Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.Lauenburg. Ostfriesland. regenten bevorzustehen; an Hannover abgetreten ging Ostfriesland demdeutschen Leben nicht verloren. Hardenberg hat keineswegs, wie ihm er- bitterte Patrioten vorwarfen, in frevelhaftem Leichtsinn das ostfriesische Land preisgegeben, sondern das Für und Wider der verwickelten Frage gewissenhaft abgewogen und dann mit seinem richtigen politischen Blicke das kleinere Uebel gewählt. Schon am 15. Februar ließ er in der Staats- kanzlei einen Artikel für die Berliner Zeitungen schreiben, um die Leser- welt auf die Abtretung Ostfrieslands vorzubereiten und zugleich anzu- deuten, dies schmerzliche Opfer sei das einzige Mittel zur Erwerbung des ungleich werthvolleren Vorpommerns. Der Aufsatz fand aber weder bei den Zeitgenossen noch bei späteren Historikern Beachtung. Im März endlich gab der König widerstrebend seine Zustimmung. Da erhob sich ein letztes unerwartetes Hinderniß. Nach der thörichten Familien-Ueber- lieferung der Welfen war Ostfriesland ein altes Erbe des Welfenhauses, nur durch Gewalt und List an Preußen gekommen. Der Prinzregent er- fuhr also mit lebhafter Entrüstung, daß er für den Heimfall dieses urwelfi- schen Landes auch noch Lauenburg herausgeben sollte. Er sträubte sich aufs Aeußerste; dieser Liebloseste aller Söhne verspürte plötzlich Anwand- lungen kindlichen Zartgefühls und versicherte, seine "Delicatesse" verbiete ihm, noch bei Lebzeiten seines geisteskranken Vaters eine Provinz abzu- treten. Münster mußte alle seine Beredsamkeit aufbieten; er stellte dem Erzürnten vor, daß Lauenburg für Preußens pommersche Absichten in der That unentbehrlich sei. Erhebe man Schwierigkeiten, so werde der ohne- hin erbitterte König von Preußen vielleicht den ganzen Handel rückgängig machen; und am Ende bleibe ja noch die erfreuliche Aussicht, daß Preußen bei dem neuen Kriege gegen Napoleon wieder des guten englischen Geldes bedürfen würde, dann könne man Lauenburg dem Bundesgenossen wieder abnehmen! Das wirkte; das zarte Gewissen des Welfen war beruhigt. So kam denn am 29. Mai der Tauschvertrag zwischen Preußen und Lauenburg. Oſtfriesland. regenten bevorzuſtehen; an Hannover abgetreten ging Oſtfriesland demdeutſchen Leben nicht verloren. Hardenberg hat keineswegs, wie ihm er- bitterte Patrioten vorwarfen, in frevelhaftem Leichtſinn das oſtfrieſiſche Land preisgegeben, ſondern das Für und Wider der verwickelten Frage gewiſſenhaft abgewogen und dann mit ſeinem richtigen politiſchen Blicke das kleinere Uebel gewählt. Schon am 15. Februar ließ er in der Staats- kanzlei einen Artikel für die Berliner Zeitungen ſchreiben, um die Leſer- welt auf die Abtretung Oſtfrieslands vorzubereiten und zugleich anzu- deuten, dies ſchmerzliche Opfer ſei das einzige Mittel zur Erwerbung des ungleich werthvolleren Vorpommerns. Der Aufſatz fand aber weder bei den Zeitgenoſſen noch bei ſpäteren Hiſtorikern Beachtung. Im März endlich gab der König widerſtrebend ſeine Zuſtimmung. Da erhob ſich ein letztes unerwartetes Hinderniß. Nach der thörichten Familien-Ueber- lieferung der Welfen war Oſtfriesland ein altes Erbe des Welfenhauſes, nur durch Gewalt und Liſt an Preußen gekommen. Der Prinzregent er- fuhr alſo mit lebhafter Entrüſtung, daß er für den Heimfall dieſes urwelfi- ſchen Landes auch noch Lauenburg herausgeben ſollte. Er ſträubte ſich aufs Aeußerſte; dieſer Liebloſeſte aller Söhne verſpürte plötzlich Anwand- lungen kindlichen Zartgefühls und verſicherte, ſeine „Delicateſſe“ verbiete ihm, noch bei Lebzeiten ſeines geiſteskranken Vaters eine Provinz abzu- treten. Münſter mußte alle ſeine Beredſamkeit aufbieten; er ſtellte dem Erzürnten vor, daß Lauenburg für Preußens pommerſche Abſichten in der That unentbehrlich ſei. Erhebe man Schwierigkeiten, ſo werde der ohne- hin erbitterte König von Preußen vielleicht den ganzen Handel rückgängig machen; und am Ende bleibe ja noch die erfreuliche Ausſicht, daß Preußen bei dem neuen Kriege gegen Napoleon wieder des guten engliſchen Geldes bedürfen würde, dann könne man Lauenburg dem Bundesgenoſſen wieder abnehmen! Das wirkte; das zarte Gewiſſen des Welfen war beruhigt. So kam denn am 29. Mai der Tauſchvertrag zwiſchen Preußen und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0681" n="665"/><fw place="top" type="header">Lauenburg. 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Lauenburg. Oſtfriesland.
regenten bevorzuſtehen; an Hannover abgetreten ging Oſtfriesland dem
deutſchen Leben nicht verloren. Hardenberg hat keineswegs, wie ihm er-
bitterte Patrioten vorwarfen, in frevelhaftem Leichtſinn das oſtfrieſiſche
Land preisgegeben, ſondern das Für und Wider der verwickelten Frage
gewiſſenhaft abgewogen und dann mit ſeinem richtigen politiſchen Blicke
das kleinere Uebel gewählt. Schon am 15. Februar ließ er in der Staats-
kanzlei einen Artikel für die Berliner Zeitungen ſchreiben, um die Leſer-
welt auf die Abtretung Oſtfrieslands vorzubereiten und zugleich anzu-
deuten, dies ſchmerzliche Opfer ſei das einzige Mittel zur Erwerbung des
ungleich werthvolleren Vorpommerns. Der Aufſatz fand aber weder bei
den Zeitgenoſſen noch bei ſpäteren Hiſtorikern Beachtung. Im März
endlich gab der König widerſtrebend ſeine Zuſtimmung. Da erhob ſich
ein letztes unerwartetes Hinderniß. Nach der thörichten Familien-Ueber-
lieferung der Welfen war Oſtfriesland ein altes Erbe des Welfenhauſes,
nur durch Gewalt und Liſt an Preußen gekommen. Der Prinzregent er-
fuhr alſo mit lebhafter Entrüſtung, daß er für den Heimfall dieſes urwelfi-
ſchen Landes auch noch Lauenburg herausgeben ſollte. Er ſträubte ſich
aufs Aeußerſte; dieſer Liebloſeſte aller Söhne verſpürte plötzlich Anwand-
lungen kindlichen Zartgefühls und verſicherte, ſeine „Delicateſſe“ verbiete
ihm, noch bei Lebzeiten ſeines geiſteskranken Vaters eine Provinz abzu-
treten. Münſter mußte alle ſeine Beredſamkeit aufbieten; er ſtellte dem
Erzürnten vor, daß Lauenburg für Preußens pommerſche Abſichten in der
That unentbehrlich ſei. Erhebe man Schwierigkeiten, ſo werde der ohne-
hin erbitterte König von Preußen vielleicht den ganzen Handel rückgängig
machen; und am Ende bleibe ja noch die erfreuliche Ausſicht, daß Preußen
bei dem neuen Kriege gegen Napoleon wieder des guten engliſchen Geldes
bedürfen würde, dann könne man Lauenburg dem Bundesgenoſſen wieder
abnehmen! Das wirkte; das zarte Gewiſſen des Welfen war beruhigt.
So kam denn am 29. Mai der Tauſchvertrag zwiſchen Preußen und
Hannover zu Stande: Lauenburg für Hildesheim, Goslar, Oſtfriesland
und ein Stück der Grafſchaft Lingen; dazu zwei preußiſche Militärſtraßen
durch Hannover als Erſatz für den gewünſchten „Iſthmus“. Die alten Reichen-
bacher Forderungen der Welfen waren alſo doch, in Folge der ſächſiſchen
Händel, um etwa 50,000 Seelen herabgemindert worden. Am 4. Juni ſo-
dann trat Dänemark ſeine Rechte auf Schwediſch-Pommern an Preußen
ab und erhielt dafür Lauenburg nebſt 2 Mill. Thaler; der Staatshaus-
halt war aber dermaßen erſchöpft, daß man ſich ausbedingen mußte dieſe
geringe Summe erſt vom Neujahr 1816 ab in vier halbjährigen Raten
zu zahlen! Endlich am 7. Juni gab Schweden, gegen 3½ Mill. Thaler,
ſeine letzten Anſprüche auf deutſchen Boden auf und erſtattete zugleich
die während der letzten Jahre veräußerten vorpommerſchen Domänen dem
neuen Landesherrn zurück. Preußen bewilligte mithin Oſtfriesland und
über 5 Mill. Thaler für ein Land, das damals, freilich unter einer
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