von ihrer Ansicht nicht abgehen würden, aber auch in diesem Falle müssen sie so weit als möglich Frankreich fern halten.
Ein wunderlicher Anblick, wie der geistvolle Mann immer wieder sein Roß bis dicht an den Graben heranführt und sich doch nicht das Herz faßt das Hinderniß zu nehmen. Er sieht, daß die vorgeblichen Bundesge- nossen ganz andere Pläne verfolgen als Preußen selbst, daß Preußen für sich bei diesem diplomatischen Feldzuge nichts Wesentliches gewinnen kann; er ahnt die Nichtigkeit der österreichischen Versprechungen; er begreift, daß aus dem Kampfe gegen Rußland nur Frankreich Vortheil ziehen wird. Wir erwarten, die einzig mögliche Schlußfolgerung schwebe dem scharf- sinnigen Denker schon auf den Lippen. Da führt ihn ein wunderbar künst- licher Gedankengang zu der ungeheuerlichen Ansicht: die erste und selbst- verständlichste Pflicht jedes preußischen Staatsmannes, die Pflicht, des eigenen Landes Macht zu sichern, sei eine niedrige Sorge für "das per- sönliche Interesse Preußens"! Die gleißnerische englische Phrase von "der Sache Europas" berauscht auch diesen kalten Kopf! Es ist dieselbe über- irdische Großmuth, dieselbe übergeistreiche Willensschwäche, die in unserer Geschichte immer mit unheimlicher Regelmäßigkeit den großen Zeiten kühn zugreifender Thatkraft zu folgen pflegt. Auch der gelehrte Hoffmann be- gnügte sich mit unfruchtbaren Klagen über die Feindseligkeit fast aller Mächte gegen Preußen*); er so wenig wie Humboldt fand den einfachen Schluß, daß man die erdrückende Masse der Gegner sprengen und min- destens mit einer der fremden Mächte sich abfinden müsse.
Was man von Oesterreich zu erwarten habe, konnte nur der gut- müthigen Schwäche noch zweifelhaft scheinen. Eben jetzt traten auf Be- fehl ihres Kaisers Metternich, Stadion und Schwarzenberg zu einem Rathe zusammen und beschlossen, Preußen müsse durchaus wieder bis zur Weichsel- linie vorrücken. Zur selben Zeit ließ Metternich dem Czaren vertraulich anbieten, Oesterreich sei bereit in der polnischen Sache nachzugeben, wenn Rußland die sächsischen Ansprüche Preußens nicht mehr unterstütze. So versicherte Alexander seinem königlichen Freunde auf das Bestimmteste; Metternich, nach seiner Gewohnheit, leugnete Alles. Da aber jenes An- erbieten genau übereinstimmt mit der gleich nachher von Oesterreich wirklich eingehaltenen Politik, so ist diesmal der Czar sicherlich nicht der Lügner gewesen. --
Eine unerhörte Demüthigung stand dem preußischen Staate bevor; da griff König Friedrich Wilhelm rettend ein. Es war vielleicht der heil- samste diplomatische Entschluß seines Lebens. Am 6. November hatte er mit dem Czaren eine lange Unterredung im engsten Kreise. Die beiden Freunde verständigten sich, und der König wagte nun endlich, seinen Diplomaten die Politik anzubefehlen, welche er schon seit Monaten für die einzig sichere
*) Hoffmanns Bemerkungen zu seiner Statistischen Uebersicht, 30. Oct. 1814.
Einſchreiten des Königs.
von ihrer Anſicht nicht abgehen würden, aber auch in dieſem Falle müſſen ſie ſo weit als möglich Frankreich fern halten.
Ein wunderlicher Anblick, wie der geiſtvolle Mann immer wieder ſein Roß bis dicht an den Graben heranführt und ſich doch nicht das Herz faßt das Hinderniß zu nehmen. Er ſieht, daß die vorgeblichen Bundesge- noſſen ganz andere Pläne verfolgen als Preußen ſelbſt, daß Preußen für ſich bei dieſem diplomatiſchen Feldzuge nichts Weſentliches gewinnen kann; er ahnt die Nichtigkeit der öſterreichiſchen Verſprechungen; er begreift, daß aus dem Kampfe gegen Rußland nur Frankreich Vortheil ziehen wird. Wir erwarten, die einzig mögliche Schlußfolgerung ſchwebe dem ſcharf- ſinnigen Denker ſchon auf den Lippen. Da führt ihn ein wunderbar künſt- licher Gedankengang zu der ungeheuerlichen Anſicht: die erſte und ſelbſt- verſtändlichſte Pflicht jedes preußiſchen Staatsmannes, die Pflicht, des eigenen Landes Macht zu ſichern, ſei eine niedrige Sorge für „das per- ſönliche Intereſſe Preußens“! Die gleißneriſche engliſche Phraſe von „der Sache Europas“ berauſcht auch dieſen kalten Kopf! Es iſt dieſelbe über- irdiſche Großmuth, dieſelbe übergeiſtreiche Willensſchwäche, die in unſerer Geſchichte immer mit unheimlicher Regelmäßigkeit den großen Zeiten kühn zugreifender Thatkraft zu folgen pflegt. Auch der gelehrte Hoffmann be- gnügte ſich mit unfruchtbaren Klagen über die Feindſeligkeit faſt aller Mächte gegen Preußen*); er ſo wenig wie Humboldt fand den einfachen Schluß, daß man die erdrückende Maſſe der Gegner ſprengen und min- deſtens mit einer der fremden Mächte ſich abfinden müſſe.
Was man von Oeſterreich zu erwarten habe, konnte nur der gut- müthigen Schwäche noch zweifelhaft ſcheinen. Eben jetzt traten auf Be- fehl ihres Kaiſers Metternich, Stadion und Schwarzenberg zu einem Rathe zuſammen und beſchloſſen, Preußen müſſe durchaus wieder bis zur Weichſel- linie vorrücken. Zur ſelben Zeit ließ Metternich dem Czaren vertraulich anbieten, Oeſterreich ſei bereit in der polniſchen Sache nachzugeben, wenn Rußland die ſächſiſchen Anſprüche Preußens nicht mehr unterſtütze. So verſicherte Alexander ſeinem königlichen Freunde auf das Beſtimmteſte; Metternich, nach ſeiner Gewohnheit, leugnete Alles. Da aber jenes An- erbieten genau übereinſtimmt mit der gleich nachher von Oeſterreich wirklich eingehaltenen Politik, ſo iſt diesmal der Czar ſicherlich nicht der Lügner geweſen. —
Eine unerhörte Demüthigung ſtand dem preußiſchen Staate bevor; da griff König Friedrich Wilhelm rettend ein. Es war vielleicht der heil- ſamſte diplomatiſche Entſchluß ſeines Lebens. Am 6. November hatte er mit dem Czaren eine lange Unterredung im engſten Kreiſe. Die beiden Freunde verſtändigten ſich, und der König wagte nun endlich, ſeinen Diplomaten die Politik anzubefehlen, welche er ſchon ſeit Monaten für die einzig ſichere
*) Hoffmanns Bemerkungen zu ſeiner Statiſtiſchen Ueberſicht, 30. Oct. 1814.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0649"n="633"/><fwplace="top"type="header">Einſchreiten des Königs.</fw><lb/>
von ihrer Anſicht nicht abgehen würden, aber auch in dieſem Falle müſſen<lb/>ſie ſo weit als möglich Frankreich fern halten.</p><lb/><p>Ein wunderlicher Anblick, wie der geiſtvolle Mann immer wieder ſein<lb/>
Roß bis dicht an den Graben heranführt und ſich doch nicht das Herz<lb/>
faßt das Hinderniß zu nehmen. Er ſieht, daß die vorgeblichen Bundesge-<lb/>
noſſen ganz andere Pläne verfolgen als Preußen ſelbſt, daß Preußen für<lb/>ſich bei dieſem diplomatiſchen Feldzuge nichts Weſentliches gewinnen kann;<lb/>
er ahnt die Nichtigkeit der öſterreichiſchen Verſprechungen; er begreift, daß<lb/>
aus dem Kampfe gegen Rußland nur Frankreich Vortheil ziehen wird.<lb/>
Wir erwarten, die einzig mögliche Schlußfolgerung ſchwebe dem ſcharf-<lb/>ſinnigen Denker ſchon auf den Lippen. Da führt ihn ein wunderbar künſt-<lb/>
licher Gedankengang zu der ungeheuerlichen Anſicht: die erſte und ſelbſt-<lb/>
verſtändlichſte Pflicht jedes preußiſchen Staatsmannes, die Pflicht, des<lb/>
eigenen Landes Macht zu ſichern, ſei eine niedrige Sorge für „das per-<lb/>ſönliche Intereſſe Preußens“! Die gleißneriſche engliſche Phraſe von „der<lb/>
Sache Europas“ berauſcht auch dieſen kalten Kopf! Es iſt dieſelbe über-<lb/>
irdiſche Großmuth, dieſelbe übergeiſtreiche Willensſchwäche, die in unſerer<lb/>
Geſchichte immer mit unheimlicher Regelmäßigkeit den großen Zeiten kühn<lb/>
zugreifender Thatkraft zu folgen pflegt. Auch der gelehrte Hoffmann be-<lb/>
gnügte ſich mit unfruchtbaren Klagen über die Feindſeligkeit faſt aller<lb/>
Mächte gegen Preußen<noteplace="foot"n="*)">Hoffmanns Bemerkungen zu ſeiner Statiſtiſchen Ueberſicht, 30. Oct. 1814.</note>; er ſo wenig wie Humboldt fand den einfachen<lb/>
Schluß, daß man die erdrückende Maſſe der Gegner ſprengen und min-<lb/>
deſtens mit einer der fremden Mächte ſich abfinden müſſe.</p><lb/><p>Was man von Oeſterreich zu erwarten habe, konnte nur der gut-<lb/>
müthigen Schwäche noch zweifelhaft ſcheinen. Eben jetzt traten auf Be-<lb/>
fehl ihres Kaiſers Metternich, Stadion und Schwarzenberg zu einem Rathe<lb/>
zuſammen und beſchloſſen, Preußen müſſe durchaus wieder bis zur Weichſel-<lb/>
linie vorrücken. Zur ſelben Zeit ließ Metternich dem Czaren vertraulich<lb/>
anbieten, Oeſterreich ſei bereit in der polniſchen Sache nachzugeben, wenn<lb/>
Rußland die ſächſiſchen Anſprüche Preußens nicht mehr unterſtütze. So<lb/>
verſicherte Alexander ſeinem königlichen Freunde auf das Beſtimmteſte;<lb/>
Metternich, nach ſeiner Gewohnheit, leugnete Alles. Da aber jenes An-<lb/>
erbieten genau übereinſtimmt mit der gleich nachher von Oeſterreich wirklich<lb/>
eingehaltenen Politik, ſo iſt diesmal der Czar ſicherlich nicht der Lügner<lb/>
geweſen. —</p><lb/><p>Eine unerhörte Demüthigung ſtand dem preußiſchen Staate bevor;<lb/>
da griff König Friedrich Wilhelm rettend ein. Es war vielleicht der heil-<lb/>ſamſte diplomatiſche Entſchluß ſeines Lebens. Am 6. November hatte er mit<lb/>
dem Czaren eine lange Unterredung im engſten Kreiſe. Die beiden Freunde<lb/>
verſtändigten ſich, und der König wagte nun endlich, ſeinen Diplomaten die<lb/>
Politik anzubefehlen, welche er ſchon ſeit Monaten für die einzig ſichere<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[633/0649]
Einſchreiten des Königs.
von ihrer Anſicht nicht abgehen würden, aber auch in dieſem Falle müſſen
ſie ſo weit als möglich Frankreich fern halten.
Ein wunderlicher Anblick, wie der geiſtvolle Mann immer wieder ſein
Roß bis dicht an den Graben heranführt und ſich doch nicht das Herz
faßt das Hinderniß zu nehmen. Er ſieht, daß die vorgeblichen Bundesge-
noſſen ganz andere Pläne verfolgen als Preußen ſelbſt, daß Preußen für
ſich bei dieſem diplomatiſchen Feldzuge nichts Weſentliches gewinnen kann;
er ahnt die Nichtigkeit der öſterreichiſchen Verſprechungen; er begreift, daß
aus dem Kampfe gegen Rußland nur Frankreich Vortheil ziehen wird.
Wir erwarten, die einzig mögliche Schlußfolgerung ſchwebe dem ſcharf-
ſinnigen Denker ſchon auf den Lippen. Da führt ihn ein wunderbar künſt-
licher Gedankengang zu der ungeheuerlichen Anſicht: die erſte und ſelbſt-
verſtändlichſte Pflicht jedes preußiſchen Staatsmannes, die Pflicht, des
eigenen Landes Macht zu ſichern, ſei eine niedrige Sorge für „das per-
ſönliche Intereſſe Preußens“! Die gleißneriſche engliſche Phraſe von „der
Sache Europas“ berauſcht auch dieſen kalten Kopf! Es iſt dieſelbe über-
irdiſche Großmuth, dieſelbe übergeiſtreiche Willensſchwäche, die in unſerer
Geſchichte immer mit unheimlicher Regelmäßigkeit den großen Zeiten kühn
zugreifender Thatkraft zu folgen pflegt. Auch der gelehrte Hoffmann be-
gnügte ſich mit unfruchtbaren Klagen über die Feindſeligkeit faſt aller
Mächte gegen Preußen *); er ſo wenig wie Humboldt fand den einfachen
Schluß, daß man die erdrückende Maſſe der Gegner ſprengen und min-
deſtens mit einer der fremden Mächte ſich abfinden müſſe.
Was man von Oeſterreich zu erwarten habe, konnte nur der gut-
müthigen Schwäche noch zweifelhaft ſcheinen. Eben jetzt traten auf Be-
fehl ihres Kaiſers Metternich, Stadion und Schwarzenberg zu einem Rathe
zuſammen und beſchloſſen, Preußen müſſe durchaus wieder bis zur Weichſel-
linie vorrücken. Zur ſelben Zeit ließ Metternich dem Czaren vertraulich
anbieten, Oeſterreich ſei bereit in der polniſchen Sache nachzugeben, wenn
Rußland die ſächſiſchen Anſprüche Preußens nicht mehr unterſtütze. So
verſicherte Alexander ſeinem königlichen Freunde auf das Beſtimmteſte;
Metternich, nach ſeiner Gewohnheit, leugnete Alles. Da aber jenes An-
erbieten genau übereinſtimmt mit der gleich nachher von Oeſterreich wirklich
eingehaltenen Politik, ſo iſt diesmal der Czar ſicherlich nicht der Lügner
geweſen. —
Eine unerhörte Demüthigung ſtand dem preußiſchen Staate bevor;
da griff König Friedrich Wilhelm rettend ein. Es war vielleicht der heil-
ſamſte diplomatiſche Entſchluß ſeines Lebens. Am 6. November hatte er mit
dem Czaren eine lange Unterredung im engſten Kreiſe. Die beiden Freunde
verſtändigten ſich, und der König wagte nun endlich, ſeinen Diplomaten die
Politik anzubefehlen, welche er ſchon ſeit Monaten für die einzig ſichere
*) Hoffmanns Bemerkungen zu ſeiner Statiſtiſchen Ueberſicht, 30. Oct. 1814.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/649>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.