Rußlands entstehen." Ueber die Grenzfrage bemerkt er, bisher habe man immer nur die Warthelinie mit Thorn und Krakau gefordert, das ge- legentlich geäußerte Verlangen nach der Weichselgrenze sei wohl niemals ernstlich gemeint gewesen. Kluge Mäßigung sei nothwendig um die Ge- fahr zu vermeiden "daß ein Bruch entstehe, und an Europa -- d. h. vor Allem an Frankreich gegen Europa -- appellirt werde. Frankreich wird sich der Streitfrage immer vornehmlich zu dem Zwecke bedienen um die Zwietracht zwischen den Cabinetten zu verewigen, gelegentlich Vortheil davon zu ziehen und nachher uns preiszugeben und sich mit Rußland zu verständigen, sobald das französische Sonderinteresse befrie- digt ist."
Dann betrachtet er Preußens eigenthümliche Stellung. Wir verlangen über Rußlands Angebot hinaus nur noch Thorn und einige halbdeutsche Striche; Oesterreich aber fordert das wichtige Krakau, das die Polen nie- mals preisgeben werden. Der Gewinn für Oesterreich ist also ungleich größer, während wir um geringer Vortheile willen Gefahr laufen uns mit Rußland zu überwerfen und in eine sehr peinliche Lage zu gerathen. Sehr bedenklich ist auch "die Weise, wie Oesterreich der Einverleibung Sachsens zustimmt. Denn statt laut und kühn zu sagen, daß die kaiserliche Regie- rung die Sache Preußens gegen Jedermann vertheidigen wird, stimmt sie nur mit Widerstreben, wie aus Gefälligkeit zu und will uns diese Gunst durch andere, sehr schmerzliche Opfer erkaufen lassen. Offen gestanden, es ist sehr zweifelhaft, ob wir nur unseren augenblicklichen Vortheil dem wirklichen und dauernden Interesse Preußens opfern, wenn wir in der polnischen Angelegenheit denselben Weg mit Oesterreich gehen. Man muß vielmehr zugeben, daß Preußen dann sein persönliches Interesse aufgiebt um die Sache Europas zu ergreifen. Dennoch wird Preußen immer den Weg der Grundsätze und niemals den der reinen Convenienz einschlagen." Wir verlangen aber, daß die verbündeten Mächte bei der Feststellung der von Rußland zu fordernden Grenzen auf Preußens schwierige Lage Rück- sicht nehmen; desgleichen daß sie "gegen alle anderen Mächte offen und kräftig die Sache Preußens und seiner neuen Erwerbungen vertheidigen; daß sie selber die Aufgabe übernehmen gewissenhaft die Verträge auszu- führen, welche uns eine vollständige Wiederherstellung und selbst eine angemessene Vergrößerung zusichern; daß sie uns endlich förmlich den Besitz der Landstriche verbürgen, wegen deren wir noch von Rußland ab- hängig sind." Wollen die Mächte diese Verpflichtungen nicht übernehmen, dann werden wir zwar nicht eine Politik befolgen, die wir verdammen, aber Preußen wird zu seinem großen Leidwesen sich genöthigt sehen "zuerst an seine Selbsterhaltung zu denken". Zum Schluß nochmals: wir müssen in der Verfassungsfrage nachgeben und nur die Warthelinie fordern; weigert sich Alexander, so dürfen die drei Mächte keinen Vertrag mit ihm schließen, sondern sie müssen die Frage offen lassen und bestimmt erklären, daß sie
II. 1. Der Wiener Congreß.
Rußlands entſtehen.“ Ueber die Grenzfrage bemerkt er, bisher habe man immer nur die Warthelinie mit Thorn und Krakau gefordert, das ge- legentlich geäußerte Verlangen nach der Weichſelgrenze ſei wohl niemals ernſtlich gemeint geweſen. Kluge Mäßigung ſei nothwendig um die Ge- fahr zu vermeiden „daß ein Bruch entſtehe, und an Europa — d. h. vor Allem an Frankreich gegen Europa — appellirt werde. Frankreich wird ſich der Streitfrage immer vornehmlich zu dem Zwecke bedienen um die Zwietracht zwiſchen den Cabinetten zu verewigen, gelegentlich Vortheil davon zu ziehen und nachher uns preiszugeben und ſich mit Rußland zu verſtändigen, ſobald das franzöſiſche Sonderintereſſe befrie- digt iſt.“
Dann betrachtet er Preußens eigenthümliche Stellung. Wir verlangen über Rußlands Angebot hinaus nur noch Thorn und einige halbdeutſche Striche; Oeſterreich aber fordert das wichtige Krakau, das die Polen nie- mals preisgeben werden. Der Gewinn für Oeſterreich iſt alſo ungleich größer, während wir um geringer Vortheile willen Gefahr laufen uns mit Rußland zu überwerfen und in eine ſehr peinliche Lage zu gerathen. Sehr bedenklich iſt auch „die Weiſe, wie Oeſterreich der Einverleibung Sachſens zuſtimmt. Denn ſtatt laut und kühn zu ſagen, daß die kaiſerliche Regie- rung die Sache Preußens gegen Jedermann vertheidigen wird, ſtimmt ſie nur mit Widerſtreben, wie aus Gefälligkeit zu und will uns dieſe Gunſt durch andere, ſehr ſchmerzliche Opfer erkaufen laſſen. Offen geſtanden, es iſt ſehr zweifelhaft, ob wir nur unſeren augenblicklichen Vortheil dem wirklichen und dauernden Intereſſe Preußens opfern, wenn wir in der polniſchen Angelegenheit denſelben Weg mit Oeſterreich gehen. Man muß vielmehr zugeben, daß Preußen dann ſein perſönliches Intereſſe aufgiebt um die Sache Europas zu ergreifen. Dennoch wird Preußen immer den Weg der Grundſätze und niemals den der reinen Convenienz einſchlagen.“ Wir verlangen aber, daß die verbündeten Mächte bei der Feſtſtellung der von Rußland zu fordernden Grenzen auf Preußens ſchwierige Lage Rück- ſicht nehmen; desgleichen daß ſie „gegen alle anderen Mächte offen und kräftig die Sache Preußens und ſeiner neuen Erwerbungen vertheidigen; daß ſie ſelber die Aufgabe übernehmen gewiſſenhaft die Verträge auszu- führen, welche uns eine vollſtändige Wiederherſtellung und ſelbſt eine angemeſſene Vergrößerung zuſichern; daß ſie uns endlich förmlich den Beſitz der Landſtriche verbürgen, wegen deren wir noch von Rußland ab- hängig ſind.“ Wollen die Mächte dieſe Verpflichtungen nicht übernehmen, dann werden wir zwar nicht eine Politik befolgen, die wir verdammen, aber Preußen wird zu ſeinem großen Leidweſen ſich genöthigt ſehen „zuerſt an ſeine Selbſterhaltung zu denken“. Zum Schluß nochmals: wir müſſen in der Verfaſſungsfrage nachgeben und nur die Warthelinie fordern; weigert ſich Alexander, ſo dürfen die drei Mächte keinen Vertrag mit ihm ſchließen, ſondern ſie müſſen die Frage offen laſſen und beſtimmt erklären, daß ſie
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II. 1. Der Wiener Congreß.
Rußlands entſtehen.“ Ueber die Grenzfrage bemerkt er, bisher habe man
immer nur die Warthelinie mit Thorn und Krakau gefordert, das ge-
legentlich geäußerte Verlangen nach der Weichſelgrenze ſei wohl niemals
ernſtlich gemeint geweſen. Kluge Mäßigung ſei nothwendig um die Ge-
fahr zu vermeiden „daß ein Bruch entſtehe, und an Europa — d. h.
vor Allem an Frankreich gegen Europa — appellirt werde. Frankreich
wird ſich der Streitfrage immer vornehmlich zu dem Zwecke bedienen
um die Zwietracht zwiſchen den Cabinetten zu verewigen, gelegentlich
Vortheil davon zu ziehen und nachher uns preiszugeben und ſich mit
Rußland zu verſtändigen, ſobald das franzöſiſche Sonderintereſſe befrie-
digt iſt.“
Dann betrachtet er Preußens eigenthümliche Stellung. Wir verlangen
über Rußlands Angebot hinaus nur noch Thorn und einige halbdeutſche
Striche; Oeſterreich aber fordert das wichtige Krakau, das die Polen nie-
mals preisgeben werden. Der Gewinn für Oeſterreich iſt alſo ungleich
größer, während wir um geringer Vortheile willen Gefahr laufen uns mit
Rußland zu überwerfen und in eine ſehr peinliche Lage zu gerathen. Sehr
bedenklich iſt auch „die Weiſe, wie Oeſterreich der Einverleibung Sachſens
zuſtimmt. Denn ſtatt laut und kühn zu ſagen, daß die kaiſerliche Regie-
rung die Sache Preußens gegen Jedermann vertheidigen wird, ſtimmt ſie
nur mit Widerſtreben, wie aus Gefälligkeit zu und will uns dieſe Gunſt
durch andere, ſehr ſchmerzliche Opfer erkaufen laſſen. Offen geſtanden,
es iſt ſehr zweifelhaft, ob wir nur unſeren augenblicklichen Vortheil dem
wirklichen und dauernden Intereſſe Preußens opfern, wenn wir in der
polniſchen Angelegenheit denſelben Weg mit Oeſterreich gehen. Man muß
vielmehr zugeben, daß Preußen dann ſein perſönliches Intereſſe aufgiebt
um die Sache Europas zu ergreifen. Dennoch wird Preußen immer den
Weg der Grundſätze und niemals den der reinen Convenienz einſchlagen.“
Wir verlangen aber, daß die verbündeten Mächte bei der Feſtſtellung der
von Rußland zu fordernden Grenzen auf Preußens ſchwierige Lage Rück-
ſicht nehmen; desgleichen daß ſie „gegen alle anderen Mächte offen und
kräftig die Sache Preußens und ſeiner neuen Erwerbungen vertheidigen;
daß ſie ſelber die Aufgabe übernehmen gewiſſenhaft die Verträge auszu-
führen, welche uns eine vollſtändige Wiederherſtellung und ſelbſt eine
angemeſſene Vergrößerung zuſichern; daß ſie uns endlich förmlich den
Beſitz der Landſtriche verbürgen, wegen deren wir noch von Rußland ab-
hängig ſind.“ Wollen die Mächte dieſe Verpflichtungen nicht übernehmen,
dann werden wir zwar nicht eine Politik befolgen, die wir verdammen,
aber Preußen wird zu ſeinem großen Leidweſen ſich genöthigt ſehen „zuerſt
an ſeine Selbſterhaltung zu denken“. Zum Schluß nochmals: wir müſſen
in der Verfaſſungsfrage nachgeben und nur die Warthelinie fordern; weigert
ſich Alexander, ſo dürfen die drei Mächte keinen Vertrag mit ihm ſchließen,
ſondern ſie müſſen die Frage offen laſſen und beſtimmt erklären, daß ſie
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 632. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/648>, abgerufen am 22.11.2024.
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