, wenn ſie ſeinen Abſichten nicht allzu entſchieden widerſprechen. Unter dieſem Geſichts- punkte betrachtet iſt die geplante polniſche Verfaſſung vielleicht ſogar ein Gegengift gegen die Nachtheile, welche aus der übermäßigen Vergrößerung *) Humboldts Denkſchrift sur le mémoire de Lord Castlereagh, 25. Oct. 1814.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 631. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/647>, abgerufen am 22.11.2024.