Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Der europäische Fünfer-Ausschuß.
Versammlung gerade vier Monate gebraucht hatte um sich nur zu con-
stituiren. Das Uebergewicht der fünf großen Mächte erzwang sich Gel-
tung, allen Abreden zuwider. Nunmehr fand Talleyrand selbst die Hege-
monie der Großmächte nicht mehr unverträglich mit "dem öffentlichen
Rechte"; keine Rede mehr von allen den wohllautenden Gründen, womit
er einst zu Beginn des Congresses die Gleichberechtigung aller Staaten
Europas vertheidigt hatte.

Auch die preußischen Staatsmänner begannen einzusehen, daß einige
Nachgiebigkeit geboten war. Der Vertrag vom 3. Januar blieb ihnen
freilich völlig verborgen. Als die Grenzverhandlungen um jene Zeit nicht
vorwärts wollten, da haben die preußischen Bevollmächtigten einmal dem
niederländischen Minister Nagell gedroht: wenn Holland allzu widerspenstig
bleibe, so werde Preußen sich an Frankreich anschließen -- was der Hol-
länder sofort, triumphirend über die arglose Unwissenheit der Preußen
seinen englischen Freunden meldete. So wenig ahnte Hardenbergs Staats-
kanzlei, daß der Kriegsbund der Gegner bereits geschlossen war. Doch
auf die Möglichkeit eines Krieges war sie längst gefaßt; zu so vielen
anderen drohenden Anzeichen kam jetzt noch die sichere Nachricht, daß
England und Oesterreich, auf Talleyrands Betrieb, die Pforte zu einem
Angriff auf Rußland zu bereden suchten. Man konnte sichs nicht ver-
bergen, die Einverleibung Sachsens ließ sich höchstwahrscheinlich nur durch
einen europäischen Krieg erreichen. Und war denn die Frage, ob die Alber-
tiner in Münster, Trier oder Dresden hausen sollten, wichtig genug um
deshalb das ermüdete Volk nochmals unter die Waffen zu rufen? Die
wohlmeinenden Männer der Staatskanzlei überkam doch zuweilen ein Ge-
fühl patriotischer Scham, wenn sie zurückschauten auf den jammervollen
Gang des Congresses: vier Monate unablässigen Streites, und noch kein
einziges positives Ergebniß für Deutschland gesichert! In der arg ent-
täuschten Nation stieg der Mißmuth also, daß selbst Goethe einmal zürnend
aus seiner olympischen Ruhe heraustrat. Am zweiten Januar brachte
eine Jenaer Zeitung ein Gedicht des Altmeisters:

Sagt, wie schon am zweiten Tage
Sich ein zweites Fest entzündet?
Hat vielleicht willkommne Sage
Vaterland und Reich gegründet?
Nein! --

und mit diesem harten Nein ging der Alte gelassen dazu über, einem
"würdigen und biedern" Weimarischen Beamten zum Jubelfeste Glück zu
wünschen. Das vornehm geringschätzige Wort des Dichters machte, wie
Varnhagen versichert, auf die Besseren der deutschen Diplomaten doch tiefen
Eindruck; man empfand immer schmerzlicher, daß man bisher gar nichts
geleistet. Und sollte nun gar dieser Congreß, der berufen war dem zer-

Der europäiſche Fünfer-Ausſchuß.
Verſammlung gerade vier Monate gebraucht hatte um ſich nur zu con-
ſtituiren. Das Uebergewicht der fünf großen Mächte erzwang ſich Gel-
tung, allen Abreden zuwider. Nunmehr fand Talleyrand ſelbſt die Hege-
monie der Großmächte nicht mehr unverträglich mit „dem öffentlichen
Rechte“; keine Rede mehr von allen den wohllautenden Gründen, womit
er einſt zu Beginn des Congreſſes die Gleichberechtigung aller Staaten
Europas vertheidigt hatte.

Auch die preußiſchen Staatsmänner begannen einzuſehen, daß einige
Nachgiebigkeit geboten war. Der Vertrag vom 3. Januar blieb ihnen
freilich völlig verborgen. Als die Grenzverhandlungen um jene Zeit nicht
vorwärts wollten, da haben die preußiſchen Bevollmächtigten einmal dem
niederländiſchen Miniſter Nagell gedroht: wenn Holland allzu widerſpenſtig
bleibe, ſo werde Preußen ſich an Frankreich anſchließen — was der Hol-
länder ſofort, triumphirend über die argloſe Unwiſſenheit der Preußen
ſeinen engliſchen Freunden meldete. So wenig ahnte Hardenbergs Staats-
kanzlei, daß der Kriegsbund der Gegner bereits geſchloſſen war. Doch
auf die Möglichkeit eines Krieges war ſie längſt gefaßt; zu ſo vielen
anderen drohenden Anzeichen kam jetzt noch die ſichere Nachricht, daß
England und Oeſterreich, auf Talleyrands Betrieb, die Pforte zu einem
Angriff auf Rußland zu bereden ſuchten. Man konnte ſichs nicht ver-
bergen, die Einverleibung Sachſens ließ ſich höchſtwahrſcheinlich nur durch
einen europäiſchen Krieg erreichen. Und war denn die Frage, ob die Alber-
tiner in Münſter, Trier oder Dresden hauſen ſollten, wichtig genug um
deshalb das ermüdete Volk nochmals unter die Waffen zu rufen? Die
wohlmeinenden Männer der Staatskanzlei überkam doch zuweilen ein Ge-
fühl patriotiſcher Scham, wenn ſie zurückſchauten auf den jammervollen
Gang des Congreſſes: vier Monate unabläſſigen Streites, und noch kein
einziges poſitives Ergebniß für Deutſchland geſichert! In der arg ent-
täuſchten Nation ſtieg der Mißmuth alſo, daß ſelbſt Goethe einmal zürnend
aus ſeiner olympiſchen Ruhe heraustrat. Am zweiten Januar brachte
eine Jenaer Zeitung ein Gedicht des Altmeiſters:

Sagt, wie ſchon am zweiten Tage
Sich ein zweites Feſt entzündet?
Hat vielleicht willkommne Sage
Vaterland und Reich gegründet?
Nein! —

und mit dieſem harten Nein ging der Alte gelaſſen dazu über, einem
„würdigen und biedern“ Weimariſchen Beamten zum Jubelfeſte Glück zu
wünſchen. Das vornehm geringſchätzige Wort des Dichters machte, wie
Varnhagen verſichert, auf die Beſſeren der deutſchen Diplomaten doch tiefen
Eindruck; man empfand immer ſchmerzlicher, daß man bisher gar nichts
geleiſtet. Und ſollte nun gar dieſer Congreß, der berufen war dem zer-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0671" n="655"/><fw place="top" type="header">Der europäi&#x017F;che Fünfer-Aus&#x017F;chuß.</fw><lb/>
Ver&#x017F;ammlung gerade vier Monate gebraucht hatte um &#x017F;ich nur zu con-<lb/>
&#x017F;tituiren. Das Uebergewicht der fünf großen Mächte erzwang &#x017F;ich Gel-<lb/>
tung, allen Abreden zuwider. Nunmehr fand Talleyrand &#x017F;elb&#x017F;t die Hege-<lb/>
monie der Großmächte nicht mehr unverträglich mit &#x201E;dem öffentlichen<lb/>
Rechte&#x201C;; keine Rede mehr von allen den wohllautenden Gründen, womit<lb/>
er ein&#x017F;t zu Beginn des Congre&#x017F;&#x017F;es die Gleichberechtigung aller Staaten<lb/>
Europas vertheidigt hatte.</p><lb/>
            <p>Auch die preußi&#x017F;chen Staatsmänner begannen einzu&#x017F;ehen, daß einige<lb/>
Nachgiebigkeit geboten war. Der Vertrag vom 3. Januar blieb ihnen<lb/>
freilich völlig verborgen. Als die Grenzverhandlungen um jene Zeit nicht<lb/>
vorwärts wollten, da haben die preußi&#x017F;chen Bevollmächtigten einmal dem<lb/>
niederländi&#x017F;chen Mini&#x017F;ter Nagell gedroht: wenn Holland allzu wider&#x017F;pen&#x017F;tig<lb/>
bleibe, &#x017F;o werde Preußen &#x017F;ich an Frankreich an&#x017F;chließen &#x2014; was der Hol-<lb/>
länder &#x017F;ofort, triumphirend über die arglo&#x017F;e Unwi&#x017F;&#x017F;enheit der Preußen<lb/>
&#x017F;einen engli&#x017F;chen Freunden meldete. So wenig ahnte Hardenbergs Staats-<lb/>
kanzlei, daß der Kriegsbund der Gegner bereits ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en war. Doch<lb/>
auf die Möglichkeit eines Krieges war &#x017F;ie läng&#x017F;t gefaßt; zu &#x017F;o vielen<lb/>
anderen drohenden Anzeichen kam jetzt noch die &#x017F;ichere Nachricht, daß<lb/>
England und Oe&#x017F;terreich, auf Talleyrands Betrieb, die Pforte zu einem<lb/>
Angriff auf Rußland zu bereden &#x017F;uchten. Man konnte &#x017F;ichs nicht ver-<lb/>
bergen, die Einverleibung Sach&#x017F;ens ließ &#x017F;ich höch&#x017F;twahr&#x017F;cheinlich nur durch<lb/>
einen europäi&#x017F;chen Krieg erreichen. Und war denn die Frage, ob die Alber-<lb/>
tiner in Mün&#x017F;ter, Trier oder Dresden hau&#x017F;en &#x017F;ollten, wichtig genug um<lb/>
deshalb das ermüdete Volk nochmals unter die Waffen zu rufen? Die<lb/>
wohlmeinenden Männer der Staatskanzlei überkam doch zuweilen ein Ge-<lb/>
fühl patrioti&#x017F;cher Scham, wenn &#x017F;ie zurück&#x017F;chauten auf den jammervollen<lb/>
Gang des Congre&#x017F;&#x017F;es: vier Monate unablä&#x017F;&#x017F;igen Streites, und noch kein<lb/>
einziges po&#x017F;itives Ergebniß für Deut&#x017F;chland ge&#x017F;ichert! In der arg ent-<lb/>
täu&#x017F;chten Nation &#x017F;tieg der Mißmuth al&#x017F;o, daß &#x017F;elb&#x017F;t Goethe einmal zürnend<lb/>
aus &#x017F;einer olympi&#x017F;chen Ruhe heraustrat. Am zweiten Januar brachte<lb/>
eine Jenaer Zeitung ein Gedicht des Altmei&#x017F;ters:</p><lb/>
            <lg type="poem">
              <l>Sagt, wie &#x017F;chon am zweiten Tage</l><lb/>
              <l>Sich ein zweites Fe&#x017F;t entzündet?</l><lb/>
              <l>Hat vielleicht willkommne Sage</l><lb/>
              <l>Vaterland und Reich gegründet?</l><lb/>
              <l><hi rendition="#g">Nein</hi>! &#x2014;</l>
            </lg><lb/>
            <p>und mit die&#x017F;em harten Nein ging der Alte gela&#x017F;&#x017F;en dazu über, einem<lb/>
&#x201E;würdigen und biedern&#x201C; Weimari&#x017F;chen Beamten zum Jubelfe&#x017F;te Glück zu<lb/>
wün&#x017F;chen. Das vornehm gering&#x017F;chätzige Wort des Dichters machte, wie<lb/>
Varnhagen ver&#x017F;ichert, auf die Be&#x017F;&#x017F;eren der deut&#x017F;chen Diplomaten doch tiefen<lb/>
Eindruck; man empfand immer &#x017F;chmerzlicher, daß man bisher gar nichts<lb/>
gelei&#x017F;tet. Und &#x017F;ollte nun gar die&#x017F;er Congreß, der berufen war dem zer-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[655/0671] Der europäiſche Fünfer-Ausſchuß. Verſammlung gerade vier Monate gebraucht hatte um ſich nur zu con- ſtituiren. Das Uebergewicht der fünf großen Mächte erzwang ſich Gel- tung, allen Abreden zuwider. Nunmehr fand Talleyrand ſelbſt die Hege- monie der Großmächte nicht mehr unverträglich mit „dem öffentlichen Rechte“; keine Rede mehr von allen den wohllautenden Gründen, womit er einſt zu Beginn des Congreſſes die Gleichberechtigung aller Staaten Europas vertheidigt hatte. Auch die preußiſchen Staatsmänner begannen einzuſehen, daß einige Nachgiebigkeit geboten war. Der Vertrag vom 3. Januar blieb ihnen freilich völlig verborgen. Als die Grenzverhandlungen um jene Zeit nicht vorwärts wollten, da haben die preußiſchen Bevollmächtigten einmal dem niederländiſchen Miniſter Nagell gedroht: wenn Holland allzu widerſpenſtig bleibe, ſo werde Preußen ſich an Frankreich anſchließen — was der Hol- länder ſofort, triumphirend über die argloſe Unwiſſenheit der Preußen ſeinen engliſchen Freunden meldete. So wenig ahnte Hardenbergs Staats- kanzlei, daß der Kriegsbund der Gegner bereits geſchloſſen war. Doch auf die Möglichkeit eines Krieges war ſie längſt gefaßt; zu ſo vielen anderen drohenden Anzeichen kam jetzt noch die ſichere Nachricht, daß England und Oeſterreich, auf Talleyrands Betrieb, die Pforte zu einem Angriff auf Rußland zu bereden ſuchten. Man konnte ſichs nicht ver- bergen, die Einverleibung Sachſens ließ ſich höchſtwahrſcheinlich nur durch einen europäiſchen Krieg erreichen. Und war denn die Frage, ob die Alber- tiner in Münſter, Trier oder Dresden hauſen ſollten, wichtig genug um deshalb das ermüdete Volk nochmals unter die Waffen zu rufen? Die wohlmeinenden Männer der Staatskanzlei überkam doch zuweilen ein Ge- fühl patriotiſcher Scham, wenn ſie zurückſchauten auf den jammervollen Gang des Congreſſes: vier Monate unabläſſigen Streites, und noch kein einziges poſitives Ergebniß für Deutſchland geſichert! In der arg ent- täuſchten Nation ſtieg der Mißmuth alſo, daß ſelbſt Goethe einmal zürnend aus ſeiner olympiſchen Ruhe heraustrat. Am zweiten Januar brachte eine Jenaer Zeitung ein Gedicht des Altmeiſters: Sagt, wie ſchon am zweiten Tage Sich ein zweites Feſt entzündet? Hat vielleicht willkommne Sage Vaterland und Reich gegründet? Nein! — und mit dieſem harten Nein ging der Alte gelaſſen dazu über, einem „würdigen und biedern“ Weimariſchen Beamten zum Jubelfeſte Glück zu wünſchen. Das vornehm geringſchätzige Wort des Dichters machte, wie Varnhagen verſichert, auf die Beſſeren der deutſchen Diplomaten doch tiefen Eindruck; man empfand immer ſchmerzlicher, daß man bisher gar nichts geleiſtet. Und ſollte nun gar dieſer Congreß, der berufen war dem zer-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/671
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/671>, abgerufen am 22.11.2024.