Staatskanzler: nimmermehr dürfe man dies Kernvolk aufopfern, ein Ost- friese sei mehr werth als zwanzig halbfranzösische Rheinländer; auch biete der Besitz der Ems den einzigen freien Zugang zur Nordsee, das einzige Mittel den Rheinzöllen der Holländer entgegenzuwirken.
Da gab der Streit um Vorpommern den welfischen Diplomaten eine bequeme Handhabe um den in Reichenbach gescheiterten Versuch zu er- neuern. Der Staatskanzler verlangte jetzt von den Welfen Lauenburg, und da er außerdem noch die vertragsmäßige Vergrößerung für Hannover beschaffen mußte, so ersah Münster rasch seinen Vortheil und forderte als Ersatz: Ostfriesland und jenen "Isthmus" des Göttinger Landes, der nach Hardenbergs Plänen die östlichen Provinzen Preußens mit dem Westen verbinden sollte. Die letztere Forderung ließ sich nicht abweisen, sie ist jedoch in Berlin als ein offenbarer Beweis bösen Willens den Welfen lange nachgetragen worden; denn war man in Hannover ehrlich gesonnen mit Preußen gute Freundschaft zu halten, so konnte die Um- klammerung durch Preußen dem Welfenhofe nicht bedrohlich erscheinen. Noch tiefer verletzte den König die Zumuthung wegen Ostfriesland; keine der vielen Enttäuschungen dieser traurigen Zeit hat ihn so schmerzlich be- rührt. Viele Monate hindurch, bis in den März hinein, widersprach er beharrlich; wie oft hat er Knesebeck deshalb zu dem Staatskanzler gesendet, was immer ein untrügliches Zeichen der Verstimmung war. Die Welfen aber bestanden auf ihrem Scheine. Nicht als ob sie die handelspolitische Bedeutung der Emsmündung irgend gewürdigt hätten; die herrlichen Ströme Niedersachsens waren in den Augen des welfischen Adelsregiments lediglich dazu bestimmt mit ergiebigen Zöllen belastet zu werden. Aber Ostfriesland grenzte an Holland, und eine ununterbrochen zusammen- hängende welfisch-oranische Nordwestmacht galt in London und Hannover wie im Haag als nothwendig, um dem preußischen Nachbarn das Gleich- gewicht zu halten. Deshalb verharrte Münster bei seiner Forderung, und König Friedrich Wilhelm stand schließlich vor der Frage: ob Vor- pommern für Preußen wichtiger sei oder Ostfriesland? Hardenberg stimmte unbedenklich für Pommern; denn da die Landgrenze im Osten durch den Verlust von Warschau sich so ungünstig gestaltete, so war es für Preußen unerläßlich, mindestens auf der Seeseite sich zu decken und die Herrschaft über die Odermündungen ganz in seine Hand zu bringen; Ostfriesland aber, so wichtig es war, bildete doch nur einen Außenposten mehr.
Noch schwerer wog in Hardenbergs Augen eine Erwägung der na- tionalen Politik: der lange Kampf um die Befreiung Pommerns durfte wahrlich nicht damit enden, daß die Dänen, wie schon am Kieler Busen, so auch am Strelasunde sich einnisteten. Dagegen hatte Hannover selbst während seiner Verbindung mit England immer als ein deutsches Land ge- golten, und seine gänzliche Abtrennung von Großbritannien schien damals, da Prinzeß Charlotte noch lebte, sehr nahe, schon nach dem Tode des Prinz-
II. 1. Der Wiener Congreß.
Staatskanzler: nimmermehr dürfe man dies Kernvolk aufopfern, ein Oſt- frieſe ſei mehr werth als zwanzig halbfranzöſiſche Rheinländer; auch biete der Beſitz der Ems den einzigen freien Zugang zur Nordſee, das einzige Mittel den Rheinzöllen der Holländer entgegenzuwirken.
Da gab der Streit um Vorpommern den welfiſchen Diplomaten eine bequeme Handhabe um den in Reichenbach geſcheiterten Verſuch zu er- neuern. Der Staatskanzler verlangte jetzt von den Welfen Lauenburg, und da er außerdem noch die vertragsmäßige Vergrößerung für Hannover beſchaffen mußte, ſo erſah Münſter raſch ſeinen Vortheil und forderte als Erſatz: Oſtfriesland und jenen „Iſthmus“ des Göttinger Landes, der nach Hardenbergs Plänen die öſtlichen Provinzen Preußens mit dem Weſten verbinden ſollte. Die letztere Forderung ließ ſich nicht abweiſen, ſie iſt jedoch in Berlin als ein offenbarer Beweis böſen Willens den Welfen lange nachgetragen worden; denn war man in Hannover ehrlich geſonnen mit Preußen gute Freundſchaft zu halten, ſo konnte die Um- klammerung durch Preußen dem Welfenhofe nicht bedrohlich erſcheinen. Noch tiefer verletzte den König die Zumuthung wegen Oſtfriesland; keine der vielen Enttäuſchungen dieſer traurigen Zeit hat ihn ſo ſchmerzlich be- rührt. Viele Monate hindurch, bis in den März hinein, widerſprach er beharrlich; wie oft hat er Kneſebeck deshalb zu dem Staatskanzler geſendet, was immer ein untrügliches Zeichen der Verſtimmung war. Die Welfen aber beſtanden auf ihrem Scheine. Nicht als ob ſie die handelspolitiſche Bedeutung der Emsmündung irgend gewürdigt hätten; die herrlichen Ströme Niederſachſens waren in den Augen des welfiſchen Adelsregiments lediglich dazu beſtimmt mit ergiebigen Zöllen belaſtet zu werden. Aber Oſtfriesland grenzte an Holland, und eine ununterbrochen zuſammen- hängende welfiſch-oraniſche Nordweſtmacht galt in London und Hannover wie im Haag als nothwendig, um dem preußiſchen Nachbarn das Gleich- gewicht zu halten. Deshalb verharrte Münſter bei ſeiner Forderung, und König Friedrich Wilhelm ſtand ſchließlich vor der Frage: ob Vor- pommern für Preußen wichtiger ſei oder Oſtfriesland? Hardenberg ſtimmte unbedenklich für Pommern; denn da die Landgrenze im Oſten durch den Verluſt von Warſchau ſich ſo ungünſtig geſtaltete, ſo war es für Preußen unerläßlich, mindeſtens auf der Seeſeite ſich zu decken und die Herrſchaft über die Odermündungen ganz in ſeine Hand zu bringen; Oſtfriesland aber, ſo wichtig es war, bildete doch nur einen Außenpoſten mehr.
Noch ſchwerer wog in Hardenbergs Augen eine Erwägung der na- tionalen Politik: der lange Kampf um die Befreiung Pommerns durfte wahrlich nicht damit enden, daß die Dänen, wie ſchon am Kieler Buſen, ſo auch am Strelaſunde ſich einniſteten. Dagegen hatte Hannover ſelbſt während ſeiner Verbindung mit England immer als ein deutſches Land ge- golten, und ſeine gänzliche Abtrennung von Großbritannien ſchien damals, da Prinzeß Charlotte noch lebte, ſehr nahe, ſchon nach dem Tode des Prinz-
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Staatskanzler: nimmermehr dürfe man dies Kernvolk aufopfern, ein Oſt-
frieſe ſei mehr werth als zwanzig halbfranzöſiſche Rheinländer; auch biete
der Beſitz der Ems den einzigen freien Zugang zur Nordſee, das einzige
Mittel den Rheinzöllen der Holländer entgegenzuwirken.
Da gab der Streit um Vorpommern den welfiſchen Diplomaten eine
bequeme Handhabe um den in Reichenbach geſcheiterten Verſuch zu er-
neuern. Der Staatskanzler verlangte jetzt von den Welfen Lauenburg,
und da er außerdem noch die vertragsmäßige Vergrößerung für Hannover
beſchaffen mußte, ſo erſah Münſter raſch ſeinen Vortheil und forderte als
Erſatz: Oſtfriesland und jenen „Iſthmus“ des Göttinger Landes, der
nach Hardenbergs Plänen die öſtlichen Provinzen Preußens mit dem
Weſten verbinden ſollte. Die letztere Forderung ließ ſich nicht abweiſen,
ſie iſt jedoch in Berlin als ein offenbarer Beweis böſen Willens den
Welfen lange nachgetragen worden; denn war man in Hannover ehrlich
geſonnen mit Preußen gute Freundſchaft zu halten, ſo konnte die Um-
klammerung durch Preußen dem Welfenhofe nicht bedrohlich erſcheinen.
Noch tiefer verletzte den König die Zumuthung wegen Oſtfriesland; keine
der vielen Enttäuſchungen dieſer traurigen Zeit hat ihn ſo ſchmerzlich be-
rührt. Viele Monate hindurch, bis in den März hinein, widerſprach er
beharrlich; wie oft hat er Kneſebeck deshalb zu dem Staatskanzler geſendet,
was immer ein untrügliches Zeichen der Verſtimmung war. Die Welfen
aber beſtanden auf ihrem Scheine. Nicht als ob ſie die handelspolitiſche
Bedeutung der Emsmündung irgend gewürdigt hätten; die herrlichen
Ströme Niederſachſens waren in den Augen des welfiſchen Adelsregiments
lediglich dazu beſtimmt mit ergiebigen Zöllen belaſtet zu werden. Aber
Oſtfriesland grenzte an Holland, und eine ununterbrochen zuſammen-
hängende welfiſch-oraniſche Nordweſtmacht galt in London und Hannover
wie im Haag als nothwendig, um dem preußiſchen Nachbarn das Gleich-
gewicht zu halten. Deshalb verharrte Münſter bei ſeiner Forderung,
und König Friedrich Wilhelm ſtand ſchließlich vor der Frage: ob Vor-
pommern für Preußen wichtiger ſei oder Oſtfriesland? Hardenberg ſtimmte
unbedenklich für Pommern; denn da die Landgrenze im Oſten durch den
Verluſt von Warſchau ſich ſo ungünſtig geſtaltete, ſo war es für Preußen
unerläßlich, mindeſtens auf der Seeſeite ſich zu decken und die Herrſchaft
über die Odermündungen ganz in ſeine Hand zu bringen; Oſtfriesland
aber, ſo wichtig es war, bildete doch nur einen Außenpoſten mehr.
Noch ſchwerer wog in Hardenbergs Augen eine Erwägung der na-
tionalen Politik: der lange Kampf um die Befreiung Pommerns durfte
wahrlich nicht damit enden, daß die Dänen, wie ſchon am Kieler Buſen,
ſo auch am Strelaſunde ſich einniſteten. Dagegen hatte Hannover ſelbſt
während ſeiner Verbindung mit England immer als ein deutſches Land ge-
golten, und ſeine gänzliche Abtrennung von Großbritannien ſchien damals,
da Prinzeß Charlotte noch lebte, ſehr nahe, ſchon nach dem Tode des Prinz-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 664. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/680>, abgerufen am 22.11.2024.
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