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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
des albertinischen Königthums für unsere nationale Politik bedeutete.
Darüber war kein Streit, daß man jetzt nur über die Grundzüge der
künftigen Bundesverfassung berieth. Die Bundesacte sagte ausdrücklich,
das erste Geschäft des Frankfurter Bundestages werde "die Abfassung
der Grundgesetze des Bundes und dessen organische Einrichtung" sein.
So blieb doch noch die schwache Hoffnung, daß sich in Frankfurt nach
Napoleons Niederwerfung vielleicht eine verständige Mehrheit bilden und
einige der Wiener Sünden sühnen konnte. Da beantragte Sachsen das
liberum veto, die Einstimmigkeit für alle Beschlüsse des Plenums der
Bundesversammlung. Ein letzter Rest von Schamgefühl hinderte die
Conferenz zwar, diesen Antrag in seiner nackten Frechheit anzunehmen.
Aber die Mehrheit beschloß Tags darauf, was der Sache nach auf das-
selbe hinauslief: daß alle Beschlüsse über die Grundgesetze, über organische
Bundeseinrichtungen, über jura singulorum und Religionsangelegenheiten
nur mit Stimmeneinhelligkeit gefaßt werden dürften. Damit wurde ein
neuer polnischer Reichstag begründet, der gesetzlichen Fortbildung des
deutschen Gesammtstaates für immer ein Riegel vorgeschoben, die Partei
der Reform in die Bahnen der Revolution hinübergedrängt. Dies
war das erste Lebenszeichen des wieder aufgerichteten sächsischen König-
reichs. Die Grundgesetze einer Bundesverfassung, die noch gar nicht be-
stand, deren Grundzüge man erst feststellte, an einstimmige Beschlüsse
binden -- das hieß nichts anderes als von vornherein erklären: dem
neuen Deutschland ist nur durch das Schwert zu helfen. Und was war
denn mit der Phrase "organische Bundeseinrichtungen" gemeint? Auch
darüber ward man nicht einig und vermied jede Auslegung.

Durch diesen Beschluß war das Wenige verdorben was sich noch
verderben ließ. In Allem und Jedem hatte der Particularismus und
die Willkür der kleinen Kronen die Oberhand behalten. Natürlich be-
haupteten sie ihre eigene Diplomatie und das Recht der Bündnisse; nur
gegen den Bund und seine Mitglieder durften sie sich mit Auswärtigen nicht
verbinden. Dadurch war nicht unbedingt ausgeschlossen, daß Deutsche
gegen Deutsche, als Hilfstruppen fremder Mächte, zu Felde zogen. Und
diese Gefahr lag noch immer sehr nahe. Fing doch der alte schmutzige
Soldatenhandel wieder an: noch während des Congresses wurde ein
nassauisches Regiment an Holland verkauft oder, wie man sich amtlich
ausdrückte, verliehen. "Bei einmal erklärtem Bundeskriege" sollte kein
Bundesstaat einseitige Unterhandlungen mit dem Feinde eingehen. Was
aber ein Bundeskrieg sei? und ob der Bund bei einem Angriffe auf die
ausländischen Besitzungen seiner Mitglieder zum Einschreiten verpflichtet
sei -- über diese Lebensfragen konnte man sich nicht einigen. Gewiß
war nur, daß der Bund, armseliger als ein Staat dritten Ranges, selber
keine Angriffskriege führen durfte, denn die Bundesacte sprach nur vom
Schutze gegen Angreifer. Nachdem die Rechte der Landstände mit einer

II. 1. Der Wiener Congreß.
des albertiniſchen Königthums für unſere nationale Politik bedeutete.
Darüber war kein Streit, daß man jetzt nur über die Grundzüge der
künftigen Bundesverfaſſung berieth. Die Bundesacte ſagte ausdrücklich,
das erſte Geſchäft des Frankfurter Bundestages werde „die Abfaſſung
der Grundgeſetze des Bundes und deſſen organiſche Einrichtung“ ſein.
So blieb doch noch die ſchwache Hoffnung, daß ſich in Frankfurt nach
Napoleons Niederwerfung vielleicht eine verſtändige Mehrheit bilden und
einige der Wiener Sünden ſühnen konnte. Da beantragte Sachſen das
liberum veto, die Einſtimmigkeit für alle Beſchlüſſe des Plenums der
Bundesverſammlung. Ein letzter Reſt von Schamgefühl hinderte die
Conferenz zwar, dieſen Antrag in ſeiner nackten Frechheit anzunehmen.
Aber die Mehrheit beſchloß Tags darauf, was der Sache nach auf daſ-
ſelbe hinauslief: daß alle Beſchlüſſe über die Grundgeſetze, über organiſche
Bundeseinrichtungen, über jura singulorum und Religionsangelegenheiten
nur mit Stimmeneinhelligkeit gefaßt werden dürften. Damit wurde ein
neuer polniſcher Reichstag begründet, der geſetzlichen Fortbildung des
deutſchen Geſammtſtaates für immer ein Riegel vorgeſchoben, die Partei
der Reform in die Bahnen der Revolution hinübergedrängt. Dies
war das erſte Lebenszeichen des wieder aufgerichteten ſächſiſchen König-
reichs. Die Grundgeſetze einer Bundesverfaſſung, die noch gar nicht be-
ſtand, deren Grundzüge man erſt feſtſtellte, an einſtimmige Beſchlüſſe
binden — das hieß nichts anderes als von vornherein erklären: dem
neuen Deutſchland iſt nur durch das Schwert zu helfen. Und was war
denn mit der Phraſe „organiſche Bundeseinrichtungen“ gemeint? Auch
darüber ward man nicht einig und vermied jede Auslegung.

Durch dieſen Beſchluß war das Wenige verdorben was ſich noch
verderben ließ. In Allem und Jedem hatte der Particularismus und
die Willkür der kleinen Kronen die Oberhand behalten. Natürlich be-
haupteten ſie ihre eigene Diplomatie und das Recht der Bündniſſe; nur
gegen den Bund und ſeine Mitglieder durften ſie ſich mit Auswärtigen nicht
verbinden. Dadurch war nicht unbedingt ausgeſchloſſen, daß Deutſche
gegen Deutſche, als Hilfstruppen fremder Mächte, zu Felde zogen. Und
dieſe Gefahr lag noch immer ſehr nahe. Fing doch der alte ſchmutzige
Soldatenhandel wieder an: noch während des Congreſſes wurde ein
naſſauiſches Regiment an Holland verkauft oder, wie man ſich amtlich
ausdrückte, verliehen. „Bei einmal erklärtem Bundeskriege“ ſollte kein
Bundesſtaat einſeitige Unterhandlungen mit dem Feinde eingehen. Was
aber ein Bundeskrieg ſei? und ob der Bund bei einem Angriffe auf die
ausländiſchen Beſitzungen ſeiner Mitglieder zum Einſchreiten verpflichtet
ſei — über dieſe Lebensfragen konnte man ſich nicht einigen. Gewiß
war nur, daß der Bund, armſeliger als ein Staat dritten Ranges, ſelber
keine Angriffskriege führen durfte, denn die Bundesacte ſprach nur vom
Schutze gegen Angreifer. Nachdem die Rechte der Landſtände mit einer

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[700/0716] II. 1. Der Wiener Congreß. des albertiniſchen Königthums für unſere nationale Politik bedeutete. Darüber war kein Streit, daß man jetzt nur über die Grundzüge der künftigen Bundesverfaſſung berieth. Die Bundesacte ſagte ausdrücklich, das erſte Geſchäft des Frankfurter Bundestages werde „die Abfaſſung der Grundgeſetze des Bundes und deſſen organiſche Einrichtung“ ſein. So blieb doch noch die ſchwache Hoffnung, daß ſich in Frankfurt nach Napoleons Niederwerfung vielleicht eine verſtändige Mehrheit bilden und einige der Wiener Sünden ſühnen konnte. Da beantragte Sachſen das liberum veto, die Einſtimmigkeit für alle Beſchlüſſe des Plenums der Bundesverſammlung. Ein letzter Reſt von Schamgefühl hinderte die Conferenz zwar, dieſen Antrag in ſeiner nackten Frechheit anzunehmen. Aber die Mehrheit beſchloß Tags darauf, was der Sache nach auf daſ- ſelbe hinauslief: daß alle Beſchlüſſe über die Grundgeſetze, über organiſche Bundeseinrichtungen, über jura singulorum und Religionsangelegenheiten nur mit Stimmeneinhelligkeit gefaßt werden dürften. Damit wurde ein neuer polniſcher Reichstag begründet, der geſetzlichen Fortbildung des deutſchen Geſammtſtaates für immer ein Riegel vorgeſchoben, die Partei der Reform in die Bahnen der Revolution hinübergedrängt. Dies war das erſte Lebenszeichen des wieder aufgerichteten ſächſiſchen König- reichs. Die Grundgeſetze einer Bundesverfaſſung, die noch gar nicht be- ſtand, deren Grundzüge man erſt feſtſtellte, an einſtimmige Beſchlüſſe binden — das hieß nichts anderes als von vornherein erklären: dem neuen Deutſchland iſt nur durch das Schwert zu helfen. Und was war denn mit der Phraſe „organiſche Bundeseinrichtungen“ gemeint? Auch darüber ward man nicht einig und vermied jede Auslegung. Durch dieſen Beſchluß war das Wenige verdorben was ſich noch verderben ließ. In Allem und Jedem hatte der Particularismus und die Willkür der kleinen Kronen die Oberhand behalten. Natürlich be- haupteten ſie ihre eigene Diplomatie und das Recht der Bündniſſe; nur gegen den Bund und ſeine Mitglieder durften ſie ſich mit Auswärtigen nicht verbinden. Dadurch war nicht unbedingt ausgeſchloſſen, daß Deutſche gegen Deutſche, als Hilfstruppen fremder Mächte, zu Felde zogen. Und dieſe Gefahr lag noch immer ſehr nahe. Fing doch der alte ſchmutzige Soldatenhandel wieder an: noch während des Congreſſes wurde ein naſſauiſches Regiment an Holland verkauft oder, wie man ſich amtlich ausdrückte, verliehen. „Bei einmal erklärtem Bundeskriege“ ſollte kein Bundesſtaat einſeitige Unterhandlungen mit dem Feinde eingehen. Was aber ein Bundeskrieg ſei? und ob der Bund bei einem Angriffe auf die ausländiſchen Beſitzungen ſeiner Mitglieder zum Einſchreiten verpflichtet ſei — über dieſe Lebensfragen konnte man ſich nicht einigen. Gewiß war nur, daß der Bund, armſeliger als ein Staat dritten Ranges, ſelber keine Angriffskriege führen durfte, denn die Bundesacte ſprach nur vom Schutze gegen Angreifer. Nachdem die Rechte der Landſtände mit einer

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 700. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/716>, abgerufen am 22.11.2024.